Von Ende Juli bis Anfang August 2003 reiste WRI-Mitarbeiter und Ex-GWR-Redakteur Andreas Speck in den Kaukasus - nach Georgien, Armenien, und Azerbaidschan - um sich dort mit Friedens- und Menschenrechtsgruppen zu treffen. Hier berichtet er über die Eindrücke von seiner Reise in eine Region irgendwo zwischen Krieg und Frieden. (Red.)
Als die ersten Ideen für eine Reise in den Kaukasus entstanden – im November 2002 – da war bereits klar, dass diese Region für die War Resisters’ International (WRI/Internationale der KriegsgegnerInnen) kein einfaches Pflaster sein würde. Die WRI verfügte in der Region nur über wenige Kontakte – u.a. die neue Sektion der WRI, War Resisters’ International Georgien – und die politischen Positionen dieser Kontakte waren nicht immer klar. Bereits bei der Erstellung der Kampagnenmaterialien zum Tag der Gefangenen für den Frieden 2002 zum Schwerpunkt Kaukasus und Zentralasien hatten sich diese Probleme gezeigt (1). In der Praxis war dann aber alles noch schwieriger als erwartet.
Nationalstaatliche Eigenbrötlerei
Die ersten Probleme ergaben sich bereits bei der Vorbereitung. In nur fünf Wochen mussten vier Visa beschafft werden (neben den drei Kaukasus-Ländern war für einen Zwischenstop in Moskau auch ein russisches Visum notwendig), woran sich die neue Kleinstaaterei und die geringe Kooperation der Kaukasus-Staaten untereinander zeigte (im Gegensatz zu den baltischen Staaten erkennen die Kaukasus-Staaten untereinander die verschiedenen Visa nicht an). Dies war nicht nur mühselig, sondern aufgrund der kurzen Zeit auch recht kostenaufwendig, mussten die Visa doch jedesmal zum oft doppelt so teuren Expresstarif beantragt werden (100 € für Armenien, 40 € für Azerbaidschan, und 450 € für ein Multi-Entry Visa für Georgien).
Neben den Problemen der Kleinstaaterei waren jedoch andere – politische – Probleme bedeutsamer. Trotz zahlreicher Versuche der Kontaktaufnahme mit Gruppen in der Region blieben Antworten oft aus. Eine konkrete Reiseplanung, mit konkreten Verabredungen zu Treffen, war somit kaum möglich. Letztlich blieb vieles der Organisation vor Ort überlassen, und nur weniges war klar, als ich am 26. Juli mit dem Flugzeug aus Moskau in Tbilisi, der Hauptstadt Georgien, eintraf.
Georgien – Angst vor dem „großen Bruder“ Russland
Georgien wurde in Folge der Wirren während des Putschversuches in Moskau 1991 unabhängig. Dem folgten jedoch zunächst unruhige Zeiten, und der Ausbruch von Straßenkämpfen in Tbilisi im Dezember 1991. Regionale, meist ethnisch definierte Konflikte brachen in Südossetien und Abchasien auf – der Konflikt um Südossetien wurde am 24. Juni 1992 mit einem Waffenstillstand zunächst eingedämmt, doch in Abchasien eskalierte es 1993, und trotz Waffenstillstand (überwacht im wesentlichen von russischen Armeeeinheiten, die wiederum von UNO-Friedenstruppen beobachtet werden) droht dieser Konflikt immer wieder zu eskalieren. Bis heute ist Abchasien de-facto unabhängig, auch wenn es außer von Russland von niemandem anerkannt wird. Verkehrstechnisch ist Abchasien bis heute vom Rest Georgiens abgeschnitten und lediglich von Russland aus zu erreichen.
In beiden Konflikten spielt Russland, der „große Bruder“ im Norden, eine Rolle. Georgien beschuldigt Russland immer wieder der Unterstützung der Unabhängigkeitskräfte in Abchasien, und auch der Autonomiebestrebungen Südossetiens. Es gibt immer wieder Forderungen an die UNO, das Mandat der UN-Beobachtermission in Georgien (UNOMIG) nicht zu verlängern, und die staatliche Einheit Georgiens mittels „robusten Peacekeeping“ a la Bosnien durchzusetzen – eine klare Aufforderung zum Krieg gegen Abchasien, die als Drohkulisse die de-facto Regierung Abchasiens zu Zugeständnissen bewegen soll.
