antimilitarismus

Der normale Kriegszustand

| Christian Axnick

Alles geht und nichts passiert. Von der Begründung für den Irak-Krieg bis zu den "Einladungen" zu Trainingsmaßnahmen, mit denen die Arbeitsämter ihre Klientel schikanieren: es wird offensichtlicher Unsinn exekutiert, und die Gründe, die dafür angegeben werden, sind so lächerlich, daß sie mit dem jeweiligen politischen Inhalt, den sie legitimieren sollen, gar nichts mehr zu tun haben.

Sie dienen einem anderen Zweck. Dem Publikum wird zu verstehen gegeben, daß es hier nichts zu diskutieren gibt; und zwar unter Einhaltung aller formalen Regeln einer öffentlichen Auseinandersetzung. Es gibt Reden, Erklärungen, Pressekonferenzen, Debatten, Talk Shows, und aus all dem Remmidemmi folgt gar nichts, weil ihm jeglicher Sinn ausgetrieben worden ist. Oder anders: Der Sinn dieser Argumentationsvortäuschung besteht in ihrer signalhaften Sinnlosigkeit. Der britische Premierminister erklärt, die Suche nach den irakischen Massenvernichtungsmitteln werde eingestellt, er sei aber nach wie vor davon überzeugt, daß es welche gebe, bloß seien sie eben zu gut versteckt. Demnächst wird sich ein des Mordes Verdächtiger dafür zu verantworten haben, daß keine Leiche, keine Tatwaffe und kein Motiv zu finden ist – alles viel zu gut versteckt; gerade das beweist doch im Grunde die Perfidie, mit welcher die Tat begangen wurde, nicht wahr… Ist ja auch egal. Daß Politik vor allem aus der Inszenierung des Scheins besteht, ist keine besonders neue Einsicht, aber die Regie war schon mal besser. Sorgfältiger. Mittlerweile wird gewissermaßen nachdrücklich geschlampt, wie um sicherzustellen, daß die Botschaft auch wirklich ankommt: Gegen die herrschenden Mächte ist mit Vernunftgründen nichts auszurichten. Wer sich gegen die Vernunft immunisiert hat, kann machen, was er will, also alles, was er zur Erreichung seiner Ziele für nötig hält. Das ist eine ganz praktische Maxime, wenn man Krieg führt oder ein Notstandsregime verwaltet. Insofern läßt sich aus der öffentlich dargestellten intellektuellen Kapazität der Blairs, Bushs und Schröders der Schluß ziehen: nicht, weil unsere führenden Politiker so doof sind, werden wir immer stärker mit Notstandsmaßnahmen regiert; unsere führenden Politiker sind so doof, weil wir mit Notstandsmaßnahmen regiert werden sollen – als den einer Gesellschaft im Kriegszustand angemessenen Mitteln.

Die Mobilisierung für den wirtschaftlichen Konkurrenzkampf läßt sich kaum von einer militärischen unterscheiden. Der Kampf fürs Vaterland ist aus der Mode gekommen, die Massenheere sind überflüssig geworden; aber die Fähigkeiten, die er erfordert, braucht auch der Standortpatriot, und die Bundeswehr wird kleiner, aber gemeiner. Allerdings braucht auch der Kriegseinsatz von Berufssoldaten in aller Welt eine Heimatfront, die ihn trägt; und die Formierung der Gesellschaft zu einem Kollektiv, das sich gegen äußerliche Bedrohungen behauptet, kann ohne reale Bewaffnung und die Bereitschaft, von diesen Waffen auch Gebrauch zu machen, nicht gelingen. Beim Generalangriff auf die sozialen Sicherungssysteme werden den Opfern die gleichen Tugenden gepredigt wie beim Sturm auf die feindliche Stellung dem Kanonenfutter: Einsicht in die Notwendigkeit von Opfern, Bereitschaft zum entschlossenen Einsatz, Hoffnung, daß man es gemeinsam schon schaffen wird, … Sport tut Deutschland gut.

