Helga (*1935) und Wolfgang (*1929) Weber-Zucht betreiben in Kassel den gewaltfrei-libertären Verlag Weber & Zucht.
Helga hat sich in den 50er Jahren bei der Naturfreundejugend engagiert. Weitere Stationen ihres politischen Engagements waren von 1964 bis 1966 hauptberuflich der Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK) und die Ostermarschbewegung.
Wolfgang war ab 1958 aktives Mitglied der Internationale der Kriegsdienstgegner und des VK. 1965 war er Mitherausgeber der in Hannover publizierten "Direkten Aktion - Blätter für Gewaltfreiheit und Anarchismus", einer Vorläuferin der "Graswurzelrevolution". Ende der 60er Jahre lebten Helga und Wolfgang in London, wo sie vier bis fünf Jahre u.a. für die War Resisters' International (WRI) arbeiteten. 1973 kehrten sie nach Deutschland zurück, beteiligten sich an der 1972 gegründeten Graswurzelrevolution (GWR) und gründeten zusammen mit Leuten aus dem Kreis um die Zeitung die Graswurzelwerkstatt. Heute gehören sie noch immer zum GWR-HerausgeberInnenkreis.
Von 1974 bis 1978 war Helga zweite Vorsitzende und von 1978 bis 1985 Ratsmitglied der WRI. Als Graswurzelwerkstatt-Arbeiter fungierten Helga und Wolfgang von Juli 1974 bis Dezember 1980 als Herausgeber des Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren, der zuvor von der Gewaltfreien Aktion Betzdorf unter etwas anderem Namen erschienen war. Wolfgang übernahm als Graswurzelwerkstattarbeiter 1980/81 einmal die deutsche und dann die internationale Koordination für den Internationalen Gewaltfreien Marsch für Entmilitarisierung. 1982 schieden beide aus der Werkstatt aus, die in Göttingen und später in Köln weitergeführt wurde. Von 1992 bis 1995 waren Helga und Wolfgang MitherausgeberInnen des Graswurzelrevolution-Kalenders.
Teil 1: Interview mit Helga
GWR: Liebe Helga, wie hast Du Dich politisiert? Was waren wichtige Ereignisse in Deinem politischen Leben?
Helga: Wie ich politisiert wurde oder ob ein Ereignis ein wichtiges im politischen Leben war, wurde mir oft erst im Rückblick deutlich. Es fing ja ganz unpolitisch an, wollte ich grad sagen – und merke gleich, daß das schon zu kurz greifen würde.
Als ich knapp 15 war, zogen wir 1949 nach Krieg und Evakuierung zurück nach Kassel. Meine Eltern hatten zu ihren alten Freunden aus der Vorkriegs-Arbeiterjugend noch Kontakt und haben ganz bewußt dafür gesorgt, daß ich mich deren Tochter bei der Naturfreundejugend anschloß. Ganz sicher war das der erste Schritt in die „linke Richtung“ – von meinen Eltern aus ihrer eigenen Sozialisierung her so gewollt, ohne daß ich damals abschätzen konnte, welche Bedeutung das hatte.
Diese alten Freunde und wir wohnten ziemlich nah beieinander, alle in selbstgebauten winzigen Behelfshäuschen mitten in intensiv betriebenen Gemüsegärten, mit langen Wegen bis zum öffentlichen Nahverkehr. Es war toll, so schnell Anschluß zu finden.
Wandern, singen, tanzen, Theater spielen, Musik aus anderen Ländern, und am Wochenende mit Rad und Zelt „auf Fahrt gehen“ – wenn ich nicht grad Trümmersteine sauberklopfen mußte für unser nächstes Zimmer. Diese Selbstversorgung und das Haus Marke Eigenbau waren, wenn auch unter leichtem elterlichem Zwang (denn lieber wär ich an allen Wochenenden auf Fahrt gegangen), auch eine Prägung, die mich nicht mehr losgelassen hat. Dazu kamen später die Erkenntnisse aus der Ökologie- und 3.Welt-Bewegung, die das noch festigten: Gemüse und Obst für sich selbst und ohne Gift anbauen, die Welt nicht durch den eigenen Lebensstil belasten.
Es dauerte nicht lang, bis die Naturfreundejugend anfing mit der Aufarbeitung der Nazizeit. Wir waren in den Städten noch umgeben von Trümmern, die Familien trauerten um Vieles: Gefallene, im Konzentrationslager Umgekommene, zerbombte Häuser, verlorene Heimat, vergewaltigte Töchter, Verlust von Hab und Gut, keine Arbeit. Wir Jugendlichen mußten begreifen lernen, wieso es dazu gekommen war.
