gewaltfreiheit

Für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft

Interview mit Helga und Wolfgang Weber-Zucht (Teil 3)

| Interview: Bernd Drücke

Helga (*1935) und Wolfgang (*1929) Weber-Zucht betreiben den gewaltfrei-libertären Verlag Weber & Zucht in Kassel. Anknüpfend an Teil 1 (GWR 284) und 2 (GWR 285), folgt nun der dritte Teil einer Interviewserie mit den beiden GraswurzelrevolutionärInnen.

Graswurzelrevolution: Schon früh gab es ein Netzwerk zwischen Graswurzelbewegungen der BRD und der DDR (1). Ihr hattet gute Kontakte zu DDR-Graswurzelgruppen. Erzählt doch mal.

Helga: Einerseits gern, weil ich so beeindruckt war von den Menschen, die ich dort traf. Andererseits müßten zu diesem Themenkomplex andere etwas sagen, die damals intensiver beteiligt waren und viel mehr Risiken eingegangen sind – auf beiden Seiten.

Zuerst noch eine Anmerkung zu Deiner Frage. Sehr „früh“ gab es diese Kontakte meines Wissens nicht, aber da mag ich mich irren. Ob man von einem Netzwerk zwischen uns und DDR-Friedensgruppen sprechen kann, bezweifele ich. Dafür waren es zu wenig Kontakte, und auch die Gefährdung für die Freunde in der DDR war viel zu groß. Und ich zögere, den Begriff DDR-Graswurzelgruppen zu benutzen. Wenn er in dem Sinne benutzt würde wie in England oder den USA, dann vielleicht – also Initiativen, die sich ganz unten und von allein entwickeln. Aber „wir Graswurzler“ haben den Begriff ja immer eng verknüpft mit der GWR benutzt. Und in dem Zusammenhang würde ich nicht von DDR-Graswurzelgruppen sprechen wollen. Das schiene mir selbst im Nachhinein noch eine unzulässige Vereinnahmung.

Wie ich die wenigen Menschen wahrgenommen habe, die ich kennen lernte, und darüber hinaus die, von denen man im Laufe der Zeit erfuhr – auch durch die Medien -, haben diese Gruppen sehr eigenständige Entwicklungen durchlaufen. Sicher hat es gegenseitige Ermutigungen durch Begegnungen und Austausch gegeben. Aber ob wir hier in Westdeutschland von ihrem Mut und ihrer Risikobereitschaft nicht viel mehr hätten lernen sollen, als sie an Anregungen aus unseren Aktionsberichten erfahren oder gar hätten auf ihre Situation übertragen können, das hätten wir vielleicht damals alle intensiver wahrnehmen und diskutieren sollen. Darüber hinaus hat es Ende der 80er und danach, wie Du auch angemerkt hast, viele Gruppen und Organisationen gegeben, die Kontakt zu den gleichen Leuten hatten.

Wir sind durch die damaligen Herausgeber der Graswurzelrevolution in Berlin in direkten Kontakt zu Leuten in Ostberlin gekommen (dort gab es einen philosophischen Arbeitskreis, später dann auch die damit eng verbundenen Frauen für den Frieden) sowie zu den Freunden vom Friedensseminar in Königswalde, im Süden der DDR.

Kleiner Einschub hier für das Wiedererkennungsmoment, das wir ja oft brauchen: In den beiden Gruppen in Berlin waren z.B. Bärbel Bohley, Frau Havemann, die Poppes und andere, deren Namen in den 1980ern und noch mehr nach der Wiedervereinigung vielen geläufig wurden.

Es wäre vielleicht wichtiger, aus der Sicht der damals hier wie dort Beteiligten darüber etwas zu lesen.

GWR: Es wäre aber schade, wenn Du nichts weiter dazu sagen magst, nachdem Du mir kürzlich am Telefon davon erzählt hast.

Helga: Es gab so vieles, was sich mir tief eingeprägt hat und mir nach so viel Jahren noch immer wichtig ist. Dafür muß ich zeitlich ein bißchen zurückgreifen. Während meiner Arbeit im Londoner WRI-Büro organisierte die WRI eine weltweite Unterschriftenkampagne unter eine Petition an die Vereinten Nationen zur Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht. Abgesehen von ein paar eher offiziellen DDR-Adressen, wie dem Deutschen Friedensrat, hatte die WRI auch einige Kontakte zu Privatpersonen in der DDR. Sie alle erhielten natürlich auch diese Petition mit der Bitte um Unterschriftensammlung.

