In der Graswurzelrevolution Nr. 284 (Dezember 2003, S. 10 f.) erschien der erste Teil einer Serie von Interviews mit Helga (*1935) und Wolfgang (*1929) Weber-Zucht. Helga und Wolfgang betreiben in Kassel den gewaltfrei-libertären Verlag Weber & Zucht.
Teil 2: Interview mit Wolfgang
GWR: Lieber Wolfgang, wie hast Du dich politisiert? Was waren wichtige Ereignisse in Deinem politischen Leben?
Wolfgang: Ich bin recht früh an politischen Fragen interessiert gewesen. Dazu vielleicht etwas über meinen familiären Hintergrund. Meine Eltern waren Bauern. Ihre Familien hatten bis zum Ende des 1.Weltkrieges in Westpreußen gelebt, das mit dem Versailler Vertrag von 1919 polnisch wurde. Da meine Großeltern die polnische Staatsangehörigkeit nicht annehmen wollten, mußten sie Polen verlassen und siedelten Mitte der 20er Jahre in der Uckermark. Dort heirateten meine Eltern und mein Vater führte den Hof seiner verstorbenen Eltern fort. Im Zusammenhang mit dem Interessenverband der Siedler kam mein Vater in Kontakt mit rechten Gruppen und war schließlich sehr angetan von den Nationalsozialisten, wenn er auch nicht mit allen Aspekten einverstanden war. So war eine seiner Thesen Ende der 30er Jahre, daß die eigentliche Revolution erst noch kommt, nämlich die Sozialisierung der Betriebe und vor allem die Kollektivierung der Landwirtschaft, die ihm als Bauer besonders am Herzen lag. Die „Zinsknechtschaft“ brachte die Bauern damals in große Bedrängnis und mein Vater erhoffte sich von der Kollektivierung eine Lösung dieser und weiterer Probleme bäuerlicher Arbeit. Bei Familienzusammenkünften gab es mitunter lebhafte Diskussionen. Da waren unterschiedliche Positionen – christliches Engagement, linke Positionen und mein Vater mit seiner Naziposition, was meine Mutter nicht sonderlich gerne sah und was sicher auch zu der späteren Entfremdung zwischen meinen Eltern beigetragen hat. Diese Diskussionen faszinierten mich und ich erinnere mich, daß noch gegen Ende der 30er Jahre einer meiner Onkel meinen Vater gelegentlich mit ‚Heil Moskau‘ und ‚Rot Front‘ begrüßte, worauf meiner Vater ‚Rot Front verrecke‘ zu erwidern pflegte.
1939 kam ich mit 10 Jahren zum Jungvolk. Aber da wir auf einem Dorf lebten, passierte eigentlich wenig, außer vielleicht mal ein Zeltlager im Sommer. In drei Jahren gab es einmal ein Wochenende mit Nachtmarsch, Liedersingen und ähnlichen Aktivitäten. Ich ging zur Schule in die Kreisstadt und kam nachmittags kaum vor 15 Uhr nach Hause, was Teilnahme an Zusammenkünften beim Jungvolk praktisch ausschloß. Die Indoktrinierung mit Nazi-Ideen geschah zu Hause durch meinen Vater. Allerdings waren da auch andere Einflüsse. Ich ging zu einem Gymnasium, dessen Schüler praktisch nur aus bürgerlichen und adligen Kreisen kamen. Der „Pöks“, wie Jungvolk und Hitlerjugend verächtlich genannt wurde, war nicht beliebt. Die Jungen, die im Internat lebten, pflegten sich vor dem Dienst von Jungvolk und Hitlerjugend mittwochs und sonnabends zu drücken, wo sie nur konnten, vor allem dann, wenn „Besuch“ von Eltern oder Verwandten da war und der kam oft, in Wirklichkeit fast nie (Im Jungvolk war man von 10-14, in der Hitlerjugend von 14-18 Jahren).
