Genau am 65. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 meldet die IG Farben i.A. ihren Konkurs. Damit ist die Frage nach den Geldern zur Entschädigung der Opfer beantwortet.
Auf der Hauptversammlung am 17. September 2001 wurde durch den Liquidator und Bundestagsabgeordneten der CDU Otto Bernhardt das Jahr 2003 als Zeitpunkt bekannt gegeben, bis zu dem das Unternehmen vollständig abgewickelt sein sollte (dpa, 17.09.2001). Das ließ hoffen, daß das Restvermögen endlich den Opfern der Zwangsarbeit zuteil wird. Denn bisher versuchte die Abwicklungsgesellschaft, die Liquidation hinauszuzögern, solange Masse vorhanden ist. Das Vermögen schrumpfte ohnehin von Jahr zu Jahr, indem Pensionen an ehemalige leitende Angestellte bezahlt wurden, obwohl diese Angestellten teils Angeklagte der Nürnberger Prozesse waren.
Noch vor zwei Jahren betrug das Vermögen mehrere Millionen Euro. Und jetzt kommt die unglaubliche Pressemeldung: Das Unternehmen IG Farben in Abwicklung ist zahlungsunfähig. Die IG Farben hat ihr Restvermögen endgültig vernichtet und damit die Zwangsarbeiter ein weiteres Mal betrogen. Damit haben die Liquidatoren, die Aufsichtsräte und die Aktionäre ihr lang angestrebtes Ziel erreicht.
Nachdem die Alliierten Anfang der fünfziger Jahre den weltgrößten Chemiekonzern IG Farben in seine anfänglichen Bestandteile Agfa, BASF, BAYER, Höchst usw. zurückgeführt hatten, ist für die Abwicklung des Restvermögens und weiterer Beteiligungen die IG Farben in Abwicklung gegründet worden. Sie ist der Rechtsnachfolger des ehemaligen Chemiekonzerns IG Farben – eines der kriminellsten Unternehmen überhaupt. Und dieses Unternehmen befindet sich schon seit fünf Jahrzehnten in Abwicklung, obwohl es schnellstens aufgelöst werden sollte. Seine Hauptversammlungen fanden in den vergangenen Jahren nur noch unter großem Protest und dem mächtigen Aufgebot der Polizei statt. Während bis in die 80er Jahre die Hauptversammlungen in den großen, schicken Frankfurter Hotels abgehalten wurden, will inzwischen der IG Farben in Abwicklung kein Hotelier mehr Räumlichkeiten zur Verfügung stellen. Mit diesem Unternehmen will außer den schäbigsten Profiteuren niemand mehr etwas zu tun haben.
In Auschwitz beteiligte sich die IG Farben an dem Programm ‚Vernichtung durch Arbeit‘, indem sie tausende Zwangsarbeiter ausbeutete. Viele der Zwangsarbeiter haben das Zwangsarbeiterlager nicht mehr lebend verlassen. Die IG Farben hatte aber auch Anteil an der Ermordung der Juden, der Sinti und Roma, der Kommunisten, der Homosexuellen: IG Farben gehörte eine Beteiligung von mehr als 42 % an der Firma Degesch. Degesch produzierte das Gift Zyklon B. Mit diesem Gift wurden Millionen Menschen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern vergast.
