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Q oder der Beginn der Moderne

Luther Blissett - Wahrheit und Fälschung

| Michael Halfbrodt

Luther Blissett, Q. Roman, Piper Verlag, München-Zürich 2002, 798 S., 22 €

Ursprünglich "gehörte" der Name Luther Blissett einem englischen Fußballer karibischer Herkunft, der 1982 vom FC Watford zum AC Mailand wechselte, sich dort aber als glückloser Stürmer entpuppte, der in 30 Spielen nur 5 Tore schoß und als "Luther Missit" verhöhnt wurde.

Seine zweite Karriere startete „Luther Blissett“ ein Jahrzehnt später, ebenfalls in Italien, als von situationistischen Ideen beeinflusste PolitaktivistInnen den Namen „entwendeten“. Das war durchaus als Hommage und Wiedergutmachung für den kickenden Pechvogel gemeint, der zur Zielscheibe rassistischer Witze geworden war, weil ihm die italienische Art, Fußball zu spielen, nicht zusagte.

Seither steht „Luther Blissett“ als „multipler Name“ innerhalb eines Konzepts kollektiver Urheberschaft für eine wachsende Zahl von Aktivitäten überwiegend „semiotischer“, medienkritischer Art. „Luther Blissett“ hat sowohl Musik-CDs veröffentlicht als auch theoretische Texte, Manifeste, Pamphlete verfasst, zeichnet aber vor allem für Aktionen im Stile der Kommunikationsguerilla verantwortlich. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre ist Luther Blissett ein „kollektives Gespenst“. Allerdings eines, das vornehmlich in linksradikalen Kreisen umgeht. Das hat sich ein wenig geändert, seit 1999 einer vierköpfigen Autorengruppe aus Bologna, die zum dortigen Luther-Blissett-Projekt gehört, ein bemerkenswerter Einbruch in die Mainstream-Medien gelang. Erstaunlicherweise mit einem historischen Roman, der nicht nur von einem der renommierten italienischen Verlagshäuser publiziert wurde, sondern sich zum Bestseller mauserte und mittlerweile in verschiedene Sprachen übersetzt ist. Seit Herbst 2002 liegt das Buch auch in einer deutschsprachigen Ausgabe vor (und hoffentlich bald auch in einer Taschenbuchausgabe).

Für die Autoren, die mittlerweile das Luther Blissett Projekt als abgeschlossen betrachten und sich Wu Ming (chinesisch: Ohne Namen) nennen, ist Schreiben eine kollektive Praxis, eine ständige Neukombination von Ideen, die weder einen Geniekult zulässt noch überhaupt mit der Vorstellung geistiger Eigentumsrechte zu vereinbaren ist.

Nicht ohne Stolz verweisen sie darauf, dass es ihnen erstmals gelungen sei, einem Großverlag eine Anti-Copyright-Formel abzuringen. So übrigens auch in der deutschen Ausgabe, wo es (leicht zu überlesen!) im Impressum heißt, dass die Wiedergabe und Verbreitung des Werks erlaubt sei, wenn sie nicht aus kommerziellen Gründen erfolgt.

Q – der Roman

Worum geht es nun in „Q“? Zunächst ist zu sagen, dass es sich um ein ausgesprochen spannendes und unterhaltsames Buch handelt, ein geschickter Genre-Mix aus Historienroman, Abenteuerbuch, Agententhriller und Krimi. Vor allem aber ein klassischer „Schmöker“, 800 Seiten dick, eines jener Bücher, die eine Sogwirkung entfalten, die man, hat man erst einmal zu lesen begonnen, ungern wieder aus der Hand legt, bevor man nicht auf der letzten Seite angelangt ist.

Q ist der Roman einer Epoche.

Alles beginnt mit Luther – nicht Blissett dieses Mal, sondern Martin – und seinen 95 Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg im Oktober 1517, und findet seinen vorläufigen Abschluß mit dem Frieden von Augsburg 1555. Damit ist der zeitliche Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich die Handlung des Romans abspielt.

Der Held und Ich-Erzähler des Buches ist ein Namenloser, genauer gesagt, ein Mann, der viele Namen und Identitäten annimmt, um sich seinen Verfolgern zu entziehen. Als junger Theologiestudent an der Universität Wittenberg will er die neuen Ideen der Reformatoren an der Quelle studieren. Stattdessen lernt er einen Mann kennen, der sein Leben unwiderruflich verändert: Thomas Müntzer. Als Freund, Mitkämpfer, Weggefährte folgt er ihm bis ans blutige Ende des Bauernkrieges und entkommt als einziger aus dessen Umfeld dem Massaker von Frankenhausen.

