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Siebenmal vertagt

Die Prozesse gegen Frauen in Istanbul

| Vom Freiburger Frauensolidaritätskomitee Sabine Graf und Fatma Sinaci

An der Realität sexueller Gewalt hat sich kaum etwas verändert. Auf der ganzen Welt wird sie als eine Unterdrückungsmethode gegen Frauen, Lesben und Mädchen eingesetzt: in sogenannten privaten Bereichen, wie in Ehen, Beziehungen und Familien und in gesellschaftlichen Bereichen. In Kriegen wird sie gezielt als wichtige Kriegswaffe eingesetzt. In vielen Ländern sind sexuelle Gewalt und Folter systematische und politisch motivierte Mittel in der "Terrorismusbekämpfung". Eines dieser Länder ist die Türkei.

Hintergründe

Beinahe jede Frau, die in der Türkei festgenommen wird, wird sexuell angegriffen und misshandelt. Die Realität ist die, dass sexuelle Gewalt und Folter auf Polizeipräsidien, auf den Wachen der Gendarmerie von staatlichen Tätern, sowohl in türkischen Gebieten, aber auch besonders in den kurdischen Gebieten speziell gegen kurdische Frauen ausgeübt wurde und wird: als systematisches Repressionsmittel beispielsweise bei Militäraktionen in den Dörfern, bei Hausdurchsuchungen oder aktuell auch bei Versuchen von Dorfrückkehr.

Die Systematik der sexuellen Gewalt zielt darauf ab, Frauen in ihrer Würde, ihrer Persönlichkeit und in ihrem sozialen Status zu treffen.

Seit ca. sechs Jahren haben Frauen angefangen, das Schweigen darüber zu brechen. Sie benennen die Täter und bringen diese Verbrechen zur Sprache, machen sie öffentlich.

Trotz des Risikos der gesellschaftlichen Ausgrenzung und der drohenden staatlichen Repression das Schweigen zu brechen und das Erlebte öffentlich anzuklagen, erfordert immensen Mut.

Es ist bekannt, dass auch viele Männer in den Gefängnissen sexueller Gewalt ausgesetzt sind, es gibt jedoch bislang keine Organisierung von ihnen.

Das Projekt „Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften vergewaltigt oder auf andere Weise misshandelt wurden“

1997 haben vier Anwältinnen, die bereits in der Menschenrechtsarbeit tätig waren, das Projekt „Rechtliche Hilfe für Frauen, die von staatlichen Sicherheitskräften misshandelt wurden“ in Istanbul gegründet. Die Anwältinnen des Projekts arbeiten mit den betroffenen Frauen zusammen und vertreten sie kostenlos vor Gericht. Wenn Klägerinnen es wollen, bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Ende letzten Jahres vertraten die Anwältinnen des Büros 158 Klägerinnen. Die Zahl der Frauen, die sich überhaupt an das Büro wenden, ist weit höher.

Das tatsächliche Ausmaß der Anzahl der staatlichen Übergriffe findet keine Worte. Die Dunkelziffer ist mit Sicherheit erschreckend hoch.

Viele Frauen sprechen erst nach ihrer Flucht von der erlebten sexuellen Gewalt. Viele der Frauen sind im Exil im Asylverfahren und müssen um die Anerkennung als politisch Verfolgte kämpfen. Auch hier in Deutschland. Hier besteht bekanntlich nach geltendem Recht nur dann Anspruch auf einen Flüchtlingsstatus, wenn die Geflohenen Opfer staatlicher oder staatlich geduldeter Verfolgung sind.

Diesen Nachweis über erlebte sexuelle Gewalt und Folter bescheinigt zu bekommen ist extrem schwierig: TherapeutInnen zu finden, einen Termin zu bekommen, die GutachterInnen müssen MedizinerInnen sein, die Gutachten müssen nach den Kriterien des Bundesamtes ausgestellt werden. Es gibt Fristen.

In der Türkei die staatlichen Täter zu belangen, bedeutet oft Repression für die Herkunftsfamilien dort. Außerdem kann staatliche Verfolgung kaum nachgewiesen werden: Unabhängige Gutachten werden nicht anerkannt, die Gutachten des staatlichen Gerichtsmedizinischen Instituts sind in staatlichem Interesse. Vor Gericht müsste anerkannt werden, dass die verübte sexuelle Gewalt und Folter nicht von Einzeltätern, sondern von Tätern in ihrer staatlichen Funktion ausgeübt wurde. Die Richter und die türkischen Gerichte werden sich aber schwerlich gegen den türkischen Staat selbst oder gar gegen das Militär stellen.