Wenn es auch nicht darum geht, fit for fun zu werden. Schließlich sind wir im Krieg. Nicht an der Front, aber doch in dem Krieg, den der globale Kapitalismus der Welt erklärt hat und der geführt wird auch dort und dann, wo nicht geschossen wird. Zwar ist erobert, was erobert werden konnte, und deswegen bleibt der klassische Imperialismus klassisch. Jetzt geht es darum, die Eroberungen unter Kontrolle zu halten und den eigenen Einfluß gegen die rivalisierenden Partner zu verteidigen, oder, wenn möglich, zu stärken.

Wie im Bezugsrahmen dieses defensiven Imperialismus staatliche Politik manövriert, zeigte sich recht deutlich in den Auseinandersetzungen um den Irak-Krieg.

Wenn es den USA um die Absicherung ihrer Dominanz im Nahen Osten und die langfristige Kontrolle des Ölgeschäftes ging, dann konnte die Bundesrepublik diesen Krieg nicht ohne weiteres unterstützen; sie hätte damit jeden eigenen Einfluß aufgegeben und sich mit der Rolle als drittrangige Macht beschieden. Handlungsspielräume eröffneten sich nur durch Opposition gegen die USA. Andererseits konnte und wollte sie die Kriegsvorbereitungen nicht ernsthaft hintertreiben; das wäre nur um den Preis eines tatsächlichen Bruchs mit den USA möglich gewesen, und dazu ist in der deutschen Politik niemand wahnsinnig genug. Die Aufgabe, sich im internationalen staatlichen Machtgerangel möglichst günstig zu positionieren, wurde gar nicht ungeschickt gelöst. In einem Punkt war die Haltung der deutschen Regierung klar, und in diesem Punkt hat sie sich entsprechend ihrer Ankündigungen verhalten: Deutschland schickt keine Kampftruppen in den Irak – tut also genau das nicht, worum auch niemand gebeten hatte. Dies lieferte den Aufhänger für die Antikriegsrhetorik der SPD-Grüne-Koalition, während in allen anderen Punkten die Kriegsvorbereitungen diskret unterstützt wurden. Offenheit gestattete sich Peter Struck allerdings bereits im Januar 2003 in der Zeitschrift „Europäische Sicherheit“: „Im Falle einer militärischen Operation gegen den Irak gibt es keinen Zweifel darüber, daß Deutschland den USA und anderen NATO-Mitgliedsstaaten sowohl Überflugrechte und Transit als auch die Nutzung ihrer Einrichtungen in Deutschland ermöglichen wird. Eine direkte Beteiligung an militärischen Aktionen kommt für die Bundesregierung nicht in Betracht. Nicht zuletzt angesichts der hohen Belastung der Bundeswehr durch die laufenden internationalen Einsätze wird sich daran auch nichts ändern.“ Die diplomatische Konfrontation mit den USA, die Gerhard Schröder inszenierte, war nicht nötig, um sich der direkten Beteiligung am Krieg zu entziehen: sie diente der innenpolitischen Profilierung, und sie sollte europäische Ambitionen in der Abgrenzung gegen die USA unterstreichen. Die offizielle deutsche Haltung im Irak-Krieg entsprang nicht plötzlich aufgefundenen Gewissensgründen der Regierung, sondern einem kalten machtpolitischen Kalkül: wie lassen sich die deutschen Interessen am besten behaupten?