Das Misstrauen gegenüber Russland, sowie die dubiose Rolle Russlands in Abchasien und Südossetien, führen zu einer breiten pro-NATO Stimmung in Georgien. Sowohl die derzeitige Regierung unter Präsident Schewardnardze, als auch alle wesentlichen Oppositionsparteien, streben mittelfristig das unrealistische Ziel einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens an.
Auch unter Menschenrechtsgruppen gibt es dagegen nur wenig Opposition. Das gleiche Bild zeigte sich beim Krieg gegen den Irak, der in Georgien breit unterstützt wurde. Mittlerweile hat Georgien sogar von der Bundesrepublik trainierte „Friedenstruppen“ in den Irak entsandt, um so symbolisch der willigen Unterstützung von US-Politik Ausdruck zu verleihen. Im Gegenzug bauen die USA derzeit am Rande Tbilisis eine große neue US-Botschaft – Symbol der Bedeutung Georgiens in strategischen US-Hegemonialkonzepten. Zweifellos gibt es jedoch auch bundesdeutsche Interessen in Georgien, anders lässt sich die Ausbildung georgischer Truppen durch die Bundesrepublik nicht erklären.
Pazifismus ist in Georgien nicht sehr populär. Als Folge des Konfliktes um Abchasien gibt es immer noch mehr als 250.000 Binnenflüchtlinge – meist GeorgierInnen, die bis heute nicht nach Abchasien zurückkehren können. Unter diesen führen leider Hardliner das Wort, die eine gewaltsame Lösung des Konfliktes in ihrem Sinne befürworten. Pazifismus tut sich da schwer. Während des Krieges gegen Irak war die georgische WRI-Sektion die einzige Gruppe, die kleine Demonstrationen gegen den Krieg organisierte, und auch jetzt für Pazifismus und Antimilitarismus eintritt.
Auch wenn Georgien das Recht auf Kriegsdienstverweigerung formal anerkennt, so ist das entsprechende Gesetz aber noch nicht implementiert. Trotzdem haben im letzten Jahr mehr als 300 Menschen einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gestellt – was mit ihnen geschehen ist, ist jedoch nicht klar. Der übliche Weg, den Militärdienst zu vermeiden, führt über Korruption – mittels Schmiergeldzahlungen wird entweder ein medizinisches Gutachten erwirkt, oder die Zurückstellung vom Militärdienst, bis letztlich das Höchstalter erreicht ist. Auch das Nicht-Anmelden des realen Wohnsitzes, so dass die Einberufung nicht zugestellt werden kann, ist eine übliche Praxis.
Während viele GeorgierInnen sich von Russland bedroht fühlen, stellt für viele in Abchasien oder Südossetien Georgien die Bedrohung dar. Abchasien unterhält eigene Streitkräfte, und ein striktes Wehrpflichtsystem. In Abchasien ist es nahezu undenkbar, sich gegen Militarismus auszusprechen, und der WRI ist es bisher auch nicht gelungen, in Abchasien Kontakte aufzubauen. In den letzten Jahren wurden einige Zeugen Jehovas aufgrund ihrer Kriegsdienstverweigerung inhaftiert.
Armenien – gefangen in der Vergangenheit
Von Tbilisi aus reiste ich zusammen mit Ucha Nanuashvili von WRI-Georgien nach Jerewan, der Hauptstadt Armeniens. In Armenien war es sehr schwer überhaupt Gruppen zu finden, die dazu bereit waren, sich mit uns zu treffen – ein erstes Indiz, das es um Pazifismus in Armenien noch schlechter bestellt ist als in Georgien. Armenien ist auch das einzige Land in der Region, in der sich Kriegsdienstverweigerer im Gefängnis befinden – derzeit sitzen 24 Zeugen Jehovas Haftstrafen zwischen 1½ und 3 Jahren ab, weitere sieben warten auf ihr Verfahren, vier davon befinden sich derzeit in Haft (2).
