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Im Hinterhof der „Staatenmacher“

Die Lage in Afghanistan nach dem "Krieg gegen den Terror"

| Joseph Steinbeiß

Afghanistan ist für westliche Medien kein Thema mehr. Wie von Zauberhand ist das Land am Hindukusch von der publizistischen Landkarte geschwunden. Geblieben sind Erinnerungen an Bilder jubelnder Menschen und neueröffneter Kinos - Bilder eines gewonnenen Krieges.

Das praktische Nichtvorhandensein jeder kritischen Berichterstattung scheint vormals interessierten Menschen ihr Recht zu verbriefen, sich anderen Dingen – und anderen Kriegen – zuzuwenden.

„Der Krieg in Afghanistan hat, so scheint es, noch einmal umgeschwenkt, von einem neuen, adressatenlosen Krieg in einen alten, Staaten und Ordnung generierenden Krieg. Beinahe sind wir schon zufrieden, daß der Krieg mehr oder weniger zu Ende, die Herrschaft der Taliban bezwungen, ein neuer, beinahe moderner Staat [im Entstehen ist]. Für den Augenblick jedenfalls glauben die meisten Menschen vor den westlichen Fernsehapparaten dieser Fiktion“. (1) Dabei sollte man annehmen, daß zu einer Zeit, in der der Aberwitz kriegerischer Menschheitsbeglückung, „demokratischer Staatenmacherei“ durch Bomben und Kanonen, mit einem mal wieder als zumindest diskussionswürdige Möglichkeit in Betracht genommen wird, ein gewisses Interesse an jenen Ländern bestehen müsste, die ihre blutige Kur in Sachen „Befreiung“ schon hinter sich haben. Besonders in Deutschland profiliert man sich – mit Blick auf Afghanistan – gerne als bessere Alternative zur „Schlag-drauf-Mentalität“ der US-amerikanischen Außenpolitik und macht verlorene Stimmen im eigenen Lande gut. Der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Winfried Nachtwei, lobt die „historisch unbelastete“ Friedensarbeit des deutschen ISAF-Kontingents in Kabul und schwärmt von „Marktständen, kleinen Werkstätten, ja sogar Fahrradparkplätzen“ (2), die er bei seinem Besuch in der Hauptstadt habe bewundern können. Sein Kollege Friedbert Pflüger (CDU) faßte das neuerwachte militärische Sendungsbewußtsein Europas bereits 1999 zusammen: „Überall, wo die Europäische Union ist, herrscht Frieden“. (3)

Die Rückkehr der Warlords

Tatsächlich kann von Frieden in Afghanistan keine Rede sein.

Die soziale Situation hat sich seit dem Sturz des Taliban-Regimes kaum verbessert, in bestimmten Regionen des Landes ist sie schlimmer denn je.

Willkür, Bluttaten, Folter, Mord und Vertreibungen sind an der Tagesordnung. Die Lage der Frauen (vor allem in den Nord- und Westprovinzen, aber auch unter den Augen von Nachtweis „historisch unbelasteten“ Wunderheilern der ISAF in Kabul) spottet jeder Beschreibung. Das Ende der sunnitisch – fundamentalistischen Schreckensherrschaft der Taliban hat eben jene Kaziken wieder an die Macht gebracht, die schon während des Bürgerkrieges (nach dem Abzug der sowjetischen Truppen) Anfang der neunziger Jahre das Land ein weiteres Mal in Blut tauchten und in einen Flickenteppich unterschiedlicher, konkurrierender Machtsphären verwandelten. „Was hat sich in Afghanistan geändert? Alle unsere Hoffnungen sind zerbrochen. Wir sind gänzlich enttäuscht. Sehen Sie – es sind genau dieselben Warlords an der Macht wie zuvor. Der Fundamentalismus ist an die Macht gekommen, und jeden Tag wird er stärker“. (4)

Über die Hälfte des afghanischen Territoriums wird von ehemaligen Kommandierenden der Nordallianz beherrscht, die sich, jeder für sich, ihre eigenen kleinen, quasi-absolutistischen Fürstentümer geschaffen haben, in denen sie schalten und walten, wie es ihnen beliebt. Der Mord an dem Warlord Hadschi Qadir im Juli 2002 war nur ein weiteres Beispiel dafür, wie man in diesen Kreisen mit lästigen Widersachern umgeht. „In den meisten Teilen des Landes wurden Sicherheit und Verwaltung in die Hände regionaler Befehlshaber […] gelegt. Viele von ihnen sind für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, die denen der schlimmsten Taliban – Kommandeure gleichkommen“. (5) Um ihren Krieg gegen konkurrierende Befehlshaber voranzutreiben und ihr Herrschaftsgebiet zu vergrößern, bedienen sich die verfeindeten Warlords der gleichen Einnahmequelle, die schon den Säckel der Taliban füllte: Opium. War nach Angaben des United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) die jährliche Produktionsmenge afghanischen Roh-Opiums nach dem Sturz der Taliban von über 4000 Tonnen jährlich auf 185 Tonnen gefallen, so stieg sie im Jahre 2002 wieder auf 3400 Tonnen im Jahr – Tendenz steigend! (6)