Als Flüchtling, Agitator, Krieger, Revolutionär wandert er durch die Städte des deutschen Reiches, wird einer der Apostel des charismatischen Propheten Jan Matthys, gehört als eine Art militärischer Führer der Widertäufer zu denen, die sich im Februar 1534 in Münster gegen das Patriziat erheben und die Stadt erobern. Doch lange bevor der Aufstand niedergeschlagen wird, hat er die belagerte Stadt bereits wieder verlassen. Der Traum von der gerechten Gesellschaft nach dem Grundsatz Müntzers: „Omnia sunt communia“ (Alles gehört allen), hat sich in der Schreckensherrschaft des Jan van Leyden, der sich zum König des Neuen Zion krönen läßt, in eine blutige Karikatur verwandelt.

Im Haus des Antwerpener Dachdeckers und Freigeistes Lois Pruystinck (Eloi) erfährt sein Leben eine entscheidende Wendung. Eloi bringt ihn mit einem Ex-Banker der Fugger zusammen, der mit seinen einstigen Arbeitgebern noch eine Rechnung offen hat. Zusammen vollbringen sie den großen Coup und erleichtern die Finanziers der Fürsten und Päpste mit falschen Kreditbriefen um eine für damalige Verhältnisse unvorstellbare Summe.

Er ist nunmehr reich und kann es sich leisten, in Venedig das vornehmste Bordell am Ort zu eröffnen, Handel zu treiben mit verbotenen Büchern und ein Bündnis einzugehen mit der sephardischen Kaufmannsfamilie der Mingues, aus Spanien und Portugal vertriebene Juden, mit denen ihn ein ähnliches Schicksal von Flucht und Verfolgung verbindet.

Vor allem aber will er nun mit seinem großen Gegenspieler abrechnen – Q.

Hinter diesem Kürzel verbirgt sich ein Spion in den Diensten einer der zwielichtigsten Gestalten der ganzen Epoche: Giovanni Pietro Carafa, dem nachmaligen Gründer und erstem Oberhaupt der Heiligen Inquisition.

Q, der zunächst die Aufgabe hat, das Treiben der Reformatoren aus der Nähe zu beobachten, ist jedoch mehr als ein bloßer Spitzel. Er ist ein Mann mit strategischem Gespür, der frühzeitig erkennt, daß der soziale Aufruhr, der sich in Müntzer und den Widertäufern verkörpert, gefährlicher für die herrschenden Mächte ist als Luther und seine Anhänger.

So entwickelt er sich zum bösen Geist der Konterrevolution, der die Maske des Verbündeten annimmt, um seine Opfer zu hintergehen. Mit Briefen dient er sich Thomas Müntzer als Sympathisant aus den Reihen seiner Gegner an, um ihn im entscheidenden Moment durch falsche Informationen zu dem verhängnisvollen Schritt zu verleiten, sich dem Fürstenheer mit seinen Bauernhaufen in offener Feldschlacht zu stellen.

Ein Jahrzehnt später schleicht er sich bei den Münsteraner Widertäufern als Undercover-Agent ein und wiederholt sein Spiel.

Der Erzähler, der nichts als die Briefe Müntzers aus dem Inferno retten kann und deshalb frühzeitig von der Existenz eines Verräters weiß, braucht jedoch noch zwanzig Jahre, bevor er aus den kleinen Puzzle-Teilen, die sich im Lauf der Jahre ansammeln, ein hinreichend klares Bild seines Gegenspielers zusammensetzen kann: Und er entschließt sich zu einem kühnen Plan. Er bietet sich selbst als Köder an, um Q aus der Reserve zu locken, indem er als Widertäufer durch Oberitalien zieht und in seinen Predigten Botschaften versteckt, die nur Q entschlüsseln kann. Doch dieser ist ein schlauer Fuchs, und so beginnt ein atemberaubender Wettlauf, wer wen zuerst enttarnt – natürlich mit einer überraschenden Auflösung, die hier aber im Interesse derer, die das Buch noch lesen wollen, nicht verraten werden soll.