Aus diesem Grund haben Frauen aus Berlin in Zusammenarbeit mit dem Istanbuler Rechtshilfeprojekt, das Berliner „FrauenRechtsBüro“ vor zwei Jahren gegründet. Dorthin können sich von sexueller Gewalt betroffene Frauen wenden, die hierher nach Mitteleuropa flüchten mussten und zusätzlich um einen Flüchtlingsstatus kämpfen müssen. Mit dem Istanbuler Projekt findet eine enge Zusammenarbeit statt. Es übernimmt dabei die juristische Vertretung und Anzeigenerstattung stellvertretend für die Frauen, die hier leben.

Der Kongress im Sommer 2000

Zu dem Thema sexuelle Gewalt und Folter durch sog. staatliche Sicherheitskräfte haben im Sommer 2000 verschiedene Frauen und Frauenorganisationen in Istanbul einen großen Kongress organisiert und durchgeführt über große inhaltliche Unterschiede hinweg.

So legen z.B. einige der Frauenprojekte, wie das Rechtshilfeprojekt oder die feministische Zeitung „Pazartesi“, großen Wert auf eine politische Autonomie als Frauenorganisationen, u.a. aus einer Kritik an bestehenden linken Parteien heraus. Dort, sagen sie, wird die Frauenarbeit oft als korrekte Ergänzung des Gesamtbildes betrachtet und es gibt stets die Gefahr der Vereinnahmung.

Andere Frauenorganisationen sind Teilorganisationen von sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien. So gab es auch innerhalb der Frauenorganisationen in Istanbul Kritik, dass das Thema sexuelle Gewalt und Folter zeitweise von sozialistischen gemischten Gruppen in Form einer Öffentlichkeitskampagne gehandelt wurde, statt konkreter Unterstützungsarbeit.

Unterschiede bestehen auch immer wieder im Kontext zur sog. Kurdischen Frage. Es gibt Frauengruppen, wie die Cumartsi Anneleri, die Friedensmütter, oder Dicle, der kurdische Frauenverband, die aus kurdischem Hintergrund kommen sich als Kurdinnen verstehen und sich politisch für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage einsetzen und für die Möglichkeit als Frauen kurdische Sprache, Kultur und Bildung weiterentwickeln und weitergeben zu können. Viele von ihnen sind im Krieg und im Zusammenhang mit ihren Tätigkeiten und Aktionen verhaftet und sexuell angegriffen worden.

Andere Frauenorganisationen wiederum sehen in der Rolle als Arbeiterin und Frau das hauptsächliche gesellschaftliche Unterdrückungsmoment.

Über diese, hier nur knapp angerissenen Unterschiede hinweg, hielten also die Frauen und -organisationen im Sommer 2000 einen großen Kongress zum Thema staatlicher sexueller Gewalt in Polizeihaft ab. Der türkische Staat reagierte auf diesen Kongress, der legal beantragt und genehmigt worden war, prompt und mit heftiger Repression.

Aber nicht die Täter und Vergewaltiger wurden belangt, sondern die Frauen, die die Taten öffentlich gemacht haben.

Repressionswelle gegen Frauen und ihre Organisationen, die das Thema sexueller Gewalt und Folter öffentlich gemacht haben

Die gesamte Organisationsgruppe, die Rednerinnen, ein Vater einer betroffenen jungen Frau, der dort sprach, insgesamt also 18 Frauen und ein Mann wurden angeklagt wegen „Verunglimpfung des Staates und seiner Sicherheitskräfte“ (vgl. GWR 273). Dabei wurden fünf der Frauen aus demselben Anlass doppelt angeklagt. Sie werden vor zwei Gerichten gleichzeitig belangt, weil sie an dem Kongress teilgenommen und zusätzlich die Worte „kurdisch“ oder „Kurdin“ benutzt haben. Das brachte ihnen einen zweiten Prozess vor dem Staatssicherheitsgericht, einer Art Militärgericht, ein. Sie bekamen den sogenannten Separatismusvorwurf, der unter die „Antiterrorgesetze“ fällt.

Die Frauen und Frauengruppen werden mit Prozessen überhäuft und auch beschäftigt. Bekannter weise binden Prozesse immer viel Kraft und Energie.

Besonderer Repression sind in diesem Zusammenhang die Frauen des Rechtshilfebüros und deren Anwältinnen ausgesetzt.