Die politische Situation in Armenien hängt eng mit dem nicht verarbeiteten Völkermord an ca. 1.5 Millionen Armenien durch die „Jungtürken“ in der heutigen Türkei – sowie dem Konflikt um Nagorni-Karabach zusammen. Zu Sowjetzeiten war Nagorni-Karabach eine autonome Region innerhalb der Republik Azerbaidschan, doch bereits 1988 – noch zu Zeiten der Sowjetunion – kam es um Nagorni-Karabach zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Seit dem Krieg zwischen Armenien und Azerbaidschan in den frühen 90er Jahren ist Nagorni-Karabach de-facto eine unabhängige Republik, anerkannt jedoch nur von Armenien, und von diesem auch vollständig abhängig. Truppen aus Karabach und Armenien kontrollieren ca. 20% des Territoriums Azerbaidschans, doch seit 10 Jahren besteht ein Waffenstillstand – der einzige in der Region, der nicht von internationalen BeobachterInnen kontrolliert wird, und trotzdem Bestand hat.
Auch in Armenien ist Korruption der wesentliche Weg, den Militärdienst zu vermeiden. Die Gründe liegen wesentlich in den schlechten Bedingungen im Militär, und weniger im Pazifismus. Das armenische Komitee der Soldatenmütter ist um diese schlechten Bedingungen sehr besorgt – doch im Unterschied zu den russischen Soldatenmüttern bemühen sie sich nicht darum, ihre Söhne aus dem Militär herauszuholen. Stattdessen sehen sie diese schlechten Bedingungen als ein Hindernis für ein stärkeres armenisches Militär an, und daher als unpatriotisch. Scheinbar hätten sie wenig Probleme, wenn ihre Söhne im Krieg gegen Azerbaidschan fallen würden – doch eben nicht unpatriotisch aufgrund der schlechten Zustände in den Kasernen.
Die Vergangenheit ist in Armenien noch präsent. In Jerewan gibt es eine Völkermord-Gedenkstätte, und die Leugnung des Völkermordes durch die Türkei – bis heute (!) – verkompliziert die politischen Beziehungen zur türkischen Republik. Die geringe internationale Aufmerksamkeit für den Genozid an den Armeniern macht die Verarbeitung dieser Vergangenheit umso schwerer – eines der Themen des Filmes Ararat, der kürzlich in den Kinos zu sehen war. Dies spielt auch im Konflikt um Nagorni-Karabach eine Rolle, denn die (angebliche) Bedrohung der „armenischen Nation“ verfängt umso besser, umso blockierter eine offene Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist.
Es war mir dieses Mal leider nicht möglich, Nagorni-Karabach selbst zu besuchen. Dort ist nach meinem Kenntnisstand die Situation um vieles schlechter, und eine Situation permanenter militärischer Mobilmachung lässt Kritik verstummen. Die Republik Nagorno-Karabach unterhält ebenfalls ein sehr striktes Wehrpflichtsystem, doch ist über Kriegsdienstverweigerer derzeit nichts bekannt.
Azerbaidschan – Öl und Flüchtlinge
Die Situation in Azerbaidschan ist teilweise ein Spiegelbild derjenigen in Armenien. Über Frieden zu reden wird dort angesichts der Besetzung von 20% des Territoriums durch Armenien als eine Aufforderung verstanden, dieses Territorium endgültig abzuschreiben, und Armenien bzw. Nagorni-Karabach zu überlassen. Bis heute gibt es in Azerbaidschan ca. 1 Million Binnenflüchtlinge – bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 8 Millionen – die meisten von ihren aus den Gebieten um Nagorni-Karabach, die in der Vergangenheit von Azeris besiedelt waren, aber jetzt von armenischen Truppen besetzt sind. Diese Gebiete sind heute nahezu vollständig entvölkert, da ArmenierInnen bis heute dort nicht siedeln.