Die Naturfreunde, wie so viele während des „Dritten Reiches“ verbotene Organisationen, entwickelten eine Jugendarbeit von einer tollen Bandbreite: Aufklärung über die Nazizeit, den Krieg und alles, was damit zu tun hatte. Fahrten zu den Konzentrationslagern Buchenwald und Auschwitz – das hat uns sehr mitgenommen, geprägt, Alpträume verursacht. Meine Eltern waren knapp verschont geblieben, wenn sie auch als frühere Mitglieder der KPD und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes immer wieder bespitzelt worden waren und in Angst gelebt hatten. Viele ihrer Freunde hatten es nicht überlebt. Wir begriffen: das alles darf nie wieder passieren. Aber auch Literatur, Kunst, alles was während der Nazizeit unterdrückt war oder sich eben in der Nachkriegszeit entwickelte, war Teil unserer Gruppenarbeit. Ich denke immer noch mit Bewunderung daran zurück. Nicht nur an das Programm, sondern an diese jungen Männer und Frauen, die fast ihre ganze Freizeit dafür gaben. So scheint es mir im Rückblick zumindest. Sie fuhren nach der Arbeit, auch bei Schnee und Eis, z.B. von Frankfurt nach Kassel und wieder zurück, um zu organisieren, politische Ideen vorzustellen, über Gruppendynamik oder sexuelle Erziehung zu referieren, über Nachtwanderungen oder Sportfeste – oder einfach nur, um mit uns zu singen. Was alles so dazu gehört, zur Jugendleiterausbildung. Ich kam aus dieser kleinen Zwergschule. 15 Kinder gabs im Dorf, einschließlich der Flüchtlinge und Evakuierten, alle Jahrgänge gleichzeitig in einer Klasse! Und konnte nun meinen Horizont erweitern, obwohl ich zu keiner „Höheren“ Schule hatte gehen können.
Viele dieser Jugendlichen, die wie ich durch diese Gruppenarbeit solidarisches Gemeinschaftsgefühl entwickelten, wurden zwar auf der politischen Schiene, aber auch auf ganz viel anderen unterschiedlichen Empfindungsebenen berührt, was vielleicht dazu geführt hat, daß ich jetzt nach rund 50 Jahren noch immer viele von ihnen aktiv in sozialen Bewegungen oder auch noch direkt bei den Naturfreunden sehe.
Und zu einer Zeit, als wir lernten, daß sich Krieg und Faschismus nicht wiederholen dürfen, begannen bereits die Planungen für die Wiederaufrüstung. Die Naturfreundejugend schien immer mit zu den Aktiven und den Machern zu gehören, zumindest in Hessen. Sie war intensiv beteiligt am Widerstand gegen die Remilitarisierung. Bei einer der Demos in Frankfurt bin ich voll Empörung und tief bewegt auf offener Straße der Gruppe der Kriegsdienstverweigerer beigetreten, indem ich die WRI-Erklärung unterschrieb:
„Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich bin daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung seiner Ursachen zu kämpfen.“
Ich sehe noch den Freund aus einer der südhessischen Gruppen vor mir, der mich „geworben“ hat, obwohl ich keine Ahnung von der WRI hatte und kein eigenes Theoriegebäude im Hinterkopf. Es war der Zorn darüber, daß DIE schon wieder anfingen, die Leute auf Kriege einzustimmen.
Also, so eine Unterschrift ist ja nichts Weltbewegendes. Den Text hätte ich u.U. sogar vergessen, wenn ich nicht viel später so eng mit der WRI zu tun gehabt hätte. Aber es war ein ganz eigenständiger Schritt für mich, außerhalb der Gruppe und in einer Zeit, da es ja noch die sogenannten „Ohnemichel“ gab, diejenigen, die nie wieder etwas unterschreiben wollten, wenn ihre Unterschrift für die Nazis ihnen so übel genommen würde. Daraus haben viele abgeleitet, sich nie mehr für etwas zu engagieren. So eine Selbstverpflichtung hat schon eine eigene unsichtbare Dynamik – ich kann sie nicht mehr ungeschehen machen. Ja, und auch heute noch, mehr als 45 Jahre später, piekst sie mich ständig, weil ich nicht mehr tue gegen alle diese Kriege – und gegen vieles andere.
