Über 100.000 Menschen haben in Berlin am 1. November an der Großdemonstration gegen den Sozialabbau teilgenommen. Grund für den Protest sind die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung. Damit sollen Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Rentenwesen zu Lasten der Arbeitnehmer und der sozial Schwachen komplett umgebaut werden.
Auf der Demonstration und der Abschlusskundgebung auf dem Gendarmenmarkt waren ATTAC und ver.di stark vertreten. In der Presse sind sie als die Organisatoren genannt, obwohl sie anfangs nicht bereit waren, den Aufruf zu einer bundesweiten Demonstration gegen Sozialkahlschlag zu unterstützen. Für ATTAC wurde diese Veranstaltung erst interessant, als Untergruppen ver.dis, wie z.B. die Bezirksgruppen Stuttgart und Berlin, bereit waren mitzumachen. Das anfängliche Desinteresse hat ATTAC damit begründet, dass sie sich ausschließlich für Globalisierungsthemen interessiere. Ihr Umschwenken begründet ATTAC mit der Aussage des Bundeskanzlers, der Grund für seine Agenda 2010 sei der Globalisierungsdruck. Dass die großen Gewerkschaften sich mit der Beteiligungsfrage am Aufruf zu der Protestdemonstration in eine heikle Situation gebracht haben, liegt auf der Hand, weil sie durch gefällige Tarifverträge die Gesetzesänderungen der Regierung unterstützen und sogar überbieten. Bei genauerem Hinsehen war die Großdemo also eine Offensive von ganz unten.
In unserem Interview sprechen wir mit Angelika. Sie gehört zum Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne.
Graswurzelrevolution: Wie siehst du die Anfänge der Protestveranstaltung?
Angelika: Im Juli hatten wir ein bundesweites Treffen aller Bündnisse gegen die Agenda 2010 und den Sozialabbau. Dort haben dann vier Leute, darunter ich, spontan und aus unserer Intuition heraus gesagt: Es muss etwas passieren. Wir müssen das Risiko eingehen, eine Demo zu wagen, auch wenn sie ins Wasser fallen könnte. Dann haben wir beschlossen, dass wir im August in Frankfurt eine Aktionskonferenz machen und alle möglichen Bündnisse und Parteien dazu einladen, um zu beratschlagen, ob man sich auf einen gemeinsamen Nenner für eine Demonstration einigen kann. Schließlich muss man ja wissen, wofür oder wogegen man demonstriert. Diese Veranstaltung hat einen ganzen Tag lang gedauert, jeder konnte sich am Mikrofon äußern, und wir sind mehr oder weniger einhellig zu dem Ergebnis gekommen, dass wir eine Demonstration wollen, und zwar in Berlin, weil das ja unsere Hauptstadt ist (lacht). Dann hat sich eine Vorbereitungsgruppe gebildet, die zunächst aus mindestens vier Leuten bestand. Dazu haben sich dann immer mehr Menschen gesellt, zum Beispiel die AG „Faxen dicke“, eine kleine Erwerbsloseninitiative aus Norddeutschland, die SAV, ein paar Leute von ATTAC, einzelne Grüppchen von ver.di, ein paar Leute von der IG Metall, Vertrauensleute von Hoesch. Dazu Leute von der DKP, vom Arbeiterbund und von einigen Arbeitsloseninitiativen. Kurz, die Gruppe, die sich dann zur Vorbereitung der Demo in Hannover getroffen hat, war sehr gemischt – was die Sache nicht einfacher gemacht hat, weil wir zuerst einen gemeinsamen Nenner finden mussten, unter dem wir überhaupt demonstrieren konnten. Immerhin: Wir waren alle einhellig der Auffassung, dass Agenda 2010, Rürup und Hartz nur zu Lasten der Arbeitslosen und der sozial Schwachen gehen, und wir waren der Meinung, dass dagegen was unternommen werden muss.
GWR: Gab es außer diesem Hauptthema weitere Vorschläge der einzelnen Strömungen, die auf der Demo hätten eingebracht werden sollen, die aber aufgrund dessen, dass man einen gemeinsamen Nenner finden wollte, außen vor bleiben mussten?
