ökonomie

Mächtig ohnmächtig

Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Sozialabbau

| Sonja Zorn

Der Philosoph Hegel nannte den Staat einmal die "Wirklichkeit der sittlichen Idee", tatsächlich beruht der Staat, und damit auch die Sittlichkeit staatlicher Ordnung, auf seiner Fähigkeit dem kapitalistischen Wirtschaftsprozess die Mittel abzuringen, die er benötigt um sich wie auch den Prozess selbst zu erhalten.

Dies wurde spätestens mit der Krise in der Mitte der 70er Jahre immer schwieriger. Denn es setzte die bis heute andauernde Phase der strukturellen Arbeitslosigkeit ein. Strukturell deshalb, weil sie im Wesen der Kapitalverwertung, vom subjektivem Wollen und Wünschen der Menschen unabhängig, begründet ist. Waren 1960 0,27 Millionen Menschen in der Bundesrepublik arbeitslos, so waren es 1985 2,30 Millionen, und 1997 bereits 4,37 Millionen (vgl. Kurz 1999, Roth 1999) zur Zeit (Juni 2003) sind es mehr als 4,5 Millionen. Komplementär dazu stiegen und steigen die Ausgaben des Staates. In seinem Buch „Das Kartenhaus“ schildert Reiner Roth das Dilemma von „Ökonomie und Staatsfinanzen in Deutschland“ sehr eindringlich. „1950 betrugen die Staatsschulden insgesamt 18 Mrd. DM. 1998 dagegen 2.300 Mrd. DM. (…) In Deutschland musste 1998 ein Tribut von 134 Mrd. DM Zinsen an die Gläubiger, im wesentlichen Banken, aufgebracht werden. Das entspricht mehr als der Hälfte der Lohnsteuern, die der Staat insgesamt einnimmt und etwa den Gesamtausgaben für Schulen, Hochschulen und Forschung“ (ebd: 8).

Die strukturelle Krise des Kapitalismus lässt es nicht zu, dass Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung sinken, im Gegenteil, der Zwang unter Konkurrenz Kosten zu senken und, im Durchschnitt, auf höchstem technischem Niveau zu produzieren, hat zur Folge, dass massenhaft Arbeitskräfte überflüssig werden. Andererseits führt der Zwang zur Entwicklung der Produktivkräfte dazu, dass die Investitionen ins Sachkapital immer höher werden. Der Profit pro eingesetztem Kapital wird, im Durchschnitt, immer geringer. Es lohnt sich nicht zu investieren. Das Kapital wird arbeitslos (vgl. Roth 1999; Kurz 1999). Denn Maßstab des Wertes der Waren ist das in ihnen dargestellte Maß, die Menge der zu ihrer Herstellung verwendeten Arbeitskraft auf dem, durch das stetig ansteigende technische Niveau, erreichten Standart. Karl Marx hat diese Entwicklung schon früh gesehen: „Wenn die ganze Klasse der Lohnarbeiter durch die Maschinerie vernichtete würde, wie schrecklich für das Kapital, das ohne Lohnarbeit aufhört, Kapital zu sein! (Marx: 1975, [zuerst 1848]: 421).

Der Druck auf das Lohnniveau und auf die Lohnersatzleistungen wird, zur Rettung der Profite, immer höher. Vollbeschäftigung mit mehr als nur existenzsichernden Arbeitsplätzen wird auch durch Lohnzurückhaltung, durch massive Absenkung des Lohnniveaus und Senkung der Sozialleistungen und selbst aller Aufgaben des Staates nie mehr erreicht. Dennoch stehen diesbezügliche Vorschläge seit mehr als zwanzig Jahren ganz oben auf der Themenskala aller Parteien. „Hohe Löhne“ werden als Ursache der Arbeitslosigkeit verstanden- quer durch alle Parteien und erfahrungswidrig. Tatsächlich ging die Massenarbeitslosigkeit seit Mitte der siebziger Jahre einher mit massiven Absenkungen des Lohnniveaus.

„Die resistente, weder von Erfahrungen noch von Argumenten angreifbare Unbelehrbarkeit, mit der angesichts dieser Probleme die gleichen Rezepte überparteilich, allerorts und immer wieder angeboten werden, ist das eigentlich Überraschende an der bundesdeutschen wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussion“ (Ganssmann 1997: 6-7). Und ein früherer Protagonist der „Grünen“ in NRW, Daniel Kreutz, stellt fest: „Wählen hilft nicht mehr weiter, wenn es um einen Politikwechsel für Sozialstaat und solidarische Gesellschaft gehen soll“ (Kreutz 2002: 471) Wenn man die Systemstrukturen analysiert, ist daran nichts Überraschendes zu entdecken.