Wenn die Anwältinnen ausgeschaltet werden können, trifft das das gesamte Projekt im Kern. Nach türkischem Recht kann nämlich eine Anwältin soviel Mandantinnen vertreten, wie sie will, auch während ein und desselben Prozesses. Die Anwältinnen des Projektes vertreten jeweils sehr viele Mandantinnen und sie – aber auch alle anderen Mitarbeiterinnen – arbeiten unglaublich viel. Fällt eine aus, hat das ein großes Gewicht. Deshalb zielen viele staatliche Repressionen auch speziell auf die Anwältinnen ab.

Im Oktober 2002 zählte die Anwältin Eren Keskin, die sowohl Mitgründerin des Rechtshilfebüros ist, als auch im Menschenrechtsverein (IHD) in Istanbul arbeitet, dass zu diesem Zeitpunkt gegen sie zehn Strafprozesse mit jeweils einer Strafandrohung von ca. einem Jahr acht Monate liefen. Außerdem gab es 105 Verfahren gegen sie im Zusammenhang mit dem IHD und gegen sie persönlich nochmals 15 weitere. Die meisten Verfahren gegen sie sind wegen der Benennung der besonderen Unterdrückung und Gewalt gegen Kurdinnen eröffnet worden.

Inzwischen hat Frau Keskin seit November 2002 ein einjähriges Berufsverbot verhängt bekommen. Nach ihren Angaben wurde dieses Arbeitsverbot vom damaligen türkischen Justizminister initiiert. Die Istanbuler Anwaltskammer hatte dagegen Einspruch erhoben. Die nationale Anwaltskammer hat sich aber dafür ausgesprochen. Das Urteil ist in Kraft.

Die Befürchtung ist, dass es verlängert wird.

Auch gegen zwei weitere Mitarbeiterinnen des Rechtshilfebüros, die Anwältin Fatma Karakas und Frau Leman Yurtsever laufen mehrere Verfahren z.B. gegen letztere acht im Zusammenhang mit Frauenaktionen der Istanbuler Frauenplattform. Frau Karakas ist eine der doppelt Angeklagten aus Anlass des Kongresses im Sommer 2000.

Der Prozess gegen die 18 Frauen und einen Vater wegen dieses Kongresses zum Thema systematische sexuelle Gewalt und Folter ist einer, der größte, von vielen Prozessen. Das organisierte Öffentlichmachen über systematische sexuelle Gewalt und Folter ausgeübt von Vertretern des türkischen Staates, greift den Staat direkt an. Und zwar deshalb, weil die Frauen nachweisen, dass das keine Einzeltäter sind, von denen sich staatliche Organisationen eventuell distanzieren könnten, sondern, dass das gesamte Ausmaß der verübten Gewalt ein System hat und Teil der militaristischen Organisation von „Sicherheitskräften“, „Gendarmerie“, „Dorfschützersystem“ bis Militär ist, Teil patriarchalischer Kriegs- und Unterdrückungsstruktur.

Stand der Dinge im Prozess zum Kongress

Der Prozess gegen die 18 Frauen und einen Vater dauert mittlerweile seit März 2001, er wurde 7 Mal vertagt und seine Fortsetzung wird am 5. Juni 2003 um 14 Uhr sein.

Ein Ende ist noch nicht absehbar. Immer noch sollen Dinge geprüft werden. Zum Beispiel geht es um eine Polizeivideoaufnahme von dem Kongress, die dokumentieren könnte, wer und ob das Wort „kurdisch“ überhaupt gesagt wurde. Verhandlungstermin um Verhandlungstermin stellte sich heraus, dass das Band nicht da war.

Schließlich beantragte der Staatsanwalt, ohne Band anzufangen, was die Anwältinnen ablehnten. Weiter geht es um den Aufenthalt einer der angeklagten Frauen zum Zeitpunkt des Kongresses. Sie musste zu der Zeit in einem staatlichen Gefängnis sitzen (wegen eines anderen konstruierten Vorwurfs), wird aber trotzdem angeklagt, an dem Kongress teilgenommen zu haben. Erst beim dritten Verhandlungstermin bestätigte das Gericht ihren Aufenthalt -teilweise. Weiter blieb die Frage offen, ob es rechtmäßig ist, wegen desselben Anlasses zweifach angeklagt zu werden. Im Oktober 2002 lagen erst die Prozessakten zur Klärung dieser Frage vor.

Nach der Gesetzesreform in der Türkei vom letzten Jahr, müssten eigentlich die Prozesse mit dem „Separatismusvorwurf“, also wegen Benennung von Kurdistan, kurdisch, etc. eingestellt werden. Anwältinnen weisen allerdings immer wieder darauf hin, dass die Türkei kein Rechtsstaat sei und Gesetzestext und juristischer Alltag sehr unterschiedliche Dinge seien.