Mein Vater hatte Anfang der 30er Jahre einen Arbeitsunfall und verlor dabei ein Bein bis zum Knie. Da er die Arbeit auf dem Hof nicht mehr machen konnte, wurde meine Mutter Hebamme und mein Vater war Hausmann, eine völlig ungewöhnliche Familienkonstellation zu der Zeit. 1942 zogen wir nach Brandenburg/Havel. Auch dort war ich Fahrschüler. Durch die vielen Fliegerangriffe hatten die Züge viel Verspätung und ich war oft erst am späten Nachmittag zu Hause. Dienst bei der Hitlerjugend war längst nicht immer möglich, auch hatte ich zu manchen Aktivitäten keine Lust. So nahm ich lange Zeit am Dienst nicht teil. Im Herbst 1944 schließlich erwischten sie mich und steckten mich mit vielleicht 30 anderen in so etwas wie eine Strafeinheit. Wir waren an einem Sonntag in die HJ-Dienststelle beordert worden, wo wir unsere Gründe für unser Nichterscheinen darlegen mußten. Ich war einer der wenigen, dessen Erklärung von den HJ-Führern akzeptiert wurde. Andere hatten es da viel schwerer und manche wurden im Verlauf des Verhörs sogar geschlagen. Wir mußten von nun an sonntags vormittags Dienst tun, der aus Marschieren im Gelände und Schießen auf dem Schießstand bestand. Bemerkenswert dabei war, daß keiner dieser 30 eine Uniform trug, was völlig ungewöhnlich war, von den Führern aber kritiklos hingenommen wurde – auch das ungewöhnlich. Der Dienst war gleichzeitig Dienst für den Volkssturm und bei Feindalarm sollten wir uns auf der Dienststelle melden. Als gegen Ende April 1945 die Russen vor Brandenburg standen und Feindalarm gegeben wurde, kam es mir überhaupt nicht in den Sinn, daß ich mich zu melden hatte. Nach einer kurzen Unterredung mit meinen Eltern habe ich mich aufs Fahrrad gesetzt und bin nach Westen gefahren. Meine Eltern gaben mir den Rat nach Westdeutschland zu Verwandten zu fahren. Ich war dann zwei Tage etwa 30 km westlich von Brandenburg und bin dann noch mal zurückgefahren und wollte meine Eltern dazu bewegen mitzukommen. Wegen der Schießerein bin ich aber am Stadtrand wieder umgekehrt. Dort traf ich auf einen der höheren HJ-Führer Brandenburgs, der mich zwar kannte, aber nicht wußte, wo er mich hinstecken sollte. Er hat vielleicht zehn Minuten versucht, etwas aus mir herauszukriegen und mir klarzumachen, daß es meine Aufgabe sei, für Führer und Vaterland zu kämpfen, immerhin war ich 16 Jahre alt und die meisten meiner Klassenkameraden waren bereits Flakhelfer oder Soldaten. Ich habe mich aber so verhalten, daß er nichts mit mir anfangen konnte und mich vielleicht auch geistig für etwas minderbemittelt hielt. Schließlich hat er mich mit ungefähr den Worten verabschiedet: „Wer nicht mit dem ganzen Herzen bei der Sache ist, den können wir nicht gebrauchen.“ Mit großer Erleichterung habe ich mich aufs Rad geschwungen und bin eilig davongefahren. 30 km westlich traf ich auf meine Eltern und Schwester, die gerade noch rechtzeitig die Stadt mit dem Auto verlassen hatten. Als Hebamme gehörte meine Mutter zu den Wenigen, die noch Auto fahren durften. Wir sind bis zur Elbe gefahren, haben das Auto dort stehen lassen und sind mit kleinen Kähnen über die Elbe gesetzt, wo uns amerikanische Soldaten empfingen und uns zurückschicken wollten. Meine Schwester, ihre Freundin und ich haben all unsere geringen Englischkenntnisse hervorgekramt und die Soldaten schließlich dazu bewegen können, uns nicht zurückzuschicken.
