libertäre buchseiten

Lesen, Hören, Tanzen!

Systemkritik goes Poetry

| Heike

Michael Halfbrodt, drinnen + draussen. entscheiden + tun. Edition AV / Edition Blackbox. Frankfurt / Bielefeld 2002. Unpaginiert (ca. 80 S.), 9,80 €

Jedes Mal ist es wieder eine Freude, wenn ein komplexes Thema nicht nur strukturierend auf seine überschaubaren Bestandteile heruntergebrochen, sondern auch in sprachmächtiger und geistreicher Form behandelt wird. Wer den Anspruch, Leselust und politisches Begreifen als Einheit zu erleben, noch nicht aufgegeben hat, ist gut beraten, sich Michael Halfbrodts Bändchen „drinnen + draussen. entscheiden + tun“ näher anzusehen: Es ist ein weiterer und besonders gelungener Beleg dafür, dass wir uns nicht mit der Wahlmöglichkeit zwischen genussvoller „schöner“ Literatur und verbiestert zu durchackernder Theorielektüre abfinden müssen.

Warum verliert, wer mit dem subjektiv revolutionären Impetus des Institutionsmarschierers von draußen, von der Straße, nach drinnen, in die vermeintlichen Zentren der Macht und Entscheidung drängt, auf dem Weg dorthin regelmäßig und offenbar zwangsläufig die Orientierung und, früher oder später, die ursprüngliche Motivation für diesen Schritt? Und was macht einen Produktionsprozess, der sich durch strikte Arbeitsteilung zwischen Entscheidungsträgern und Ausführenden auszeichnet, so irrwitzig? Diese beiden Fragen werden, ohne unangemessene Simplifizierung oder Polemik, mit einfachsten sprachlichen Mitteln gestellt und beantwortet – und das liest sich so wunderbar poetisch und leicht, dass man von der theorieschweren Nachbemerkung, die über die handwerklichen und wissenschaftlichen Grundlagen der Textentstehung Rechenschaft ablegt, so überrascht ist wie im Theater beim berühmten Blick hinter die Kulissen, der einem erstmals die ebenso wuchtigen wie komplexen und technisch durchdachten Mechanismen zum Bewusstsein bringt, auf denen die eleganten, fließenden Szenenwechsel beruhen.

„Unter den Bedingungen der Hierarchie und der permanenten Konkurrenz um Macht und Ressourcen wird die notwendige Kooperation zur Erzeugung der materiellen Basis des gesellschaftlichen Lebens überlagert von einer starren Trennung der zusammenhängenden Aspekte des produktiven Tuns (Planung, Entscheidung, Koordination, Ausführung).“ So klingt das noch hinter der Bühne, und der Erkenntniswert derartiger analytischer Ausführungen sei ja unbestritten; aber wie erfrischend ist es, dass der gleiche Sachverhalt sich auch so lesen lässt:

da wo welche was
mit anderen zu tun haben
sind welche
die zu entscheiden haben
was zu tun ist
und welche
die das tun
was die die entscheiden
was zu tun ist
entschieden haben
und die die entscheiden
was zu tun ist
sind welche
die nichts von dem tun
was sie entschieden haben
und die die das tun
was entschieden worden ist
sind welche
die nichts
von dem entscheiden
was sie tun

Und dieser minimalistische Schreibstil – keine Substantive, einfachster Grundwortschatz – wird konsequent so lange durchgehalten, bis die Mechanismen der kapitalistischen Arbeitsteilung und die der parlamentarischen Einverleibung systemkritischer Energien in ihrer ganzen Vielschichtigkeit und ihren Wechselbeziehungen umfassend ausgeleuchtet sind.

Kurzum: ein faszinierendes Leseerlebnis! Und wem das ansprechend gestaltete bibliophile Bändchen noch nicht genügend Nahrung für die Sinne bietet oder wem es einfach Appetit auf mehr gemacht hat, dem oder der sei wärmstens empfohlen, sich bei Buchmessen und ähnlichen Anlässen umzuhören, ob nicht etwa eine Lesung des Autors angekündigt ist. Denn beim Hören des eindringlichen Vortrags noch mehr als beim Selberlesen der Texte erschließt und entfaltet sich die rhythmische Kraft ihrer Sprache, und es erscheint nicht mehr verwunderlich, dass „drinnen + draussen“ sogar ein Tanzstück inspiriert hat.

In diesem Sinne: Viel Spaß beim Lesen, Hören und Tanzen!