Welchen Platz ich dabei einnahm? In meiner Erinnerung immer beim „Fußvolk“: Infostände vor Ort, argumentieren lernen gegen den immerwährenden Spruch „Geht doch nach Drüben, wenn’s Euch hier nicht paßt!“, Flugblätter verteilen (nicht von mir geschrieben), Spenden sammeln, Mitstreiter finden, Protokolle und Gruppenrundbriefe schreiben, Abzeichen verkaufen. Ich war nie bei den Maßgebenden und Ideenschmiedern. Aber so ganz einfach dürfte es für Frauen damals auch bei den Kriegsdienstverweigerern und dem Ostermarsch nicht gewesen sein, in die „Chefetage“ aufzusteigen. Nie habe ich vergessen, wie einer der jungen Männer bezüglich einiger schon etwas älterer, aber sehr aktiver Frauen herablassend meinte, sie wollten sich nur abreagieren, weil sie keine Männer hätten. Und Frauen und Mädchen wurden einerseits kritisiert, weil sie angeblich in den KDVer Organisationen nur als Freundinnen mitkamen, und andererseits, weil viele nicht sahen, was ein weibliches Wesen in so einer männlichen Gruppe von KDVern zu suchen hat. Es gab ja für Frauen keine Wehrpflicht. Ich hoffe, diese Ansichten sind heute Schnee von gestern.
Ich war trotzdem mit Überzeugung dabei, immer aus der Gruppenarbeit der Naturfreundejugend heraus: bei landesweiten Demos der ersten Anti-Atombewegung, mit nur wenigen hundert Teilnehmern, die in großen Abständen liefen, damit’s nach mehr aussah. Bei den Ostermärschen der frühen 60er Jahre waren wir dann 15.000 zum Schluß am Frankfurter Römer – das MUSS doch Einfluß haben auf die Politiker, gab einer der Redner damals seiner Hoffnung Ausdruck.
Alle diese Aktivitäten bewirkten, daß ich mich nach außen nur darüber und nie über Beruf und Arbeitsplatz definierte. Über die tieferen Gründe läßt sich nur spekulieren. Vielleicht lag es daran, daß ich von meiner Ausbildung her ja „nur“ Stenotypistin war. Viel später, Anfang der 90er, war ich einige male Abteilungssekretärin. Das klang besser, war aber nur mehr Arbeit, nicht mehr Ehre. Ich glaube, als Arbeiterkind wollte ich in normalen Firmen nicht so mitziehen und „das kapitalistische System unterstützen“. Auch dies ein Teil der Politisierung. Möglicherweise sogar eine Spätfolge der Schulungen über Marx, Engels und Mehrwert. Eine Unlust am normalen Geschäftsbetrieb, der von mir immer als kapitalistisch und damit verwerflich eingeschätzt wurde. Jetzt bin ich schon lange Rentnerin und darf das mal so öffentlich preisgeben, da ich keine Stelle mehr suche und sicher auch trotz Verlängerung der Lebensarbeitszeit nicht mehr zwangsverpflichtet werde.
Ich hatte schon 14 Berufsjahre in der ganz gewöhnlichen Arbeitswelt, bei kleinen Krautern, großen Konzernen, einem Verein und einer Behörde hinter mir, als der „Umschwung“ kam. Ohne diese Berufserfahrungen in der Einöde von Diktate aufnehmen und tippen hätten meine späteren „Arbeitgeber“ kaum Verwendung für mich gehabt. Denn zum Glück gehört es auch zu den wichtigen Ereignissen in meinem Leben, daß mir einige interessante Arbeitsplätze in den Schoß gefallen sind, sie wurden an mich herangetragen: die Jahre 1964 bis 1966 in Offenbach für den Ostermarsch und in der Bundesgeschäftsstelle beim Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK). Und ebenso die fünf Jahre im WRI-Büro in London wie auch später die acht Jahre Arbeit für die Gewaltfreien Aktionsgruppen in der Graswurzelwerkstatt.
Die Zeit im WRI Büro und in England überhaupt brachte mich mit so viel unbekannten Ideen in Berührung. Wie sehr uns das bewegte und bereicherte, geht aus dem hervor, was Wolfgang dazu sagt. Außer den WRI-Leuten lernten wir z.B. John Papworth kennen, den Mitbegründer der Zeitschrift Resurgence. Schon damals sprach er darüber, daß es eines Tages Kriege um knapper werdende Wasservorräte geben werde – ein Thema, das hier erst jetzt langsam ins Bewußtsein dringt.