Der „Khan von Herat“

Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch dokumentiert beispielhaft die Herrschaft des Warlords Ismail Khan in der westafghanischen Provinz Herat:

„Ismail Khan hat […] einen regelrechten Mini-Staat begründet […]. In Herat herrschen größtenteils noch genau dieselben Zustände wie unter den Taliban: eine geschlossene Gesellschaft, in der es keinen Widerspruch, keine Kritik an der Regierung, keine unabhängigen Zeitungen, keine öffentliche Versammlungsfreiheit […] gibt“. (7) Als treuer Verbündeter im „Krieg gegen den Terror“ genießt Ismail Khan die Protektion und das Wohlwollen des US- amerikanischen Militärs. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nannte ihn bei einem Besuch in Herat am 29. April 2002 eine „gewinnende Persönlichkeit…[…] nachdenklich, bedacht und selbstbewußt“. (8) Die Menschen von Herat sehen ihren „Khan“ ein bißchen anders: „Ismail Khan und seine Gefolgsleute – ihre Hände sind voll Blut. Für sie macht es keinen Unterschied, ob sie einen Vogel töten oder einen Menschen“. (9) Wer schlecht vom „großen Khan“ spricht, hat in Herat nichts zu lachen: „In mehreren Fällen […] folterten oder schlugen Agenten der Amniat (Geheimdienst) Gefangene als Bestrafung dafür, daß sie Ismail Khans Herrschaft in Frage gestellt hatten – oft hatten sie zuvor ausdrückliche Drohungen von Ismail Khan erhalten“. (10)

Ismail Khan betreibt in großem Stil die Vertreibung der paschtunischen Minderheit seiner Provinz. Da sich die Taliban zum größten Teil aus der paschtunischen Bevölkerungsgruppe rekrutierten, scheint Ismail Khan angesichts dieser „ethnischen Säuberungen“ von Seiten US-amerikanischer und europäischer Kommandeure keinen ernsthaften Widerspruch befürchten zu müssen. „Mitarbeiter der UNO und von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) schätzen, daß in den letzten neun Monaten Zehntausende von Paschtunen aus Westafghanistan nach Kandahar, in den Iran und nach Pakistan flohen, um der Verfolgung zu entgehen, obgleich andere Flüchtlinge zurückkehrten“. (11) Die blutige und brutale Abrechnung untereinander verfeindeter Volksgruppen – auch die Taliban gingen während ihrer Herrschaft mit Minderheiten Afghanistans nicht gerade zimperlich um (12) – beschränkt sich nicht auf Herat. Ismail Khans „Kollege im Amt“, der berüchtigte General Dostum, dem das traurige Verdienst zukommt, als erster die systematische Vergewaltigung von Frauen als Kriegswaffe in Afghanistan eingeführt zu haben, ließ unter den wohlwollenden Blicken des US-amerikanischen Militärs tausende von Paschtunen als vorgebliche „Taliban-Kämpfer“ abschlachten (siehe dazu: Massaker in der Wüste, in: Freitag, Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 26, 21.06.02).

Das Ende der Liberalisierung

Aber auch die von westlichen Medien so beredt gefeierte Befreiung der afghanischen Bevölkerung von islamistischer Gängelung gehört mittlerweile der Vergangenheit an.