Q ist kein optimistischer Roman, und dazu gibt die Epoche, von der er handelt, auch keinen Anlass. Am Ende siegen die Mächte der Reaktion und der Intoleranz. Die sephardischen Juden sind auch im scheinbar weltoffenen Venedig nicht sicher und müssen am Ende das christliche Abendland verlassen und in das tolerantere, mittlerweile muslimische Konstantinopel ausweichen. Und mit Pietro Carafa besteigt die verkörperte Konterrevolution den Heiligen Stuhl und erweist sich, wie nicht anders zu erwarten, als fanatischer und engstirniger Papst.

Auch die Kompromissformel von Augsburg, Cuius regio, eius religio (Wes die Herrschaft, des die Religion), besagt nichts anderes, als das der Untertan zu glauben hat, was sein Herr ihm befiehlt, womit die durch Luthers Geste aufgeworfene Frage der Glaubens- und Gedankenfreiheit bis auf weiteres von der historischen Tagesordnung verschwunden ist. Die alten Mächte haben sich konsolidiert und nach einer Zeit des Aufruhrs zu einem neuen Arrangement gefunden.

Q und die Gegenwart

Auf die Frage, warum ihr Roman im frühen 16. Jahrhundert spiele, antworteten die Autoren, dass zu dieser Zeit die Moderne begonnen habe und damit alles, was heute im Verfall begriffen sei: Europa, Massenkommunikation, Polizeiapparate, Finanzkapital und Staat.

Tatsächlich ist es fast unumgänglich, einen so komplexen Roman wie „Q“ auch in Bezug auf die Gegenwart zu lesen. Bestimmte Parallelen etwa zwischen den Fuggern und den heutigen Finanzmärkten oder zwischen Buchdruck und Internet drängen sich unmittelbar auf, bleiben aber an der Oberfläche.

Der italienische Bewegungsveteran Franco „Bifo“ Berardi liest „Q“ hingegen als Parabel auf die Hoffnungen und Enttäuschungen der autonomen und libertären Bewegungen der 1960er und 70er Jahre. Erst der begeisterte Aufbruch aus erstarrten Verhältnissen, das Erleben und Erproben neuer Formen von Gemeinschaft, dann der Rückfall in den Dogmatismus, schließlich die Sackgasse von bewaffnetem Kampf und staatlicher Repression.

Doch das ist buchstäblich nur die halbe Wahrheit, d.h. trifft auf die erste Hälfte des Buches zu. Nachdem der Ich-Erzähler, weniger aus Überzeugung als mangels besserer Alternativen, dem Weg des Wiedertäufertums bis in seine äußersten, terroristischen und putschistischen Konsequenzen gefolgt ist, strandet er, politisch und moralisch gleichermaßen am Ende, in Antwerpen bei Eloi, der ihm eine andere Alternative weist. Eloi lebt mit Gleichgesinnten in Gütergemeinschaft, lehnt Gewalt ab und praktiziert eine Art Revolution des alltäglichen Lebens (unübersehbar haben hier die Interpretationen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ketzerbewegungen durch den Ex-Situationisten Raoul Vaneigem Pate gestanden). Mit Eloi erfolgt der Anstoß zu einer neuen Strategie. An die Stelle der direkten Konfrontation mit Adel und Klerus auf deren ureigenstem Gebiet, der Theologie und der militärischen Gewalt, tritt die Subversion der alten Mächte mit den Mitteln der neuen: Geldwesen und Buchdruck. Allerdings, soviel sei im Sinne der historischen Wahrheit gesagt, ist auch mit einer solchen strategischen Neuorientierung kein unmittelbarer Durchbruch zu erzielen. Mit Kreditbetrug sind die Fugger und die von ihnen ausgehaltenen Potentaten nicht in die Knie zu zwingen und die Ausbreitung neuer Gedanken lässt sich durch den Terror der Inquisition einstweilen noch erfolgreich eindämmen.

Unschwer sind hier die Bezüge zur Jetztzeit zu erkennen, von 1989 bis heute, der Übergangsperiode nach einer historischen Niederlage. Die großen politischen Mobilisierungen, aber auch die Dramen des bewaffneten Kampfes sind vorüber. An ihre Stelle sind diskretere, molekulare Formen einer fröhlichen Subversion getreten, das listig-ironische Unterlaufen der herrschen Werte und Zeichen. Ob dies allerdings mehr ist, als das Überwintern in schlechten Verhältnissen, ohne sich mit diesen zu arrangieren oder verrückt zu werden, muss sich erst noch herausstellen. Das Ende ist offen.