Als wir nach unserer Rückkehr für die Gewaltfreien Aktionsgruppen zu arbeiten begannen, hatte ich vorher keine Vorstellung davon, welch aufregende Zeiten wir vor uns hatten. Viele gwr-LeserInnen sind ja mit der Zeit ab 1974 selbst noch vertraut. Was wir als besonders weitreichend empfanden waren die Selbstorganisation der Gruppen, das Bemühen um Gleichberechtigung, um gemeinsam erarbeitete Entscheidungsprozesse, die Erkenntnis, daß es sich bei Abstimmungen nicht um demokratisches Vorgehen handelt, wenn die Mehrheit mal grad aus 51 % besteht, die sorgfältige Vorbereitung und öffentliche Bekanntmachung von Aktionen – das waren Entwicklungen, für die wir sehr gern gearbeitet und das Büro in unsere kleine Küche gequetscht haben.
GWR: Wie habt Ihr Euch kennen und lieben gelernt?
Helga: Ganz romantisch. Wir scherzen gern und sagen: Wir haben unser Herz in Heidelberg verloren, auf dem berühmten Schloß. Das war 1964 durch meine Arbeit beim VK, der für die WRI eine Studienkonferenz in Offenbach organisierte (mit Ausflug nach Heidelberg). Wolfgang war einer der Teilnehmer. Er war nicht nur am Thema, sondern – für mich unerwartet – auch an mir interessiert, und das mit einem ganz besonderen Charme, dem ich mich nicht verschließen konnte. Aber viele seiner politischen Vorstellungen waren völlig anders als meine, so daß bei stundenlangen Diskussionen meine Antworten alle mit „Ja, aber…“ anfingen – kein Wunder, vom Anarchismus hatte ich bis dahin noch nichts gehört. Die Jahre im Büro der WRI in London und das Bekanntwerden mit der weltweiten gewaltfreien Bewegung haben dann auf meine Vorstellungen einen großen Einfluß gehabt – und dabei die Anzahl meiner „Ja, aber“ beträchtlich verringert. Und lieben gelernt? Abgesehen von dem anfänglichen Verliebtsein erfahre ich das als einen lebenslangen Prozeß, der sich zum Glück bisher ständig wiederbelebt hat. Eine der ganz schönen Erfahrungen, die hoffentlich noch lange anhält.
GWR: Ihr habt gerade ein neues Buch verlegt: „Ziviler Widerstand im Kosovo“ von Howard Clark (siehe Kasten auf dieser Seite). Welche Motivation hattet Ihr, dieses Werk zu produzieren?
Helga: Wir kennen Howard seit Jahrzehnten und wußten, daß er durch seine Arbeit bei der WRI und mit dem Balkan Peace Team sehr viel Zeit im Kosovo verbracht hatte. Und diese intime Kenntnis der Geschehnisse, der Möglichkeiten und Versäumnisse, von Mühen und Erfolgen sollte recht vielen Menschen zugänglich sein, dachten wir, besonders auch für die gewaltlose Bewegung. Auf deutsch gab es bisher zum Kosovo keine Veröffentlichung, die uns die Details und Möglichkeiten solch überwältigender Mobilisierung hätte vermitteln können. Und auch, wenn wir die Internationale Politik und die NATO schon immer mit Mißtrauen betrachtet haben, ist es hilfreich, hier nochmal aufgelistet zu finden, was an welchen Stellen ganz anders hätte laufen können.
Dazu kamen einige Beobachtungen bei der Dreijahreskonferenz der WRI in Kroatien. Wir hörten Berichte von einem Student aus dem Kosovo, von Männern und Frauen aus Kroatien und einigen anderen jugoslawischen Ländern. In Arbeitsgruppen und Plena wurde heiß diskutiert, sogar der Wunsch, die NATO möge endlich eingreifen – und das bei einer Konferenz von Pazifisten! Die Diskussionen waren sehr hitzig. Die Jugoslawen vor allem hatten auf ein solidarisches Signal aus der Konferenz gehofft. So schien es manchem, ein solcher Beschluß hätte den Kosovo retten können. Welche Fehleinschätzung. Natürlich konnte hier nicht für einen Krieg votiert werden. Es blieben zahllose Fragen offen, wie dieser Krise beizukommen wäre, obwohl so viele der Teilnehmer aus ähnlichen Krisengebieten kamen oder jahrzehntelange Erfahrungen in sozialen Bewegungen und mit gewaltfreier Gesellschaftsveränderung hatten.
Und viele der jugoslawischen Teilnehmer – verletzt und aufgewühlt von ihren Kriegserlebnissen – sind wohl sehr frustriert nach Hause gefahren. Das schmerzte alle.