Der Prozess wird verschleppt.

Was hat sich verändert?

Auf die Frage, was sich seit März 2001, dem Beginn des Prozesses, verändert hat, antworteten Frauen aus verschiedenen Organisationen unabhängig voneinander: viel. Zwei große gesellschaftliche Tabus hätten gebrochen werden können.

Das eine ist das Tabu um Militarismus und die Leugnung kurdischer Lebensweise und Kultur.

Das Tabu sexueller Gewalt aufzubrechen haben die Frauen in den letzten zwei Jahren geschafft. Sowohl das Tabu sexueller Gewalt und Folter, als auch das Tabu häuslicher Gewalt.

In Gesprächen mit den Frauengruppen in Istanbul wurde immer wieder betont, dass über dieses Thema und das Thema häuslicher Gewalt inzwischen viel gesprochen wird. Es gibt inzwischen Beratung- bzw. Gesprächsgruppen für Frauen, z.B. vom Menschenrechtsverein IHD. Es gibt Untersuchungen und Statistiken dazu, sogar von einem „staatlichen Institut für Frauenforschung“.

Das Ausmaß sexueller Gewalt, das sichtbar wird, ist weit größer, als die Frauen aus den Frauenorganisationen befürchtet hatten. Aber, so sagen sie, das Tabu sei gebrochen und das sei ein wesentlicher Schritt. Vereinzelt hätte es auch schon Verurteilungen von Tätern gegeben.

Seit Beendigung des Krieges in Kurdistan sei die Gewalt insgesamt zurückgegangen, war die Einschätzung einer autonomen Feministin und, dass sich über die verstärkte Zusammenarbeit nicht nur im Zusammenhang mit den Prozessen, feministische Positionen durchgesetzt hätten, auch wenn sie nicht als solche benannt würden.

Wie kann eine weitere solidarische Unterstützung bei den Prozessterminen bis deren Ende sinnvollerweise aussehen?

Die Frauen und Frauengruppen aus Istanbul wünschen sich Solidarität von den Frauen aus Mitteleuropa. Zum Beispiel in Form von öffentlicher Präsenz von Frauen als Prozessbeobachterinnen. So organisierten verschiedene Frauengruppen, wie das Berliner FrauenRechtsBüro das Freiburger Frauensolidaritätskomitee und noch eine Reihe anderer Gruppen zu den ersten sechs Terminen Frauendelegationen zur Prozessbeobachtung.

Bei diesen Delegationsaufenthalten gab es auch die Möglichkeit zum Austausch und zu Gesprächen mit verschiedenen Frauengruppen und -organisationen. Es wurde möglich, Eindrücke und ansatzweise Einblicke in die Arbeit der Frauen zu bekommen, die in Istanbul gegen sexuelle Gewalt und Folter kämpfen.

In einer Diskussion mit den Frauen des Rechtshilfebüros über eine weitere sinnvolle Unterstützung, gab es folgende Ergebnisse: Eine weitere Öffentlichkeitsarbeit zu den Prozessen ist nach wie vor dringend notwendig.

Eine öffentliche Präsenz durch Delegationen zur Prozessbeobachtung ist am wichtigsten bei den letzten beiden Verhandlungsterminen: bei der Urteilsverkündung selbst und dem Termin davor, um öffentliches Interesse zu demonstrieren. Den Zeitpunkt, wann es so weit wäre, könnten sie einschätzen, meinten die Anwältinnen.

Bei den Terminen in der Zwischenzeit ginge es hauptsächlich um Aktenabgleiche. Über den langen Zeitraum kosteten die Flüge auch einfach sehr viel Geld und das werde auch bei den Prozessen selbst dringend gebraucht.

Was zusätzlich hier immer wieder zu tun bleibt, ist, für ein Bleiberecht einzustehen und für die Anerkennung jeder Art frauenspezifischer Fluchtgründe; sich einzusetzen gegen Unterdrückung und Gewalt jeglicher Art und für ein befreites Leben!

Kontakt

Freiburg: frauenlesbenzentrum@web.de

Berlin: info@womensrightsproject.de

Spendenkonto

M.Mayer
Sparda Bank B.-W.
KtNr. 0001978880

Stichwort: "Delegation" für die Prozessbeobachtung oder "Prozesse" wenn Ihr/Sie die Frauen in Istanbul selbst unterstützen wollt.

Quellen

Gesprächsnotizen bei Delegationsaufenthalten

Halbjahresbericht 2002 des Rechtshilfeprojektes in Istanbul