Dies mag den Eindruck erwecken, als hätte ich bei Kriegsende den Glauben an die Ideen des Nationalsozialismus aufgegeben. Das war keineswegs der Fall. Natürlich gab es Erfahrungen, die Zweifel möglich machten. Auf der anderen Seite gab es jedoch massive Einflußnahmen von vielen Seiten, nicht zuletzt die propagandistische Darstellung vom „heldenhaften“ Kampf „unserer“ Soldaten, die Begegnung mit Ritterkreuzträgern, die Beeinflussung im Geschichts- oder Deutschunterricht u.ä. Es gab in den letzten Kriegsjahren noch eine Reihe anderer Erfahrungen, die rückblickend eigentlich einen früheren Bruch mit der Naziideologie hätten zur Folge haben können. Gegen Ende 1943 habe ich zum ersten Mal von Konzentrationslagern erfahren, von Fremdarbeitern und Zwangsarbeitern, die der Sabotage verdächtigt wurden, in Lager kamen, wo sie geschlagen oder sogar zu Tode gefoltert wurden. Im Frühjahr 1944 hatten drei von uns eine Unterhaltung über die Frage, ob der Krieg noch zu gewinnen sei und was ein verlorener Krieg wohl für uns bedeuten könnte. Im Winter sah ich die ukrainischen Frauen in Wattejacken und -hosen barfuß in Holzschuhen durch die Stadt gehen und in Mülltonnen nach Essensresten suchen. Das verursachte ganz unangenehme, fast schmerzhafte Gefühle. Verunsicherung war da, aber keine ernsthafte Infragestellung der Naziideologie. Ein wenig Opposition war auch da. Viele von uns hörten die Feindsender, nicht so sehr wegen der Informationen, die da gegeben wurden, sondern wegen der Jazzmusik, die wir liebten und bewunderten und die von HJ-Seite verpönt und verboten war. Auch erreichten uns Nachrichten über die Edelweißpiraten, wenn wir auch nicht alle Einzelheiten kannten, so war doch Bewunderung für sie da.
Diese Erfahrungen während der Nazizeit waren von ganz entscheidender Bedeutung für mich. Eine bewußte und systematische Auseinandersetzung damit setzte etwa drei bis vier Jahre nach Kriegsende ein. In den letzten Monaten unserer Schulzeit hatten wir einen Lehrer, der uns dazu brachte, unsere Beschäftigung mit der Philosophie im sokratischen Gespräch zu führen. Diese Methode bietet die Möglichkeit zur gewalt- und herrschaftsfreien Diskussion philosophisch-politischer Fragen. Sie erfordert viel Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit, zum Sich-Öffnen für die Argumente der anderen und Infragestellen der eigenen Denkgewohnheiten. Das alles war für uns, die wir die Nazizeit recht bewußt erlebt und in lebhafter Erinnerung hatten, eine enorme Herausforderung. Der Altersunterschied in der Klasse betrug über 10 Jahre. Die Älteren waren Soldat und zwei sogar Offizier gewesen, einer davon in der Waffen-SS. Vor allem durch diesen Lehrer sind wir alle unsere „Nazi-Hangups“ gründlich losgeworden. Von ihm hörten wir zum ersten Mal von einem Sozialismus freiwilliger Zusammenschlüsse, von gegenseitiger Hilfe, von der Notwendigkeit von Gewerkschaften ohne Hierarchie und Bürokratie, damit die Kontrolle über die Entscheidungen durch die Arbeitenden gewährleistet ist. Er beteiligte sich, wie ich später erfuhr, an der Arbeit der Freien Büchergilde. Eine wichtige Frage, die wir mit ihm diskutierten, war die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Ein Aspekt dabei war die Sache, daß zu Hause und in der Schule Mädchen klar gemacht wurde, daß ihre Stärke im gefühlsmäßigen Bereich liegt. In der Schule, so wurde erzählt, liege ihre Stärke im Sprachlichen, die Sache der exakten und Naturwissenschaften dagegen sei mehr eine Sache der Männer. Solche Ansichten zu überprüfen, dazu hatten wir in der Klasse gute Gelegenheit, denn zu den Besten in Mathematik, Physik und Chemie gehörten Frauen.