Angelika: Ja, es mussten einige Dinge außen vor bleiben, weil wir uns nicht verzetteln wollten und konnten. Die Teilnehmer der Vorbereitungsgruppe haben auch gewechselt, es war also nicht immer dieselbe Zusammensetzung. Die Zusammenarbeit musste auf pragmatischer Ebene laufen. Beim letzten Treffen wurde dann konkret die Demo geplant, es wurden Konten eingerichtet, Transparente gemacht, der Bühnenaufbau besprochen und die Demo im eigentlichen Sinne organisiert, es wurde eine Demoleitung bestimmt, mit der Polizei verhandelt usw., um all die ordnungspolizeilichen Auflagen zu erfüllen.
Wie viele Leute waren es denn bei dem ersten bundesweiten Treffen am 19. Juli in Frankfurt?
Ich schätze, so etwa 30 Leute.
Und wie entwickelte sich das bei den weiteren Treffen in Hannover? Sind es mehr oder weniger Teilnehmer geworden?
Das hat geschwankt, aber im Durchschnitt waren wir immer so 15, 20 Leute. Ich selbst war auf allen Treffen.
Hannover ist zum Treffpunkt der Vorbereitungsgruppe geworden, weil die Leute, die die Demonstration planen wollten, von überallher kamen, und jeder sollte einen ähnlichen Anfahrtsweg haben. Auf dieser Basis haben wir Hannover „errechnet“.
Nun zur Demonstration selbst. Laut Polizei sollen ja über 300 Busse nach Berlin gekommen sein. Wie sind denn diese Busse organisiert worden, wie kam das zustande?
Hier in Frankfurt hat ver.di Südhessen den Bus bezahlt, was ich wirklich loben muss und was uns sehr geholfen hat, denn die meisten Arbeitslosen haben naturgemäß kein Geld, um eine solche Reise zu bezahlen und womöglich noch mit Übernachtung. Wie gesagt: Manche Teile großer Gewerkschaften haben sich tatsächlich dahingehend beteiligt, dass sie Busse bezahlt haben. Insofern haben sie auch ein Stück zum Gelingen der Demo beigetragen, obwohl sie nicht selbst aufgerufen haben.
Ist das nicht ein widersprüchliches Handeln der großen Gewerkschaften? Selbst rufen sie nicht dazu auf, aber finanzieren dann Busse, damit Leute hinkommen?
Die Busfinanzierung wurde von der Basis in die Wege geleitet. Die Gewerkschaften bestehen aus der Basis und der Führung. Die Führung macht eine völlig andere Politik als die Basis, und es ist der Basis der etablierten Gewerkschaften hoch anzurechnen, dass sie so mutig waren, sich da zu engagieren und die Gewerkschaftsspitzen, die meiner Meinung nach schon gar nicht mehr zu den Gewerkschaften gehören, einfach außen vor zu lassen.
Zur Demo selbst: Wie hoch waren denn anfangs eure Erwartungen, wie viele Leute kommen würden?
Kritische Stimmen haben gesagt: Mehr als 5.000 Leute bringt ihr sowieso nicht auf die Straße. Manche haben überhaupt nicht spekuliert, sondern sich einfach überraschen lassen. Zu der Gruppe habe ich gehört. Aber die Skeptiker haben uns eine Blamage vorhergesagt. Für uns war es schon ein Risiko. Mit 100.000 hat jedenfalls keiner gerechnet.
So dass du die Demonstration als Erfolg wertest?
Ja, die Demonstration war ein Erfolg. Vor allem ist es beruhigend, dass Menschen von sich aus, durch ihr eigenes Gerechtigkeitsgefühl angetrieben, fähig sind, selber was zu organisieren, und nicht immer nach oben zu den Politikern und Gewerkschaftsspitzen gucken, was die denn sagen, und dann einfach hinterher latschen oder eben auch nicht. Das hat mich sehr gefreut.
100.000 Leute – das ist sehr viel. Wahrscheinlich kamen Leute aus den unterschiedlichsten Strömungen. Was waren deine Beobachtungen?
Es kamen wie gesagt Leute aus den etablierten Gewerkschaften; Leute, die in mehreren Gruppen Mitglied sind, z.B. sowohl in den etablierten Gewerkschaften als auch in Arbeitsloseninitiativen; Leute aus den kommunistischen Gruppen; Leute aus dem anarchosyndikalistischen Spektrum – die haben immerhin 1.000 Leute mobilisieren können; Autonome waren da; und ich habe gehört, dass sich Passanten, nachdem sie erfahren hatten, wogegen wir demonstrieren, kurz entschlossen eingereiht haben.