Der Einsatz militärischer Gewalt ist inzwischen wieder zu einem normalen Mittel der Politik gemacht worden. Das bedeutet auch, daß das UNO-System gescheitert ist. Die UNO war nie dazu gedacht gewesen, militärische Gewalt abzuschaffen; sie sollte ihr einen Rahmen setzen, ihr Ausufern verhindern, sie nur unter bestimmten Bedingungen anwendbar und damit berechenbar machen. Die Organisation der Vereinten Nationen entstand aus der bürgerlichen Fortschrittsreligion, die glaubt, alles unter Kontrolle zu haben oder jedenfalls zu kriegen – auch jeden potentiell mörderischen Unsinn: den motorisierten Individualverkehr, Reaktorblock 4 und den Krieg, der zu vernünftigen Zwecken und auf vernünftige Art zu führen wäre. Basis des Völkerrechts ist schließlich die Gewalt. Auch die Charta der Vereinten Nationen gründet auf der Drohung mit Krieg; und wenn die NATO-Staaten seit einiger Zeit, im Alleingang oder in wechselnden Koalitionen, die UN-Charta nach der Fetzen-Papier-Doktrin behandeln, dann bedeutet dies nicht, daß sie ein grundsätzlich gewaltfreies Instrument der Krisenregulierung auf den Müll befördern – sie entledigen sich bloß gewisser Fesseln und Kontrollmechanismen, die ihnen hinderlich geworden sind. Die UN-Charta postuliert lediglich ein generelles Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen, real befolgt worden ist dieses Verbot nie; deswegen legt das Kapitel VII schließlich die Ideen dar, auf die man gekommen war, um es, falls gewünscht, durchzusetzen: Auf die Empfehlungen des Sicherheitsrates zur Beilegung eines Konfliktes und die nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen folgen dann in Artikel 42 eben doch und unvermeidlich die militärischen Zwangsmaßnahmen der Vereinten Nationen. „Militärische Zwangsmaßnahmen“ – der erste Schritt auf der Lügenstraße zu den „friedensschaffenden Einsätzen“. Theoretisch ist der Krieg geächtet. Aber solange die Gesellschaften in Nationalstaaten organisiert werden, ist diese Regel nur durchzusetzen, wenn eine übergeordnete Gewalt ihre Befolgung notfalls militärisch erzwingen kann und sie damit selber ad absurdum führt. Und nun ist die UNO auch mit der Aufgabe, die kriegerische Gewalt zu rationalisieren und zu monopolisieren, gescheitert. Ihr Einfluß im kalten Krieg entsprang ihrem Vermögen, den heißen zu verhindern. Die mit jeweils dutzendfacher Overkillkapazität gerüsteten Supermächte waren gezwungen, sich – in der Hauptsache jedenfalls – zu einigen, wozu sie die Regularien der UNO nutzten. Aber mit dem Zerfall der Sowjetunion kam der nötige Partner abhanden, und die Regeln für die Kriegführung, wie sie die UNO in Zeiten der Blockkonfrontation gesetzt hat, gelten nicht mehr.

Der aktuellste Ausdruck dieses Wandels sind Peter Strucks „Wegmarken für den neuen Kurs der Bundeswehr“, mit denen die Umstrukturierung des deutschen Militärs, die nach dem Sieg im kalten Krieg und der deutschen Vereinigung erforderlich wurde, konsequent fortgesetzt wird. Die Bundeswehr soll überall auf der Welt Krieg führen können; das bedeutet nicht, daß sie überall Krieg führen soll. Nicht nur die Anwendung, auch die bloße Androhung von Gewalt ist Element staatlicher Politik und eine Aufgabe des Militärs, die es nur erfüllen kann, wenn jeder weiß, daß die Armee fähig ist zu kämpfen. Die Gliederung der Bundeswehr in Eingreiftruppen, Stabilisierungskräfte und Unterstützungskräfte ist sinnvoll: nur eine solche Armee ist in den Kriegen des defensiven Imperialismus zu gebrauchen; und auch nur dann, wenn sie weltweit eingesetzt werden kann.

Die Frage, ob die Bundesrepublik statt einer solchen Bundeswehr nicht eine reine Verteidigungsarmee (was immer man sich darunter vorstellen mag) aufstellen solle, weil schließlich die Verfassung das so vorschreibe, stellt sich nicht, und auch die Klage darüber, daß mit der Bundeswehrreform die Verfassung gebrochen werde, ist nicht besonders hilfreich, sondern nur hilflos. Der reale Zustand der Gesellschaft hat sich geändert, er entspricht nicht mehr den Formeln, mit denen er einst in der Verfassung beschrieben wurde, und das ist kein rechtliches, sondern ein politisches Problem.

