Ralf Burnicki, Anarchismus und Konsens. Gegen Repräsentation und Mehrheitsprinzip: Strukturen einer nichthierarchischen Demokratie, Verlag Edition AV, Frankfurt 2002, 303 S., 16,00 €
Das Konsensprinzip ist eine logische Vervollständigung anarchistischer Demokratiekonzepte und eine Komplettierung der Kritik an Modellen einer parlamentarischen Demokratie, die ja auf zwei theoretischen Grundpfeilern ruht: Repräsentation und Mehrheitsprinzip. Setzt der Anarchismus der Repräsentation die Vorstellung einer unmittelbaren und jederzeitigen Beteiligung aller an sie betreffenden Entscheidungen entgegen, bleibt die Kritik insofern inkonsequent und unvollständig, als sie mit dem Mehrheitsprinzip einen zweiten hierarchischen Ausschlussmechanismus, das Übergehen von Minderheiten durch Mehrheiten, unangetastet lässt. Im Konsensprinzip ist über das Vetorecht erstmals ein Minderheitenschutz direkt im Demokratieverfahren selbst verankert (und nicht äußerlich durch entsprechende Gesetze hinzugefügt). Durch das Vetorecht können Mehrheitsentscheidungen per Einspruch einer Minderheit (im Grenzfall eines/einer Einzelnen) blockiert werden. Dadurch entsteht ein Gleichgewicht, eine Pattsituation zwischen Mehrheit und Minderheit. Keine Seite kann ihre Vorstellungen durchsetzen. Das Konsensprinzip ist somit ein gesellschaftlicher Ausgleichs- und Versöhnungsmechanismus.
Das Mehrheitsprinzip wurde zwar seit jeher im Anarchismus mit Misstrauen betrachtet, von einer intensiven Suche nach alternativen Lösungen konnte dennoch nicht die Rede sein. Das Konsensprinzip ist, auch wenn es vereinzelt schon früher praktiziert wurde, eine vergleichsweise neue Erscheinung. Explizit formuliert und theoretisch durchdacht wurde es erst in den letzten Jahrzehnten.
Hierzulande ist das Konsensprinzip das späte Resultat „des Zusammenfließens anarchistisch-revolutionärer Absichten mit Teilen der Ideenwelt der ‚Neuen Sozialen Bewegungen'“ (S. 60). Blieb es innerhalb der NSB jedoch rein fallbezogen und pragmatisch begründet, wurde in der anarchistischen Szene seine grundsätzliche Bedeutung als herrschaftsvermeidende Entscheidungstechnik erkannt. Seit den 1990er Jahren wird es in allen größeren anarchistischen Zusammenschlüssen (FAU, FöGA, I-AFD) angewendet und auch in kleineren libertären Projekten (Kommunen, selbstverwaltete Betriebe und Kollektive) praktiziert.
Um 1980 herum haben sich die Wege getrennt. Wurden die NSB unter dem Einfluss der Grünen auf „Basisdemokratie“ eingeschworen, d.h. auf eine grundsätzliche Anerkennung des Parlamentarismus, der nur im Einzelfall für Basisinitiativen geöffnet werden soll (Bürgerbegehren u.ä.), wurde das Konsensprinzip zum Bestandteil anarchistischer Vorstellungen einer hierarchielosen Demokratie, die „keineswegs parlamentarismusverträglich“ (S. 58) ist.
Ralf Burnickis Doktorarbeit „Anarchismus und Konsens“ könnte man zugleich als Resümee und Synthese der in den letzten 20 Jahren vornehmlich in Bewegungsmedien (darunter viele GWR-Artikel) geführten Diskussionen bezeichnen wie auch als darüber hinausgehenden Ansatz, die überwiegend binnenorganisatorisch orientierte Debatte in Richtung auf eine systematischen Begründung des Konsensprinzips als „ideales Entscheidungsmodell einer künftigen anarchistischen Gesellschaft“ (S. 57) zu öffnen.
Wie lässt sich also Konsens als umfassendes, um nicht zu sagen globales Vergesellschaftungsprinzipdenken?
