Im Spätsommer 2002 erklärte die Morgen Stanley Bank in ihrem Report, der kommende Irak-Krieg werde der Türkei eine Mindestbelastung von 9 bis 15,5 Milliarden US-Dollar bescheren. Dieser Betrag deckt sich mit der finanziellen Belastung des Marmara Erdbebens vom August 1999.
Außerdem mutmaßte die Bank, die Türkei werde, trotz dem zu erwartenden großen Schaden angesichts des anhaltenden politischen und ökonomischen Durcheinanders, nicht auf eine Teilnahme an der Neugestaltung des Irak verzichten wollen.
Tatsächlich kündigten sich mit einem Angriff der USA auf den Irak unabsehbare Entwicklungen im ganzen Mittleren Osten und der Türkei an. Besonders die Eventualität der Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates im Nord-Irak, mit all ihren sicherheitspolitischen und ökonomischen Aspekten, macht den türkischen Führungseliten ernsthaft Sorgen.
Es war nicht zu erwarten, dass die in sich zerstrittene und aufgebrauchte Regierungskoalition die Türkei in dieser mit schwerwiegenden Problemen verbundenen Phase führen könne. Während dann die Wahlen zu einer ersehnten Einparteienregierung führten, sah der Staat im Staat sich einer islamischorientierten Regierungspartei gegenüber gestellt.
Wie die unerfahrene AKP mit strategischen Fragen, wie dem kommenden Krieg, die EU-Mitgliedschaft und das Zypern-Problem, umgehen solltewar ungewiss. Außerdem handelte es sich bei dieser Partei um eine Koalition von verschiedenen islamischen Gemeinschaften, Kapitalvertretern, manchen Alt-Linken und den Zentralparteien absagenden Politikern; daher war eine einheitliche Haltung in Schlüsselfragen eher unwahrscheinlich. Aus diesenGründen und weil sie eine sehr junge Partei war, war sie Haltungen und Neigungen der eigenen Wählerschaft gegenüber offen. Dabei unterbindet der raison d’etat der Türkei gerade diese Art von Einflussnahme, denn die strategischen Interessen des Staates sind der Angelpunkt an dem sich jede Regierungspartei, abgesehen vom eigenen Programm, richten muss und demzufolge den eigenen Spielraum einzuengen hat. Und in dieser Phase, gekennzeichnetdurch das Risiko eines kurdischen Staates, unglaublich hoher Außenverschuldung und einer sub-imperialen Perspektive, befahl die Staatsraison eine Eingliederung in die US-Politik. (1)
Doch leider stimmte das Empfinden der Öffentlichkeit mit diesem Befehl nicht überein. Laut Umfragen vom Herbst 2002 waren 85% der Öffentlichkeit gegen den Krieg. Die Entfaltung des Anti-Islamismus im Westen, nach dem 11. September, sorgte bei der mehrheitlich islamischen Bevölkerung für Unbehagen. Besonders die in letzter Zeit ansteigende Gewalt Israels den Palästinensern gegenüber verstärkte diese Missstimmung. Die Bevölkerung war sich darüber einig, dass es der USA nicht um das Saddam-Regime und die Waffen zur Massenvernichtung ging. Die Ermordung von Moslems zur Sicherung von globaler Hegemonie und Öleinkommen war für die einfachen BürgerInnen nicht einfach zu verkraften. Außerdem erinnerte sich die krisenmüde Bevölkerung sehr wohl an die ökonomischen Belastungen des zweiten Golfkriegs 1990/91. Nachdem sich die Teilnahme der Türkei am Krieg abzeichnete, stieg das Unbehagen in der AKP-Basis noch weiter an. (2)
Der von zwei Seiten ausgeübte Druck auf die AKP-Regierung führte zu einer unentschlossenen Politik. (3) Die Regierung begründete die bevorstehende Teilnahme am Krieg nicht mit der Eindringlichkeit der US-Thesen oder der Verpflichtung einem strategischen Bündnis gegenüber, sondern sah sichgezwungen pragmatisch zu argumentieren. Dieser Pragmatismus verwandelte sich in ein hartes Feilschen, das auf Seite der USA bald in Überdruss resultierte. (4)
Die Antikriegshaltung der Bevölkerungsmehrheit äußerte sich auf schüchterne aber interessante Weise, die generell eine aktive Artikulation en masse und „auf der Strasse“ nicht anpeilte. Zum Beispiel warb ein Markthändler mit dem Slogan „Nein zum Krieg, ja zu Kartoffeln!“ für seine Ware.