Neben dem unmittelbaren Terror gegen die eigene Bevölkerung durch Milizen und Geheimdienst hält auch Ismail Khan zur Stabilisierung seiner Herrschaft an genau den gleichen pseudoreligiösen Reglementierungen des Alltags fest, die den Taliban weltweit den Ruf einbrachten, „Steinzeitfundamentalisten“ zu sein. „Sowohl Männer als auch Frauen werden von der Regierung angewiesen, keine westliche Kleidung zu tragen […]. Allen Männern, afghanischen wie ausländischen, ist es verboten, afghanischen Frauen die Hand zu geben. Afghanische Männer dürfen ausländischen Frauen nicht die Hand geben. Personen, die ‚lasterhafte‘ Verbrechen begehen, etwa Alkohol trinken, werden öffentlich erniedrigt – ihre Köpfe werden rasiert oder sie werden im Fernsehen angeprangert. Westliche Musik und Filme dürfen nicht verkauft oder gezeigt bzw. gehört werden. Im Oktober 2002 drangen die wieder eingeführten Kommandos der Sittenpolizei in den wichtigsten Bazar von Herat ein und schlossen mehrere Musik- und Videogeschäfte. Dabei wurden hunderte von Videos, Musikkassetten und Filmplakate konfisziert und zu einem Stapel aufgeschichtet, der mit Benzin übergossen und angezündet wurde“. (13) Auch in der Hauptstadt Kabul hat die Wiedereinführung des „Departements für islamische Weisung“, einer nur wenig getarnte Zweitausgabe des berüchtigten Ministeriums der Taliban „zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters“, den dürftigen Liberalisierungen des öffentlichen Lebens – vor allem für Frauen – ein rasches Ende gesetzt: „Angestellte des Departements sprechen auf der Straße Frauen an, die sich in ihren Augen nicht korrekt kleiden, und schärfen ihnen ein: dunkle lange Mäntel oder Röcke, die Handgelenke und Knöchel bedecken und die Form des Körpers nicht zeigen, Kopftuch und ungeschminktes Gesicht. Die Sittenwächter gehen oft soweit, daß sie die Fehlbaren bis nach Hause verfolgen, um Eltern und Ehemann in die Mangel [zu] nehmen. Kein Wunder, daß die Frauen die Burka solchen Belästigungen oft vorziehen: Unter dem Ganzkörperschleier können sie sich wenigstens schminken und tragen, was sie wollen“. (14)

Keine der von westlichen Medien oder Kriegsherren lautstark hochgespielten Errungenschaften des Sieges über die Taliban läßt sich, kaum ein Jahr nach dem Ende des Krieges, noch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Afghanistans nachweisen. So erfreulich es ist, daß der Terror der Taliban ein Ende gefunden hat, so wenig hat dieses Ereignis den Menschen selbst genutzt. Der Traum von der hilfreich und ordnend eingreifenden westlichen Militärmacht ist eine Propagandalüge. Die Situation in Afghanistan liefert den stichhaltigsten Beweis. Der Krieg hat tausende von Menschenleben gekostet, das Land weiter verwüstet und das soziale Gefüge vollends zerrüttet. Strategische, ökonomische und propagandistische Ziele der USA wurden ohne Zweifel erreicht, und Europa ist einen großen Schritt weiter auf dem Weg der Militarisierung seiner Außenpolitik. Afghanistan aber schlittert zurück in blutige Vielstaaterei und ein terroristisches, staatlich verordnetes Frömmlertum. Wer eine solche Entwicklung als „Befreiung“ feiern will, mag dies tun.

(1) Seeßlen, Georg/ Markus Metz, Krieg der Bilder, Bilder des Krieges. Abhandlung über die Katastrophe und die mediale Wirklichkeit, Berlin, 2002, S.156.

(2) Nachtwei, Winfried vor dem Bundestag, stenograhischer Bericht, Plenarprotokoll 15/17, Berlin, 20. Dezember 2002.

(3) Pflüger, Friedbert am 1. Juni 1999 auf der Europakonferenz der nationalen Parlamente in Berlin, zitiert nach: Pflüger, Tobias: "Mit Hochgeschwindigkeit in Richtung Militärmacht Europa", http://imi-online.de/ archiv/ 2000/ 11/ 1.php3, S.1

(4) Interview von Human Rights Watch, 11. September 2002, in Herat, zitiert nach: Blätter für deutsche und internationale Politik, Januar 2003, S.107.

(5) Human Rights Watch: "All unsere Hoffnungen sind zerbrochen". Gewalt und Unterdrückung in Westafghanistan, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Januar 2003, S.105.

(6) United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC): "Afghanistan Opium Survey 2002", www.unodc.org.

(7) Human Rights Watch: "All unsere Hoffnungen sind zerbrochen". Gewalt und Unterdrückung in Westafghanistan, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Januar 2003, S.106.

(8) Ebenda, S.105.

(9) Ebenda.

(10) Ebenda, S.107.

(11) Ebenda.

(12) Vgl. Rashid, Ahmed: "L'Asie centrale en voie de talbanisation", in: Le Monde diplomatique "L'atlas 2000 des conflicts", Januar/ Febuar 2000, S.32-34.

(13) Human Rights Watch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, S.108.

(14) Huber, Judith: "Innere Sicherheit in Afghanistan: Neuer Hut, gleicher Kopf", in: Le Monde diplomatique, März 2003, S.18.