Als Grund für die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der IG Farben i.A. und für den damit einhergehenden Insolvenzantrag nennen die Liquidatoren offene Forderungen in Höhe von nicht ganz neun Millionen Euro an den Frankfurter Immobilien- und Beteiligungskonzern WCM. Die Forderung der IG Farben an WCM beruht auf einem Optionsvertrag aus dem Jahr 2001. „Der Optionsvertrag sicherte I.G. Farben das Recht, ihr in einer Tochtergesellschaft gebündeltes Immobilienvermögen von 479 Wohnungen an die WCM zu verkaufen. Der Bilanzwert liege bei 38,4 Millionen Euro, gemindert durch 28,2 Millionen Euro Kredite. Auf den Rest von 10,2 Millionen Euro habe WCM bereits einen Abschlag von 1,261 Mio. Euro gezahlt. Ein zweiter versprochener Abschlag sei aber bis vergangenen Freitag nicht eingegangen.“ (Oltner Tagblatt, 11.11.2003) Doch WCM sieht das anders und bezeichnet die Forderung der Liquidatoren als überhöht, weil sich der Zustand der Wohnungen verschlechtert habe. Zum andern behauptet WCM, für den Kauf dieser Immobilien existiere kein ausführlicher Vertrag, sondern nur eine grundsätzliche Vereinbarung. Dagegen hält der Anwalt und IG-Farben-Liquidator Volker Pollehn ein an ihn gerichtetes Schreiben der WCM vom April 2001, worin laut der Nachrichtenagentur Reuters WCM erklärt: „Die WCM Beteiligungs- und Grundbesitz AG hat sich Ihnen gegenüber unwiderruflich bereit erklärt, 94 Prozent der Gesellschaftsrechte der AWM Verwaltungsgesellschaft mbH & Co Wohn- und Gewerbebauten KG von Ihnen bzw. von der Gesellschafterin Ammoniakwerke Merseburg GmbH bis spätestens zum 1. Januar 2003 zu erwerben“.
Die in dem zitierten Brief benannten Gesellschaften unter dem Namen ‚Ammoniakwerk Merseburg‘ (AWM) müssen in einem engen Verhältnis zu den IG Farben stehen. Das läßt sich historisch so erklären: Das Ammoniakwerk Merseburg wurde 1916 von BASF gegründet und gehörte ab 1925 zur IG Farben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Werk enteignet und zunächst in die Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) überführt. Das Werk bekam später den Namen Leuna-Werke. Die Orte Leuna und Merseburg liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Zu Zeiten der DDR waren die Leuna-Werke Volkseigener Betrieb, bis sie nach der Vereinigung Deutschlands 1990 in den Besitz der Treuhandanstalt übergingen. Dadurch brachte die Wiedervereinigung Bewegung in das Geschehen der IG-Farben-Abwicklungsgesellschaft, indem diese ihre Aktivität auf Maßnahmen zur Rückgewinnung ihres einst enteigneten Ostvermögens richtete und die Rückgabe von Liegenschaften in der ehemaligen DDR forderte. Diese Forderungen sind aber gerichtlich abgewiesen worden.
Firmen mit dem Namen ‚Ammoniakwerk Merseburg‘ gibt es aber auch im Westen Deutschlands. Dabei handelt es sich um Gesellschaften des bürgerlichen Rechts im Kölner Raum. Wenn sie den Namen ‚Ammoniakwerk Merseburg‘ nicht ausgeschrieben tragen, so haben sie die Abkürzung AWM. Otto Bernhardt ist nicht nur Liquidator der IG Farben i.A. und Bundestagsabgeordneter der CDU, sondern auch Geschäftsführer der beiden IG-Farben-Töchter AWM Verwaltungsgesellschaft mbH und Ammoniakwerk Merseburg GmbH (junge Welt, 29.09.2001). Die Gesellschaften ‚Ammoniakwerk Merseburg‘ (AWM) müssen Immobiliengesellschaften der IG Farben sein. Demnach sollten 94 Prozent der Gesellschaftsrechte der AWM Verwaltungsgesellschaft mbH und damit das letzte Vermögen der IG Farben i.A. unter das Dach der WCM gebracht werden.
Der Name ‚AWM‘ ist bereits Bestandteil einer zu WCM gehörenden Firma. Laut Geschäftsbericht der WCM für 1999 sieht die Verflechtung folgendermaßen aus: Die GLADBAU Baubetreuungs- und Verwaltungs-Gesellschaft mbH hält 99,6 % an der AWM Grundstücksgesellschaft mbH in Mönchengladbach und hat administrative Aufgaben, insbesondere die Bewirtschaftung, Instandhaltung und Pflege des Mönchengladbacher Bestands. Während GLADBAU wiederum zu 100 % der Gladbacher Aktienbaugesellschaft AG (GAB) gehört, fungiert die GAB als Zwischenholding unterhalb der WCM, indem die WCM mit 99,5 % an der GAB beteiligt ist. WCM übernahm 1991 die Mehrheit an der Gladbacher Aktienbaugesellschaft AG und gründete damit ihren Einstieg in die Wohnungswirtschaft.