Zwischen 1960 und 1965 lebte ich in Hannover und kam durch den Ostermarsch gegen Atomwaffen in Kontakt mit einem kleinen Freundeskreis, der sich um die Kriegsdienstverweigerung herum gebildet hatte. Die Beschäftigung mit den Atomwaffen, der Kriegsdienstverweigerung, der Rüstung, dem Pazifismus führte uns zu Gandhi, dessen Technikkritik uns ansprach und die wir durch Günter Anders bestätigt und im westlichen Kontext vertieft sahen. Die These der Organisatoren des Ostermarsches, die damals die friedliche Nutzung der Atomspaltung befürworteten, fand bei uns nicht viel Zustimmung, was auf viel Unverständnis, ja sogar Mißtrauen stieß. Das Mißtrauen war auch an anderer Stelle da, beispielsweise bezogen auf den Kommunismus-Antikommunismus. Noch etwa 15 Jahre später, als der Gewaltlose Marsch für Entmilitarisierung in Deutschland stattfand, sagte mir ein Freund aus Italien, der an der Organisierung des Marsches beteiligt war, daß die emotional aufgeladene Atmosphäre in Bezug auf den Ost-West Konflikt in Deutschland, auch innerhalb der Friedensbewegung, ihn überrascht hätte. Er meinte, daß sie es in der Friedensbewegung in Italien auch nicht gerade leicht hätten angesichts der Stärke der italienischen Kommunistischen Partei und deren Friedensableger, er also einiges gewohnt sei. Anfang der 60er Jahre war dieses Problem noch viel stärker und das bekamen wir bei jeder Veranstaltung und den Infotischen zu spüren, die wir zur Vorbereitung der Ostermärsche durchführten, zu Hiroshima- und Nagasaki-Gedenktagen, zum Antikriegstag und ähnlichen Gelegenheiten. Bei Infotischen auf öffentlichen Plätzen bildeten sich Menschentrauben, in denen wild durcheinander diskutiert wurde und kaum jemand auf den anderen hörte. Ja, es kam vor, daß Menschen sich anschrieen und beleidigten. Ich denke, daß das ein wenig die Probleme unserer damaligen Arbeit kennzeichnet.
GWR: Wie kamst Du zum gewaltfreien Anarchismus?
Wolfgang: Durch viele und sehr unterschiedliche Anregungen – Landauer, Kropotkin, Tolstoi um nur einige Namen zu nennen -, näherten wir uns allmählich dem Anarchopazifismus. Als wir dann zum Ostermarsch 1965 die erste Nummer der vervielfältigten Zeitschrift Direkte Aktion (1) herausbrachten, war das schon praktisch am Ende meiner Hannoverschen Zeit. Wir kamen auch in Kontakt zu anderen Anarchisten. So nahmen einige von uns an einer Tagung in Bückeburg teil, wo wir Genossen aus Belgien und den Niederlanden kennen lernten.
Durch die Arbeit in den Organisationen der Kriegsdienstverweigerer kam ich in Kontakt mit deren Internationale, der War Resisters‘ International (WRI) (2) und nahm im Sommer 1963 an einer Studienkonferenz über Gewaltlosigkeit und sozio-ökonomische Veränderung teil. Dort traf ich auf Satish Kumar und E.P. Menon, die auf einem Marsch von Neu-Delhi nach Washington waren, um unterwegs Menschen zu treffen und mit ihnen über die Gefahren von Krieg und Atomwaffen zu sprechen. Außer in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich trafen sie auch mit Ministerpräsidenten oder Mitgliedern der Regierung der Länder zusammen, die sie durchwanderten. In Frankreich planten sie während der Konferenz eine Demonstration vor dem Palais Elisée, dem Amtssitz des französischen Präsidenten. Ole Bach aus Dänemark und ich erklärten uns bereit, daran teilzunehmen. Die Ausgangsfrage der Konferenz war, ob Abrüstung Frieden schaffen kann oder ob auch grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft dazu erforderlich sind. Dabei wurde dann diskutiert, welche Rolle Gewaltlosigkeit für grundlegende politische, soziale und ökonomische Veränderungen spielen kann.