Eigentlich hat es in der Türkei nie eine starke und massenhafte Antikriegsbewegung gegeben. Bis 1990 war Opposition gegen den Krieg als eine politische Haltung und Prinzip eine Sache von kleinen Initiativen aus Intellektuellenkreisen. Ein Hauptgrund hierfür ist die hegemoniale Ideologie, die den Krieg als eine Erfahrung, die Bürger und Staat stärkt, ansah, während die linke Opposition, selbst nicht frei von traditionellen Dogmen, eine Anti-Kriegshaltung als abstrakten Humanismus etikettierte. Ab 1990 zeichneten sich neue Entwicklungen ab. Auf der einen Seite entwickelte sich ein prinzipieller Antimilitarismus, auf der anderen Seite entstanden heterogene Friedenskampagnen im Zusammenhang mit der kurdischen Frage. Die Forderung nach Frieden hatte für alle beteiligten Seiten ein anderes Gesicht. Die kurdische Bewegung und ihre türkischen UnterstützerInnen sind das Thema immer pragmatisch angegangen. Die Friedenskampagnen waren willkommen als ein Instrument zur Politisierung und organisatorischen Erweiterung und die KDV-Bewegung stellte mit ihrem speziellen Ansatz die Möglichkeit dar, psychosoziale Schwächen des Feindes anzugreifen, ohne dem Verdacht der Parteilichkeit zu unterliegen. Es gab sehr wohl Forderungen für eine gewaltfreie Lösung des Konflikts, doch prinzipiell antimilitaristische Opposition gegen den Krieg konnte sich innerhalb oppositioneller Bewegungen generell nicht durchsetzen.
Vor diesem Hintergrund gelang es den aktiven Kreisen gegen den aktuellen Krieg eine breite Koalition aufzustellen, die die interne Diskussion auf prinzipieller Basis meist aussparte. In dieser Koalition trafen sich Linke, Islamisten, Kurden, Kemalisten, „nationale Linke“ und viele weitere Gruppierungen. Solch ein breites und aktives Bündnis hatte sich in der Türkei seit langem nicht eingestellt.
Die eigentliche Motivation der Islamisten war die Empörung über einen „Krieg gegen die Moslems“. Die Mehrheit der Moslems stand einer aktiven Teilnahme eher scheu gegenüber, während eine intellektuelle Minderheit sich mit prinzipieller Ablehnung des Krieges auseinander setzte und sich aktiv an den Aktionen beteiligte.
Die Kemalisten und „nationalen Linken“ störten sich hauptsächlich an den erniedrigenden und amoralischen Verhandlungen mit den USA, derenTruppenpräsenz in der Türkei als eine Untergrabung der nationalen Souveränität verachtet wurde. Zudem stellte die Anti-Kriegsbewegung für sie eine Chance zur Kritik an einer islamischen Regierung dar. Doch die Anti-Kriegshaltung hörte für diese Kreise bei der Frage zur Intervention gegen einen nordirakischen kurdischen Staat auf.
Die kurdische Bewegung hat zu Anfang aufgrund von „nationalen Interessen“ eine konjunkturelle und unschlüssige Haltung eingenommen. Manche Ideologen versuchten die Zuverlässigkeit der USA zu bestimmen und plädierten für die Vorteile einer kurdischen Initiative im Nord-Irak. Weiter wurden Isolationsmaßnahmen gegen den inhaftierten Abdullah Öcalan kontinuierlich im Rahmen der Anti-Kriegsaktivitäten thematisiert.
Natürlich stellte die Linke das zentrale Bindeglied und die eigentliche Basis für die Koalition dar. Ihre Haltung stützt sich auf sehr unterschiedliche Analysen und Motive. Ein wichtiger Teil der Linken sieht die Anti-Kriegsbewegung äußerst pragmatisch als ein Instrument der anti-imperialistischen undAnti-US Propaganda. Mit dem Vorbehalt des gerechten Kriegs (revolutionärer Krieg und/oder nationaler Befreiungskrieg) stellen sie sich gegen den Krieg im Irak. Sie hinterfragen Militarismus nicht und artikulieren sich selbst mit einer kriegerischen Sprache. Ein weiterer Teil sah die Beteiligung in dieserKoalition als einen Weg zum Aufbau von Legitimität und Sympathie innerhalb der Bevölkerung.