Das Verhältnis der westlichen Staaten untereinander äußert sich in punktueller Rivalität auf der Grundlage eines weiterhin bestehenden Konsenses: Wir teilen die Welt unter uns auf, aber wie und zu welchen Bedingungen, darüber streiten wir im Einzelfall. Diese partnerschaftliche Konkurrenz wird wahrscheinlich noch lange unter der Suprematie der USA stattfinden, aber auch das ist kein endgültiger Zustand. Das deutsch-französische Kerneuropa arbeitet mit einigem Nachdruck an der Formierung eines Machtblocks, der zwar kaum die US-Suprematie an sich wird bekämpfen können, und der das, wenn man den europäischen Politikern eine gewisse Zurechnungsfähigkeit unterstellt, auch gar nicht soll; wohl aber soll er die Bedingungen, unter denen diese Suprematie ausgeübt wird, beeinflussen und dort, wo es den europäischen Interessen dienlich erscheint, einschränken können. Im eigenen Hinterhof, einem „europäischen Stabilitätsraum“, will man schon selber für Ruhe und Ordnung sorgen; und global notfalls auch ohne Unterstützung durch die USA handlungsfähig werden. Deshalb kann man Peter Struck beruhigt glauben, daß die Bundeswehr in Zukunft nur im Rahmen von NATO, EU, UNO oder OSZE eingesetzt werden wird – nationale Interessen lassen sich nur noch in Bündnissen, und zwar in je nach Opportunität wechselnden, verfolgen. Deshalb wird das Militär im Interesse seiner Effizienz verkleinert; deshalb naht vielleicht sogar in Deutschland doch noch das Ende der Wehrpflicht – jetzt, wo ihre Abschaffung kein Erfolg antimilitaristischer Aktionen wäre, sondern nur eine weitere Maßnahme zur Anpassung der Gesellschaft an die Erfordernisse der modernen weltweiten Kriegführung. Und deshalb ist es auch nur folgerichtig, wenn eine Kommission unter dem Titel „Impulse für die Zivilgesellschaft – Perspektiven für Freiwilligendienste und Zivildienst in Deutschland“ dem Familienministerium einen Bericht übergibt, in dem als „prioritäres Aufgabenfeld“ von Freiwilligendiensten der Zivilschutz genannt wird: das ist der Versuch, Freiwillige zu Kriegshilfsdiensten heranzuziehen.

Für die Bevölkerungen bedeutet der defensive Imperialismus der NATO-Staaten den permanenten Ausnahmezustand. Der außenpolitischen Kriegsnormalität entspricht im inneren der Burgfrieden, die Formierung der Gesellschaft. Das ist durchsetzbar, weil es eine Art Sicherheit vermittelt, in einer Situation, in der die Angst um die eigene wirtschaftliche Existenz und das Gefühl, anonymen Mächten ausgesetzt zu sein, das jeder kennt, der schon einmal eine Einladung des Arbeitsamtes erhalten hat, ergänzt wird durch die Angst vor unberechenbarer Gewalt – daß der internationale Terrorismus jederzeit und überall zuschlagen kann und uns alle bedroht, ist eine Behauptung, die nicht nur die vielen sehr präzisen und ernstzunehmenden Hinweise auf geplante Attentate belegen sollten, die zum Jahreswechsel einer den anderen jagten. Auch die eigene Erfahrung der Ohnmacht läßt es plausibel erscheinen, daß sich eine gewaltige, ziellose Wut aufstaut, die sich in kriminellen oder terroristischen Gewalttaten schließlich entlädt. Die neoliberale Entfesselung des bürgerlichen Naturzustandes, des Kampfes aller gegen alle, erzeugt nicht nur den andauernden äußeren Krieg, sondern läßt auch die immer weitere Beschneidung von Freiheitsrechten und immer schärfere staatliche Repression als konsequent und angemessen erscheinen. Deshalb geht alles; und nichts passiert …