Die Erklärung, die bei der Konferenz herauskam, war umfassend, aber auch etwas allgemein. An einem Punkt war es dann aber doch sehr konkret. Lanza del Vasto, der Gründer der Arche, einer kommuneartigen religiösen Gemeinschaft, nahm an der Konferenz teil und lud uns ein, die Archegemeinschaft, die sich damals in der Nähe von Bollène, nördlich von Avignon, etwas oberhalb der Rhone befand, zu besuchen. Ole Bach und ich fuhren gemeinsam hin und erlebten eine eigenartige, fremdartige und doch anziehende Gemeinschaft. Unter dem Einfluß Gandhis waren Technikkritik, Handarbeit und Selbstversorgung wesentliche Aspekte ihres Lebens. Einer meiner ersten Eindrücke war, daß ich mich um etwa 200 Jahre zurückversetzt fühlte. So wurde beispielsweise Elektrizität nicht benutzt. Ein anderer Aspekt dieser Gemeinschaft war ihre politische Ausstrahlung. Sie hatten einen wichtigen Beitrag zum Widerstand gegen den Algerienkrieg geleistet – und spielten 15 Jahre später eine ähnliche Rolle im Widerstand gegen den Truppenübungsplatz auf dem Larzac.
Dies waren Dinge, die uns in Hannover interessierten. Anschließend an den Besuch in der Arche fuhren Ole und ich nach Lyon und nahmen an einem Wochenendseminar teil, bei dem ich zum ersten Mal ein Rollenspiel erlebte, wobei Lanza del Vasto die Rolle eines Demonstranten spielte, der von Polizei festgenommen wurde. Das war für uns eine Art Vorbereitung für die Demo in Paris. Dort trafen wir vier unsere letzten Vorbereitungen bei Freunden der Arche und fuhren mit einem Transparent zum Palais Elisee. Wir hatten uns kaum vor dem Gebäude aufgestellt, als wir auch schon eingeladen wurden, ins Gebäude zu kommen und wurden nach einem etwa zweistündigen Gespräch mit einem hohen Beamten ins Gefängnis gebracht, wo wir drei Tage und Nächte auf stinkenden, verpißten Matratzen verbrachten, unterbrochen von täglichen Verhören. Nach drei Tagen wurden Ole und ich in Handschellen mit dem Zug über Straßburg nach Deutschland gebracht. In Verbindung damit ereignete sich eine kleine Begebenheit etwa 13 Jahre später am gleichen Grenzübergang. Wir wollten zu dritt mit dem Auto einreisen, um in Paris an einer Gerichtsverhandlung eines französischen Totalverweigerers teilzunehmen. Wir wurden kontrolliert und sie hatten eine klitzekleine Karteikarte von mir, kaum größer als ein Spickzettel. Da es um Mitternacht war, mußten wir mehrere Stunden warten, bis die Grenzer gegen Morgen Kontakt mit dem Innenministerium bekamen, um zu erfahren, daß ich einreisen durfte.
Anfang 1964 war ich drei Monate in Großbritannien und erhielt Kontakt zu einer Reihe von Gruppen und Organisationen in London, Wales, Birmingham und Schottland. In Glasgow arbeitete ich eine Weile in der Factory for Peace. Natürlich war ich auch einige Tage im Büro der WRI und beim Komitee der Hundert, dem radikalen Flügel mit direkten gewaltlosen Aktionen der Bewegung gegen Atombomben. Eine Weile nach diesem Aufenthalt bekam ich die Anregung, mich für eine freie Stelle bei der WRI zu bewerben.