Doch innerhalb der Linken gab es auch welche, die sich für eine prinzipielle Antikriegshaltung eingesetzt haben und sie als eine autonome politischeLinie für notwendig halten. Da sie mit ihren Vorbereitungen früh angefangen haben und gute Kontakte in verschiedene gesellschaftliche Schichten unterhalten, konnten sie die Inhalte und Aktionsformen stark beeinflussen. Ihre Wirksamkeit im Aufbau einer untraditionellen linken Stimme und erfrischenden Aktionsformen verheißt Hoffnung für die Zukunft. In diesem Rahmen können linke Intellektuelle, Gruppen für eine Globalisierung von unten, unabhängige Frauengruppen, Gay/Lesben und AntimilitaristInnen genannt werden.
Entgegen den linken Bemühungen zur Zentralisierung der Bewegung, blieb die Antikriegsbewegung dezentral und vielschichtig. In verschiedenenTeilen des Landes haben sich Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugung zusammengefunden und auf spontane Art und Weise protestiert undorganisiert. (5) In vielen Städten haben Gewerkschaften, Vereine, Berufskammern und Individuen Antikriegsplattformen gegründet. Besonders die „Antikriegskoordination“ in Istanbul war beeindruckend. Neben ca. 150 Organisationen haben sich berühmte Künstler, Schauspieler und Journalisten an derKoordination beteiligt, wodurch ein starkes Interesse in der Bevölkerung geweckt werden konnte. Die Plattformen in den drei großen Städten (Istanbul,Ankara und Izmir) standen durchwegs in engem Kontakt und haben die Tagesordnung der Bewegung weitgehend beeinflusst.
Leider waren die AntimilitaristInnen bei der Gestaltung der Aktionsschwerpunkte und -formen nicht sehr wirksam. Die unter Einfluss der Linken vorherrschende hierarchische und bürokratische Atmosphäre in den Plattformen haben die AntimilitaristInnen auf Abstand gehen lassen. Abgesehen vonder Teilnahme in generellen Aktionen haben die AntimilitaristInnen in dieser Zeit nur eine unabhängige Aktion organisiert, bei der sich vier neue KDVer erklärten.
Umso näher der Krieg rückte, desto lebendiger wurden die Aktionen. Außer den Straßenaktionen wurden die Lobby-Aktivitäten, die auf die AKP-Parlamentarier ausgerichtet waren, verstärkt. Mit Telefon- und Faxaktionen, aber auch direkten Terminen wurden die Parlamentarier einzeln markiert. Besonders die Versammlung des Staatssicherheitsrat Ende Februar war von kritischer Bedeutung. Die Regierung wollte angesichts der gesellschaftlichenOpposition die Entscheidung zur Teilnahme am Krieg auf die Armee abwälzen. So sollte die parlamentarische Entscheidung für die türkisch-amerikanische Nordfront leichter verabschiedet werden. Doch gerade an dieser Stelle, hat sich die Armee entschlossen, die Bürde gänzlich dem Parlament zu überlassen. Unerwarteter weise hat sich das Parlament dann am 1. Mai, während in Ankara eine Demo mit 100.000 Menschen stattfand, gegen den Einstieg in den Krieg entschieden und sämtliche Pläne auf den Kopf gestellt. Natürlich war diese letzte Massendemo nicht der eigentliche Auslöser der Entscheidung, aber die Erweiterung des öffentlichen Raums hat seltener weise zu einer Resonanz (6) zwischen Parlament und Bevölkerung geführt. So haben die USA den Krieg letztendlich ohne türkische Unterstützung aus dem Süden begonnen. Die Spannung zwischen der Türkei und den USA hat während dem ganzen Krieg angehalten und sich beim Aufmarsch der Kurden in Kerkuk und Mossul noch verschärft.