Zwar versuchte ich danach, so viel wie möglich zu verstehen über die Situation im Kosovo, auch im Vorfeld der Bombardierungen und natürlich danach. Obwohl ich u.a. die gelegentlichen Berichte von Howard Clark zum Kosovo las und viele Informationen hatte durch Gespräche mit einem guten Freund, der sich sehr im und für den Kosovo einsetzte, blieb das Gefühl, nicht genug zu verstehen.
Als wir nach dem Krieg hörten, daß Howards schon vorher geschriebenes Buch jetzt erscheinen sollte, dachten wir, daß es gut in unser Programm passen würde. Um ganz besonders die Jahre des Zivilen Widerstands im Kosovo auch ein paar Jahre danach noch mal nachlesen, für die Zukunft aufbewahren und auch anwendbar machen zu können. Das schien uns ganz wichtig.
Ich finde es toll, daß es jetzt erhältlich ist, daß wir dank dem Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung finanzielle Unterstützung erhielten von der Deutschen Stiftung Friedensforschung, die uns bei den Druck- und Übersetzungskosten unter die Arme griff. So ist uns die Entscheidung, das Buch übersetzen zu lassen, auch leicht gefallen. Für Menschen in sozialen Bewegungen, besonders in der gewaltfreien Bewegung, enthält es eine solche Fülle von Details, die einem die Augen öffnen für die Einschätzung dessen, was in einer Gesellschaft mit wessen Hilfe entgegen allen Unkenrufen leistbar, vielleicht sogar veränderbar ist.
Ein besonderer und folgenreicher Aspekt ist dabei die Kampagne zur Beendigung der Blutfehden, wovon ich nichts gewußt hatte. Howard schreibt, daß die Blutrache der Fluch des Kosovo war, daß noch Ende der 1980er Jahre das Leben von 17.000 Männern davon bedroht war, daß viele von ihnen für Jahrzehnte ihre Häuser nicht mehr verließen aus Angst, ermordet zu werden oder morden zu müssen. Wenn es keine Männer mehr gab in einer Familie, mußten die Frauen die Blutrache fortführen. Man könnte sich denken, daß alle den Wunsch hatten, das abzuschaffen. Aber es bedurfte vieler Diskussionen und guten Zuredens von Familie zu Familie, von Dorf zu Dorf, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Betroffenen gegenseitig verzeihen konnten.
Das Jahr 1990 war zum Jahr der Aussöhnung erklärt worden. An den Wochenenden reisten Anton Cetta und viele andere in die Dörfer zu betroffenen Familien. Ein Jahr lang ist die Photographin und Hochschullehrerin Lala Meredith-Vula mit ihm umhergereist. Ihr Umschlagbild zeigt eine Versammlung von einigen tausend Menschen in Xhonaj im Kosovo am 2. Mai 1990. Am gleichen Tag an anderer Stelle waren es fast 500.000, nach Schätzung von Anton Cetta, Leiter der Kampagne, von der die Leute nur vom Hörensagen wußten. Sie kamen tagelang vorher, in langen Fußmärschen, ohne vorherige Anzeigen, Einladungen oder Rundbriefe, ohne zu wissen, wo genau sie hin müßten. Alle kamen als Betroffene und als Zeugen. Die beiden Vertreter von je zwei verfeindeten Familien traten vor und versprachen sich öffentlich in die Hand, „dem Blut zu verzeihen“, d.h. die Blutfehde zu beenden.
Natürlich präsentiert Howard auch Situationen, Vorgänge und Ideen, denen nicht gleich das Herz zufliegt, sondern die beachtliche Herausforderungen darstellen. Aber ich glaube, besonders sein letztes Kapitel, die Überlegungen zum zivilen Widerstand, wird immer wieder gelesen werden. Er sagt dort u.a., daß vor allem ein Gefühl der Befähigung notwendig ist, also das Gefühl, daß man etwas zur Gestaltung der Gesellschaft, in der man lebt, beitragen und den Verlauf der Auseinandersetzung, in die man verwickelt ist, verändern kann. Hier scheint mir die wesentliche Herausforderung und vor allem die Chance für die Zukunft zu liegen, den Menschen dieses Gefühl der Befähigung vermitteln zu können – egal wo auf dieser Erde. Und diese weitreichende Wirkung wünsche ich dem Buch und uns allen.
GWR: Herzlichen Dank!
Helga: Ja, lieber Bernd, ganz unsererseits. Dir auch herzlichen Dank, daß Du uns die Chance gegeben hast, selber noch ein bißchen über all diese Fragen nachzudenken.
Anmerkungen
Die Interviews mit Helga und Wolfgang wurden/werden über E-Mail geführt. Teil 2 erscheint voraussichtlich in GWR 285.