GWR: Wie hast Du Helga kennen und lieben gelernt?
Im Sommer 1964 fand in Offenbach eine Studienkonferenz der WRI zum Thema Gewaltlose Konfliktlösung statt, besonders bezogen auf Deutschland und Berlin. Dort lernte ich Helga kennen und fühlte mich augenblicklich zu ihr hingezogen. Am dritten Tag der Konferenz war eine Fahrt nach Heidelberg auf dem Plan, und dort, besonders bei einer Besichtigung des Heidelberger Schlosses, kamen wir uns sichtbar näher. Ich habe sie dann ein oder zwei Wochen später bei ihren Eltern in Kassel besucht. Lebhaft erinnere ich mich an einen Besuch der Documenta (Weltausstellung der Gegenwartskunst). Dort ist mir zum ersten Male aufgefallen, welche Veränderungen in der Konzeption von Kunst stattfanden. 1977 als wir die Koordinationsarbeit für die Gewaltfreien Aktions- und Graswurzelgruppen machten, hatten wir Gelegenheit, an einer Documenta aktiv teilzunehmen. In der Bürgerinitiative gegen Atomkraftwerke hatten wir eine Freundin von Beuys kennen gelernt, die den Vorschlag machte, daß wir in Beuys‘ Raum mit der Honigpumpe an mehreren Tagen das Programm gestalten könnten. Dazu kamen dann einige FreundInnen aus den GA-Gruppen nach Kassel und zusammen haben wir zu den verschiedenen Aspekten Gewaltloser Revolution diskutiert. Die Veranstaltungen waren recht gut besucht und Beuys saß im Hintergrund auf einer Leiter, hörte aufmerksam zu und war sehr beeindruckt.
Im Oktober 1965 ging ich nach London, um im Büro der War Resisters‘ International zu arbeiten. Die nächsten acht Jahre in England wurden zu den wichtigsten Erfahrungen meines Lebens. Sie brachten eine enorme Öffnung meines Lebenshorizontes. Sie führten aus der Enge und Dumpfheit und konfrontativen Atmosphäre deutscher Gesellschaft in eine viel offenere und freiere Gesellschaft, die zwar auch ihre Grenzen und Vorurteile hatte, wo aber ein großer Unterschied sofort spürbar war. Jahre später habe ich Popper gelesen – Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde – und sah, daß Popper einige Jahrzehnte vorher ähnliche Erfahrungen gemacht hatte.
Die Arbeit in der WRI brachte mir neue Einsichten in die Entwicklung des Pazifismus und der Gewaltlosigkeit, und ich lernte Persönlichkeiten kennen, die für die Entwicklung von Ideen und Aktionen eine wichtige Rolle gespielt haben. Das will ich an ein oder zwei Beispielen deutlich machen.
Die Kriegsdienstverweigerer des 1. Weltkrieges, die in der WRI eine große Rolle spielten, und von denen ich noch einige kennen lernte, stehen am Anfang einer neuen Widerstandsbewegung gegen Krieg. Bis dahin war Kriegsdienstverweigerung vor allem an religiöse Gruppen und Inhalte gekoppelt. Jetzt erhielt Kriegsdienstverweigerung einen universellen Anspruch. Sie stand allen Menschen offen. Kriegsdienstverweigerung wurde zu einer politischen Kraft.
Die KDVer des 1.Weltkrieges sagten von sich, „Kriegsdienstverweigerer sind dagegen die hartnäckigsten Kämpfer, welche die Welt je gesehen hat. Nicht Frieden wollen sie, sondern Revolution – eine Revolution des Geistes, die eine neue Gesellschaftsordnung herbeiführen und eine Welt schaffen wird, in der alle Menschen gemeinsam für das Wohl aller arbeiten.“ (aus Der Durchbruch von Runham Brown, War Resisters‘ International 1930). Die Kriegsdienstverweigerer des 1. Weltkrieges legten den Grundstein zu einer Entwicklung, die in den späten 60er Jahren konkretere Formen annahm, nämlich der Entwicklung hin zur Aufnahme der Kriegsdienstverweigerung in den Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen.