Die Koalition gegen den Krieg hat ihre Aktionen während dem Krieg mit der gleichen Intensität weitergeführt. Falls es im Nachhinein zu einem Einmarsch der türkischen Armee im Nord-Irak gekommen wäre, hätten die Aktionen noch definitiv zugenommen. Aber die neue Situation hätte ebenso zu Trennungen, zu einem Rückgang der Sympathie und Unterstützung in der Bevölkerung und verminderter Toleranz des Staates, was die Aktionen anbelangt, führen können. Als z.B. die Kurden Kerkuk einnahmen, haben die bis dahin unsichtbaren Faschisten Antikriegsdemos in Ankara und Izmir unter Polizeischutz angegriffen und es gab kaum Reaktion aus der Bevölkerung.
Wenn der weitere Verlauf auch unklar ist, war die bisherige Entwicklung auf jeden Fall sehr lehrreich. Dass die Bevölkerung und die Oppositionellen in der Türkei mit einem Gefühl der Zugehörigkeit zum globalen Widerstand gehandelt haben, ist ein wichtiges und stärkendes Motiv. Wie überall aufder Welt haben die Menschen in der Türkei erlebt, dass sie gegen den Terror der Macht tatsächlich Widerstand leisten können. Im Besonderen war es wichtig, dass Teile der Opposition die Notwendigkeit einer autonomen und prinzipiellen politischen Linie gegen den Krieg erkannt haben.
(1) Natürlich haben verschiedene Manipulationen zur Definition dieser Anforderungen beigetragen. Während die USA die Türkei auf jeden Fall in den Krieg hineinziehen wollte, setzte sie einerseits die "kurdische Karte" ein und übte andererseits, bei einer Außenverschuldung von 250 Milliarden US-Dollar, Druck durch den IMF aus. Im Inneren argumentierte das Großkapital, der Krieg würde die globale Ökonomie beleben und zur internationalen Integration der türkischen Ökonomie führen. Aber der interessanteste Manipulationsversuch kam von den Medien: Manche Kolumnisten thematisierten, in Verbindung mit dem Mossul-Öl, alte Schulden des Irak. Im Jahre 1926 schlossen Großbritannien, Türkeiund Irak einen Vertrag, demnach die Türkei ihre Anrechte auf Mossul aufgab und dafür für 25 Jahre jährlich 10% des irakischen Anteils (royalty) am Mossul-Öl erhalten sollte. Ein Teil dieser Zahlungen ist nie eingegangen und wurde aus handelspolitischen Gründen im Jahre 1986 aus dem Staatshaushalt gestrichen. Den Kolumnisten nach, war die Zeit zur Schuldeintreibung gekommen…
(2) Die AKP sah sich einem vielseitigem Druck ausgesetzt. Besonders die Kritik der sonst AKP nahen islamischen Presse fiel sehr harsch aus. Die WählerIn fragte immer wieder: "Haben wir Euch gewählt, damit ihr bei der Zerbombung der Moslems mithelft?"
(3) Die USA hat die Türkei in den Vorkriegsverhandlungen 16 Mal "zum allerletzten Mal" gewarnt, um zu einer endgültigen Entscheidungzu gelangen.
(4) Dieses "harte" Feilschen ergab einen Zuschuss von 6 Milliarden US-Dollar und einen Kredit in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar, die wie bekannt ausfielen. Während die Türkei sich in diesem Prozess in den Augen der Weltöffentlichkeit moralisch in eine schwer zu verantwortende Situation manövrierte, entblößte sie die USA mit und gewann unfreiwillig Zeit für die erstarkende internationale Antikriegsbewegung.
(5) Neben den Massendemos überall, haben z.B. Hotelfachleute und ArbeiterInnen in Antalya 90.000 Unterschriften gegen den Krieg gesammelt, UmweltaktivistInnen woanders Fallschirmaktionen gemacht, Tausende von Kindern in Izmir Drachen fliegen lassen, 360 Künstler einBuch voll mit Karikaturen, Gedichten und Artikeln publiziert. Frauengruppen aus verschiedenen Städten haben sich in Silopi an der irakischenGrenze getroffen und Friedenssymbole hinterlassen. Je 100 Stellvertreter von 100 Berufsgruppen haben sich in Istanbul zum "Parlament derHunderter" zusammengeschlossen, eine Deklaration gegen den Krieg verfasst und anschließend Termine mit Parlamentariern und Ministernwahrgenommen.
(6) Tanýl Bora, "Den 1. Mai wert schätzen", Birikim, April 2003, Nr. 168, s. 20