Ja, das habe ich auch beobachtet. Es gab Leute, die mit vollen Einkaufstaschen mitmarschiert sind. Das ist toll.
Ja. Und zugleich heißt das: Wir müssen noch sehr viel mehr und besser informieren. Weil die Leute mit den Einkaufstaschen ja offensichtlich erst am 1.11. von der Demo überhaupt was mitgekriegt haben. Und das nur, weil sie auf der Straße waren. Die waren ja teilweise ganz überrascht und haben gefragt: Worum geht’s hier eigentlich?
So dass ihr späteres Hinzukommen nicht in Desinteresse oder geringer Motivation begründet ist, sondern in mangelnder Information, mangelndem Öffentlichmachen der Veranstaltung.
Ja, so habe ich das empfunden. Es gab so viele überraschte Gesichter.
Hat es eigentlich schon ein Nachbereitungstreffen zur Auswertung der Demo gegeben?
Nein. Am 23. November1 gibt es ein Nachbereitungstreffen, und für den 13. Dezember wird bereits zu einer weiteren Aktionskonferenz eingeladen, denn wir haben vor, noch eine zweite Demo zu organisieren.
Das heißt, die große Demonstration am 1. November war erst der Anfang?
Ja, das haben wir von Anfang an so gesehen, dass das erst der Auftakt sein kann für einen breiten Widerstand, denn mit einer Demonstration haben wir noch nichts gewonnen. Das war sozusagen ein Test, wie die Stimmung hier in Deutschland zum Thema Agenda 2010 und Hartz ist.
„Breiter Widerstand“ – heißt das auch, dass sich ein breites Spektrum sammeln soll, um für eine Sache zu kämpfen?
Die unterschiedlichen Gruppen, die ich vorhin erwähnt habe, müssen über ihren Schatten springen und ihre Selbstdarstellung hintanstellen, damit wir etwas bewirken können. Wenn sich bestimmte Gruppen in den Vordergrund spielen und jeder sich die Erfolge ans Revers heften will, werden wir scheitern. Das ist doch im Grunde dasselbe Gebaren, das die Politiker an den Tag legen. Ich hoffe, dass die betreffenden Gruppen noch an sich arbeiten werden und den Gemeinschaftssinn entdecken, der hier dringend nötig ist, um die Sache zum Erfolg zu führen.
Glaubst du an diese Möglichkeit?
Ja, weil die Menschen lernfähig sind. Wir müssen uns ja nur das anschauen, was wir schon haben, um zu sehen, wie es nicht funktioniert. Denn es liegt ja klar auf der Hand, dass wir im Grunde ein anderes System brauchen. Wir brauchen keine Imitatoren der Politiker, die wir schon haben.
Ihr ruft auf zum Aufbruch.
Ja, zum Aufbruch in ein anderes System und in ein anderes Denken. Ein nicht hierarchisches. Ich bin der Meinung, dass das Parteiensystem, das wir seit Jahrzehnten haben, für die Zukunft nicht mehr funktionieren wird. Ich plädiere für ein anderes Modell: Wir sollten uns abgewöhnen, immer nach oben zu schauen und andere dafür zu bezahlen, dass sie unsere Interessen vertreten, denn was dabei rauskommt, sehen wir eigentlich schon seit Jahrzehnten. Der Kapitalismus basiert immer auf Ausbeutung. Ausbeutung von Menschen, Ausbeutung von Ressourcen, Ausbeutung der Natur. Wir sind eigentlich immer die Verlierer, und wir müssen unsere Sache nichthierarchisch selbst in die Hand nehmen.
Nachsatz: Die Aktionen von unten gehen weiter. In Frankfurt hatte Peter Hartz für den 5. November einen Vortrag an der Goethe-Universität angekündigt. Sein Auftritt konnte verhindert werden, indem genügend Leute vor Ort lautstark deutlich machten, dass sie dem ehemaligen VW-Manager kein Forum für die Propagierung seiner Ideen bieten würden.