Eine andere Frage, auf die ich aufmerksam wurde, war die Beziehung zwischen Gandhis Ideen der Gewaltlosigkeit und dem Pazifismus. Generalsekretär der WRI war Devi Prasad, der die letzten Jahre vor Gandhis Tod in Gandhis Ashram gelebt hatte. Er half Ideen Gandhis in die Arbeit der WRI und damit auch in den Pazifismus des Westens einzubringen. So beispielsweise die Frage grundsätzlicher gesellschaftlicher Veränderungen als Herausforderung für die Anhänger der Gewaltlosigkeit und als notwendiges Element für eine Welt ohne Krieg. Diese Entwicklung fand einen ersten Höhepunkt auf der Internationalen WRI-Konferenz 1969, auf der ein Manifest für eine Gewaltlose Revolution ins Auge gefaßt wurde. Der „Entwurf für ein Manifest für eine Gewaltlose Revolution“ wurde dann der Internationalen WRI-Konferenz 1972 von George Lakey vorgelegt.
Dies alles hatte bereits eine 20jährige Vorgeschichte. Gandhi selbst hatte ein Treffen mit führenden Pazifisten Europas und der USA vorgeschlagen, das ein Jahr nach Gandhis Tod in Indien als Weltkonferenz der Pazifisten stattfand.
Kriegsdienstverweigerer des 2. Weltkrieges in den USA haben in den Gefängnissen und Lagern Gandhi studiert und diskutiert, wie sie diese Ideen später umsetzen könnten. Im Gefängnis selbst haben sie sogar damit angefangen und Aktionen durchgeführt, um die Lebensbedingungen für die Gefangenen zu verbessern.
Ich entdeckte, daß die Entwicklung im Pazifismus in den USA und Großbritannien, besonders mit der Praxis von Gewaltloser (Direkter) Aktion und Zivilem Ungehorsam, der Entwicklung in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern um Jahrzehnte voraus war. Literatur zu diesen Fragen war in Deutschland, aber auch anderen Ländern Europas nur wenigen bekannt. Menschen, die sich mit solchen oder verwandten Fragen befaßten, wie Nikolaus Koch in Dortmund in den 50er und 60er Jahren, fanden nur wenig Resonanz.
GWR: Als die Graswurzelrevolution 1972 in Augsburg gegründet wurde, hast Du mit Helga in London für die War Resisters‘ International gearbeitet. Wie seid Ihr zur Graswurzelrevolution gekommen?
Wolfgang: 1972 auf der Internationalen WRI-Konferenz in England sahen wir die erste Nummer der Graswurzelrevolution und lernten den Redakteur Wolfgang Hertle kennen. Die Zeitung gefiel uns, und als Helga und ich ein Jahr später nach Deutschland zurückkehrten, stellten wir bald die Kontakte her. 1974 fingen wir mit der Arbeit in der Graswurzelwerkstatt an, der Koordinierungsarbeit für die GAs und Graswurzelgruppen. Und solange die Redaktion der GWR in Berlin war, sind wir immer mal nach Berlin gefahren, um an der Redaktionsarbeit teilzunehmen.
(1) Die in Hannover herausgegebene "Direkte Aktion - libertär-pazifistische Blätter" erschien 13-mal von 1965 bis 1966. Sie ist eine Vorläuferin der seit 1972 erscheinenden "Graswurzelrevolution". Mit der seit 1977 erscheinenden anarchosyndikalistischen DA hat sie nur den Namen gemein.
(2) Zur Geschichte der WRI siehe GWR Nr. 208/209-Sonderheft "War Resisters' International 1921-1996. Vom Widerstand gegen den Krieg zur gewaltfreien Revolution", Mai 1996
Anmerkungen
Teil 3 der Interview(s) mit Helga und Wolfgang erscheint voraussichtlich in GWR 286.