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MERNIS

Der Überwachungsstaat trachtet nach Vollendung

| Elif Baskaya Übersetzung: Ossi

Mit dem Zentralen Einwohnerverwaltungssystem (MERNIS) beabsichtigt die Türkische Republik die Daten sämtlicher Bürger unter einem Dach zu vereinen.

Die Daten von 125 Millionen (lebenden und verstorbenen) Menschen, Stammbäume die z.T. ins Osmanische Reich zurückgreifen inbegriffen, wurden schon erstellt. Die Vergabe der Bürgernummern ist schon abgeschlossen. Nun soll in den nächsten fünf Jahren die Vergabe digitaler Ausweise (die „Kluge Karte“) stattfinden.

Mit dem neuen System soll das Leben (z.B. durch sich auflösende bürokratische Warteschlangen) einfacher werden, aber die Realität ist, dass alle (polizeistaatlich) relevanten Informationen der ganzen Bevölkerung einem Überwachungsapparat zur Verfügung gestellt werden. Sobald MERNIS ganzheitlich umgesetzt ist, wird es für den Staat möglich sein, Informationen zu jeglicher Person (wie Telefonsprechpartner, Einkäufe, Schuleintrag und mehr)ohne großen Aufwand auf einen Bildschirm zu laden. Ohne die Bürgernummer, die über das Internet zu erlangen ist, sind Eintrittsexamen in die Uni und Pass-, Führerschein- und Ausweisanträge schon nicht mehr möglich. Ab Ende 2003 sollen Vorgänge in den Bereichen der Sozialversicherungen, Gesundheitsdienste, Bankengeschäfte, Wehrpflicht, Strom- und Wasserabonnements nicht mehr ohne die neue Bürgernummer vorgenommen werden können.

Der einzige Streitpunkt in der bisherigen öffentlichen Diskussion drehte sich um die Eintragung der Religionszugehörigkeit in den neuen Ausweis.Ansonsten wird MERNIS als ein prächtiger Schritt zur Modernisierung der Türkei und ihrem Staatsgebilde gefeiert. Es ist erschreckend mit anzusehen,wie leichtfertig die hiesige Opposition und Systemkritiker diese große Bedrohung bisher übersehen haben.

Der Staat und mit ihm die Medien sind stolz auf die Zauberformel (die elektronische Parallelschaltung aller Institutionen), durch die bürokratischer Chaos und die Schwarzökonomie beseitigt und „Straftäter“ aufgedeckt und überführt werden soll.

Der neue Ausweis werde nicht nachahmbar sein und entspreche EU-Standarten. Damit werden weiter die Steuernummer und die Sozialversicherungsnummer in der Bürgernummer vereinigt. Zur Erlangung des Ausweises soll ein Formular ausgefüllt werden, welches Kleinigkeiten wie Adresse undFingerabdruck beinhalten wird. Dieser Fingerabdruck wird ebenfalls auf dem Ausweis verewigt werden.

Das Projekt wurde am 1. September 1974 ins Leben gerufen. Das Staatliche Planungsinstitut (DPT) hat 1976 die Pläne fertig gestellt und den Auftrag im Jahre 1980 an die Mittelöstliche Technische Universität (ODTÜ) vergeben. Dank technischer Unzulänglichkeiten hat sich die erste Phase der Umsetzung auf die Jahre 1982 bis 1996 erstreckt. Doch mit der finanziellen Unterstützung der Weltbank und dem Entwicklungsprogramm der UN ist das Projekt 1996 in die zweite (integrativ administrative) Phase getreten.

Die Regierung unter Tansu Çiller hat 1994 ein separates Einwohnerverwaltungsamt zur Zusammenstellung der erforderlichen Daten gegründet, dasdirekt der Premierministerin unterstand. Es ist unbekannt welche Personen diese Daten nun mit welchen Zwecken hüten und nutzen! (1)

Die lange Vorbereitungsphase hat zu viel Kritik und Diskussion geführt. Das Innenministerium und das für diesen Zweck gegründete Einwohnerverwaltungsamt standen mit ihrer Trägheit im Mittelpunkt der Diskussion, so dass selbst das Finanzamt seine Unterstützung versagte. (2)

Die Weltbank vergab 5,5 Millionen US-Dollar, von denen 3,5 Millionen US-Dollar für ein Kleinstadtpilotprojekt ausgegeben wurden. Zwischen 1997 und 1999 wurden 4.805 PCs und 935 Server gekauft und 3.800 Beamten ausgebildet. Im ersten Zug wurden 120.000 EinwohnerInnen aus 923 Kleinstädten eingetragen. Die Softwarefirma Likom sah sich überfordert und führte die Arbeit zusammen mit Koç-Sistem fort.

Am 28. Oktober 2000 war die Erstellung sämtlicher Bürgernummern abgeschlossen. Ab März 2002 konnten EinwohnerInnen der Provinz Ankara ihre Nummern über Internet in Erfahrung bringen und seit November 2002 ist die gesamte MERNIS-Datenbank online.

Ohne großes Aufsehen verwirklicht die Türkische Republik ihre Vision eines modernen Staates und verbindet somit ihre herkömmliche Herrschaftspraxis mit einem bisher nur in Romanen realisierten Überwachungsstaat. Abgesehen von einer in den Anfängen stecken gebliebenen Kampagne der AnarchistInnen gegen MERNIS scheint das Thema die Opposition nicht zu berühren.

Aber es wird sie berühren und sie steht jetzt schon vor vollendeten Tatsachen und wird sehr viel Öffentlichkeitsarbeit und Widerstand nachholen müssen.

(1) Die DYP-SHP und DYP-ANAP Regierungen unter Tansu Çiller haben eine wichtige Rolle im Aufbau innerstaatlicher illegaler Strukturen gespielt, welche durch den Susurluk-Unfall im November1996 offenkundig wurden. (Anm. d. Übersetzers)

(2) Es kam auch zu Fehleintragungen. Z.B. wurde Nazým Hikmet, dem weltweit berühmten, längst verstorbenen und ausgebürgerten Dichter vor ca. einem Jahr die Nummer "20753206252" erteilt, wobei er laut MERNIS Staatsbürger und am Leben war.

Quellen

www.likom.com

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