Trotz Nationalismus, Militarismus, und einer starken anti-armenischen Stimmung ist die Bereitschaft zum Militärdienst nicht unbedingt sehr ausgeprägt. Doch wie überall in der Region ist der Weg der am Militär vorbei führt meist die Korruption. Kriegsdienstverweigerer finden sich daher derzeit nicht in den Gefängnissen Azerbaidschans, doch nahezu 2.000 Wehrflüchtige und Deserteure im Gefängnis zeugen von den schlechten Bedingungen im Militär – und dem je nach Bildungsstand und Einkommen unterschiedlichem Zugang zum „Ausweg“ der Korruption.
Wie Georgien lehnt sich Azerbaidschan an den Westen an, und ebenfalls an die Türkei. Dies kann zum Teil als Antwort auf die Verteidigungsallianz zwischen Armenien und Russland angesehen werden. Die bedeutenden Öl- und Gasvorkommen Azerbaidschans machen es sicherlich zu einem für den Westen sehr interessantem Land – der Bau der Pipeline von Baku in Azerbaidschan über Georgien nach Ceyhan in der Türkei ist ein Zeugnis diesen Interesses, und soll den Fluss des Schwarzen Goldes in den Westen sicherstellen, unter Umgehung Russlands. Vom Ölreichtum kommt jedoch in den ländlichen Regionen Azerbaidschans wenig an – und noch weniger bei den 1 Million Flüchtlingen. Letztere hängen im wesentlichen von internationalen humanitären Organisationen ab, und erhalten immer weniger staatliche Unterstützung in Azerbaidschan. Bis heute leben viele in Flüchtlingslagern, teilweise noch immer in Zelten oder in ausrangierten Eisenbahnwaggons.
Epilog
Eldar Zeynalov vom Azerbaidschanischen Menschenrechtszentrum in Baku fragte mich bei unserem Treffen in Baku offen: „Warum sind KriegsgegnerInnen nicht an den Konflikten in der ehemaligen Sowjetunion interessiert?“ Ich muss zugeben, dass ich darauf nicht viel zu antworten hatte. Ich denke, zum einen mag das mit Unkenntnis zu tun haben – viele Menschen, selbst innerhalb der Friedensbewegung, haben zwar ein vages Wissen, dass es im Kaukasus oder anderswo in der ehemaligen Sowjetunion Konflikte oder Kriege gibt, doch da hört es dann meistens schon auf. Ein anderer Grund liegt möglicherweise in fehlenden Identifikationsmöglichkeiten: in diesen Ländern gibt es leider nahezu keine Friedensbewegung, die als Kristallisationspunkt von Solidarität von Seiten westlicher Friedensbewegungen dienen könnte.
Dies spielte z.B. auf dem Balkan eine wichtige Rolle.
Doch ich habe auch den Verdacht, dass diese Konflikte häufig nicht das Bedürfnis nach einfachen Denkmustern und Feindbildern (!) befriedigen, dass auch in der Friedensbewegung vorhanden ist. Weder plumpes Anti-deutsch, noch Anti-US helfen hier weiter – die Konflikte sind komplexer, und zahlreiche lokale, regionale, und globale Interessen sind hier verwoben. „Gut“ und „böse“ sind da nicht immer leicht auszumachen.
Die War Resisters’ International wird sich bemühen, mit den Gruppen, mit denen wir nun Kontakt aufgenommen haben, auch weiterhin Kontakt zu halten, und mit denen, die an der Stärkung einer Friedensbewegung im Kaukasus interessiert sind, in Zukunft zusammenzuarbeiten. Das muss sicherlich wesentlich breiter angelegt sein als nur auf Kriegsdienstverweigerung, und muss sich viel tiefer mit dem Wurzeln von Militarismus und Nationalismus in der Region beschäftigen. Das ist keine leichte Aufgabe – doch wer hat denn geglaubt, das der Friede billig zu haben ist?
(1) Siehe "Das Zerbrochene Gewehr" Nr. 56 (Beilage zur Graswurzelrevolution Nr. 274, Dez. 02)
(2) Diese Zahlen beruhen auf Angaben der Helsinki Association for Human Rights, Stand Ende Juli 2003.
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