Politik, die immer an den Nationalstaat gebunden bleibt, hängt von der Funktionstüchtigkeit und Konkurrenzfähigkeit „ihrer Nationalökonomie“ auf dem Weltmarkt ab. „Alles, was der Staat politikvermittelt tut, muss er im Medium des Marktes tun, d. h. in der Geldform. Denn jede Maßnahme und jede Institution muss ‚finanziert‘ werden. Am Problem der ‚Finanzierbarkeit‘ bricht sich grundsätzlich jede Selbstständigkeit der ‚Politik’…. Die Abhängigkeit der ‚Politik‘ von der Finanzierbarkeit ihrer Maßnahmen und damit von der Geldform des Marktes ist insofern eine absolute, als die politische und etatistische Sphäre keine eigene Geldschöpfungspotenz besitzt“ (Kurz 1994a: 93) Gerhard Schröder hat als Kanzlerkandidat selber darauf hingewiesen, dass sein Programm wesentlich von der Finanzierungsfähigkeit abhängt und vor jede inhaltliche Äußerung den Finanzierungsvorbehalt gestellt.

Diese Politik des Finanzierungsvorbehaltes hat ihren handfesten Grund und ist nicht bloß ein Hirngespinst des Kanzlers. Die hohen Staatsschulden sind niemals mehr rückzahlbar. „Den Gläubigern der Staatsschulden erscheint der Sozialstaat als Gefährdung für die Befriedigung ihrer eigenen Ansprüche auf Zins und Tilgung, als Gefährdung ihres Standortes Deutschland also. Deshalb mahnte die über die steigenden Staatsschulden besorgte Bundesbank eine ‚überzeugende Konsolidierungsstrategie‘ an, die nur in Ausgabenkürzungen bestehen könne“ (Roth ebd: 177).

Mit den Stabilitätskriterien des Maastrichter Vertrages über die gemeinsame Währung und der Überlassung der Geldhoheit an die Europäische Zentralbank (EZB) verschärft sich die Situation erheblich. Die Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften PROKLA resümiert: „Das Aktionsfeld nationalstaatlicher Politik wird auf die Bereiche des Haushaltes und der Steuern zurückgeschnitten, mit noch unabsehbaren Folgen für die sozialintegrativen Institutionen der europäischen Gesellschaften, in erster Linie für die sozialen Sicherungssysteme …“ (Müller 1999: 7). Wolfgang Däubler führt dazu aus: „Zusammenfassend lässt sich sagen: Soziale Politikziele werden in den Hintergrund gedrängt (…) Nicht auszuschließen ist eine Entwicklung wie in den USA, wo sich die Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung bereits am Erscheinungsbild vieler Städte bemerkbar macht“ (Däubler: 529-30).

Gegenwärtig erleben wir mit dem „Hartz-Konzept“ und der „Agenda 2010“ einen beispiellosen sozialen Kahlschlag. Gesetzliche Schutzrechte – eben die Sittlichkeit des Staates – werden abgebaut. Will man die kapitalistische Logik selbst in ihrem Niedergang noch stützen, dann wird man auf äußerst inhumane Mittel nicht verzichten können. Alle Parteien scheinen dazu bereit zu sein – weil sie ja ihre eigene Existenz der Systemlogik verdanken. Gesellschaft wir man in Zukunft nur noch Assoziationen jenseits von Staat, Markt und Warenproduktion nennen dürfen.

Literatur

Däubler, Wolfgang: Die soziale Dimension des Europäischen Binnenmarktes. In: Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Europa- Handbuch. Bonn 1999 (Bundeszentrale für politische) Bildung

Ganssmann, Heiner: Soziale Sicherheit als Standortproblem. In: Prokla 106, Heft 1, Münster 1997 (Westfälisches Dampfboot)

Hillenbrand, Olaf: Europa als Wirtschafts- und Währungsunion. In: Weidenfeld, Werner (Hrsg.): Europa- Handbuch. Bonn 1999 (Bundeszentrale für politische) Bildung

Kurz, Robert: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Frankfurt/Main 1999 (Eichborn Verlag)

Kurz, Robert: Die Himmelfahrt des Geldes. In: Krisis 16/17, Bad Honnef 1995 (Horlemann Verlag)

Kurz, Robert: Das Ende der Politik. In: Krisis 14, Bad Honnef 1994a (Horlemann Verlag)

Kurz, Robert: Der Zusammenbruch des Realismus. In: Krisis 14, Bad Honnef, 1994b (Horlemann Verlag)

Kreutz, Daniel: Neue Mitte im Wettbewerbsstaat. Zur sozialpolitischen Bilanz von Rot-Grün. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2002.

Marx, Karl: Lohnarbeit und Kapital. In: Marx/Engels Werke (MEW) Bd. 6, Berlin 1975 (Dietz Verlag)

Müller, Klaus: Die Einführung des Euro. Monetäre, politische und institutionelle Aspekte der europäischen Integration. In: Prokla 114, Heft 1, Münster 1999 (Westfälisches Dampfboot)

Roth, Rainer: Das Kartenhaus. Ökonomie und Staatsfinanzen in Deutschland. Frankfurt 1999 (DVS Verlag)