Im Gegensatz zum landläufigen Vorurteil setzt Konsens keineswegs weitgehend homogene Einheiten voraus, sondern kommt eher dort zum Einsatz, wo einheitliche Interessenlagen gerade nicht vorliegen, entspricht somit durchaus modernen Tendenzen der Auflösung homogener Sozialmilieus. Andererseits ist das Konsensprinzip mehr als „praktische Notlösung, um Einheitlichkeit herzustellen, wo sie nicht vorliegt“ (S. 66), sondern Konsequenz einer anarchistischen Ethik, die Einheit im identitären Sinne ablehnt. Die angestrebte Gesellschaft der Freien und Gleichen ist zugleich die der Vielfältigen und Heterogenen, die auf die Herausbildung kollektiver Identitäten zugunsten individueller Ungebundenheit verzichtet.
Andererseits erfordert die realistische Einschätzung des Konsensprinzips eine Umkehrung der Betrachtungsperspektive im Sinne eines „Primats der Demokratie“ (verstanden als hierarchielose Konsensdemokratie). Die Frage lautet nicht: Wie lässt sich Konsens in den Kontext der zeitgenössischen Gesellschaft einfügen, sondern: Wie müssen gesellschaftliche Verhältnisse beschaffen sein, bzw. nach welchen Kriterien müssen sie verändert werden, um die als wünschenswert erachteten demokratischen Verfahren zu ermöglichen.
Die Forderung nach Beteiligung aller Betroffener an Entscheidungsverfahren würde z.B. beim derzeitigen Stand weltweiter Verflechtungen und Abhängigkeiten ein globales „Mitwirkungsknäuel“ entstehen lassen, das konsensdemokratisch nicht aufzulösen wäre. Hier kämen klassische anarchistische Vorstellungen radikaler Dezentralisation zum Tragen, „mit dem Ziel der Rückgewinnung regionaler Selbständigkeiten“ (S. 104), gemäß dem Grundsatz, „regionale Entscheidungen auf regionale Folgen (zu) reduzieren“ (S. 106).
Konsensdemokratisch gewendet, bedeutet das „Entscheidungsreduktion“, um nur „solche Entscheidungstragweiten herbeizuführen, die lediglich eine organisierbare oder überschaubare Anzahl an Menschen negativ betreffen“ (S. 111). Mithin gilt, ein jeweils günstiges Verhältnis zwischen Entscheidungsinhalt und Beteiligtenzahl zu finden.
Auch am Vetorecht lässt sich verdeutlichen, in welche Richtung ein Umdenken vonnöten ist. Insofern das Vetorecht darauf abzielt, Veränderungen bestehender Umstände zu verhindern, sich also strukturell zugunsten einer Konservierung des jeweiligen Status Quo auswirkt, ist die Gefahr einer gewissen Innovations- und Experimentierfeindlichkeit, wie auch vorhandene Praxiserfahrungen belegen, nicht ganz von der Hand zu weisen.
Hier wäre die grundsätzliche Frage zu stellen, ob Innovation oder Veränderung per se als positiv und erstrebenswert anzusehen sind, oder ob nicht umgekehrt die Verlangsamung von Entscheidungsgeschwindigkeiten als Kennzeichen von Demokratie gewürdigt werden müsste. Bereits unter heutigen Bedingungen ist zu beobachten, dass demokratische Interventionsmöglichkeiten, z.B. gegen den Bau von Straßen, Flughäfen, Industrieanlagen usw. (Einspruch, Klagen, Proteste), als „Entwicklungsbremsen“ fungieren, was keineswegs zum Nachteil der Allgemeinheit geschieht: Wieviele Atomkraftwerke gäbe es heute ohne den Widerstand der Anti-Atom-Bewegung?
Burnickis Entwurf einer Konsensdemokratie bietet kein Rundum-sorglos-Konzept der Anarchie. Er macht auf Mängel und Defizite aufmerksam, benennt Probleme, die noch nicht gelöst sind und deutet somit die Richtung an, in die weitere Überlegungen und Forschungen angestellt werden müssen. Er ist somit dem eigenen Anspruch nach ein (bescheidener?) Beitrag zu einer per definitionem unabschließbaren Debatte über eine herrschaftsfreie Zukunft.