Damit stellt sich die Frage, ob die AWM Grundstücksgesellschaft mbH in Mönchengladbach früher zu IG Farben gehörte und die Abkürzung ‚AWM‘ für den Namen ‚Ammoniakwerk Merseburg‘ steht. Abwegig ist diese Frage auch deswegen nicht, weil zumindest früher auch IG Farben i.A. und WCM miteinander verflochten waren. Die WCM Beteiligungs- und Grundbesitz-AG, aus der ‚Württembergischen Cattunmanufactur‘ entstanden, war einst eine Tochtergesellschaft der IG Farben. Anfang der 90er Jahre wechselte das Abhängigkeitsverhältnis, WCM stieg bei IG Farben als Großaktionär ein und „hielt 1994 rund 76 % der IG Farben i.L. in Händen“ (Der Tagesspiegel, 31.12.1999), nachdem 1993 „drei Viertel der damaligen Aktionäre der IG Farben ihre Aktien in WCM-Papiere umtauschen konnten“ (Antifaschistische Nachrichten 13/1999). Als Grund für die Insolvenz der IG Farben i.A. wurde auf der Pressekonferenz noch ein weiteres Ereignis aus diesem Zeitraum genannt: „Mitverantwortlich für die prekäre Situation der IG Farben sei eine Transaktion aus dem Jahr 1993, erklärten die Liquidatoren. Unter anderem durch eine Kapitalausschüttung sei damals das Vermögen der IG Farben von 80 Millionen Euro auf 13 Millionen Euro verringert worden. Profitiert habe davon vor allem der damalige Hauptaktionär WCM. Diese Transaktion sei zwar legal gewesen, an ihrer Legitimität habe er jedoch Zweifel, erklärte Pollehn.“ (Reuters, 10.11.2003) Eines ist offensichtlich: Bewußt wurde in der Vergangenheit das Vermögen der IG Farben i.A. an den Immobilien- und Beteiligungskonzern WCM verschoben. Von der jetzigen Insolvenz der IG Farben i.A. wird WCM nicht betroffen sein, denn sie hat ihre IG-Farben-Aktien längst verkauft. 1996 hatte der Kölner Immobilienhändler Dr. Günter Minninger 43 Prozent der Anteile erworben und auch bald wieder veräußert (analyse + kritik, Nr. 421 / 17.12.1998). Im Geschäftsbericht der WCM für das Jahr 1999 und das Jahr 2002 gibt es keinen Hinweis auf eine IG-Farben-Beteiligung. Wäre WCM mit mehr als 5 % an IG Farben beteiligt, hätte sie diese Beteiligung im Geschäftsbericht ausweisen müssen.
Mit Blick auf die jetzige Pleite ist die Häufung zusammenhängender Phänomene im Jahr 2001 auffällig: Der Optionsvertrag zwischen IG Farben i.A. und WCM, das an den Liquidator gerichtete Schreiben der WCM vom April 2001 und im September 2001 die Bekanntgabe des Jahres 2003 als Zeitpunkt für die endgültige Abwicklung der IG Farben. Während der Pressekonferenz zur Insolvenz am 10. November 2003 sahen die beiden Liquidatoren, Volker Pollehn und Otto Bernhardt, den Grund für die Pleite allerdings in Vorgängen, die in die Zeit vor ihrem Amtsantritt im Herbst 1998 fallen.
Eines ist erreicht, was die Firma IG Farben i.A. wollte, ihr aber gerichtlich verboten worden war: den Namen zu ändern. Das Vermögen der IG Farben arbeitet jetzt unter anderem Namen.