Es dauerte Monate, bis die Unterschriftenlisten aus aller Welt wieder in London eintrafen (noch keine flotten Faxe oder ähnliches wie heute). Und ich kann Dir gar nicht beschreiben, welchen Eindruck das bei der WRI hinterlassen hat und wie mich das ganz persönlich berührte, als im Laufe der Zeit in mehreren 20g-Briefumschlägen insgesamt an die 270 Unterschriften aus der DDR ankamen, immer soviel, wie auf eine DIN A4-Seite drauf passten – alle auf dem gleichen blauen Durchschlagpapier.

Es waren, glaube ich, aus aller Welt knapp 10.000 Unterschriften – aber für mich waren diese 270 aus der DDR fast so gewichtig, wie die anderen zusammen. Denn wir konnten uns gut vorstellen, was das für ein Risiko gewesen sein muß für diejenigen, die sich dafür eingesetzt hatten. Erstmal, eine Schreibmaschine, wer durfte die schon haben. Dann die Mühe, die Petition und die Liste an die 30 bis 40 x abzutippen, gleich mit vielen Durchschlägen zum Weiterreichen. Dann das Weiterreichen selbst und das Darüber-Reden mit anderen. Und daß solche „kritischen“ Geister ständig Kontakt hielten untereinander – das hat uns sehr berührt. Dabei konnten sie doch nie wissen, wie lange so etwas „gut geht“, ob jemand alles verpfeift, welches genau die Folgen wären.

Aus der Zeit schon stammte meine Hochachtung vor diesen Freunden. Viele Jahre später, Anfang 1980, habe ich einmal an einem der Königswalder Friedensseminare teilgenommen und traf zu meiner Überraschung und großen Freude endlich einen, dessen Namen ich aus meiner WRI-Zeit in London kannte, der evtl. schon Kontakt zur WRI hatte, als es die sogenannten Bausoldaten offiziell noch nicht einmal gab, als seine eigene Kriegsdienstverweigerung den DDR-Behörden die ersten Schwierigkeiten bereitete -, und ihm selbst natürlich erst recht. Deren Netzwerke scheinen mir viel älter und größer als die der Graswurzler und Gewaltfreien Aktionsgruppen, die Anfang der 1970er entstanden.

GWR: Wie wurden die Kontakte aufrecht erhalten?

Helga: Das war nie so ganz einfach. Wir hatten das Glück, Verwandte in Ostberlin zu haben und nutzten die Gelegenheit dann oft, auch die Freunde in Ostberlin zu besuchen, immer im Bemühen, weder Freunde noch Familie zu gefährden. Und immer mit etwas Angst, ob das gelegentliche Buch, die Schallplatte oder ein Artikelchen sicher durch die Grenze gebracht werden könnten und man nicht unterwegs beobachtet wurde.

Wolfgangs Teilnahme an dem Protest in Budapest im September 1968 gegen den Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten in die Tschechoslowakei und die Reaktion der DDR-Behörden darauf war immer im Hinterkopf als ein Gefährdungsgrund für die Freunde. Und als Westler auf Besuch im Osten Kontakt zur DDR-Friedensbewegung zu haben, war immer auch ein Gefährdungsgrund für die Familie.

Daneben entwickelten sich die Beziehungen ähnlich wie die zur Familie: Päckchen hin und wieder verschicken, Briefe und Karten zu den Festtagen. Mitteilungen über das tägliche Leben, wir erfuhren, wenn Kinder geboren wurden und wie sie sich entwickelten.

Wenn wir Glück hatten, hatte bei einem unserer Besuche der philosophische Arbeitskreis grad seinen Gruppenabend, so daß wir von ihnen auch etwas erfahren konnten. Oder wir berichteten über die Arbeit der Gewaltfreien Aktionsgruppen. Mir schien es, daß die Freunde fast immer das Gesetzbuch unterm Arm hatten, um herauszufinden, wie denn „Gewaltloser Widerstand“, „Sitzblockade“ oder „Ziviler Ungehorsam“ in den DDR-Gesetzen ihren Widerpart fänden, wie die Reaktionen sein könnten, wenn so etwas bei ihnen stattfände.

Und wir erfuhren, was passiert, wenn man bei offiziellen DDR-Großveranstaltungen den Mut hat, ein selbstgemaltes Plakat zu tragen; oder wie man Hase und Igel spielt, weil beim nächsten Mal schon die Polizei vor der Tür stand und den Freund mit seiner Plakatrolle verfolgte bis zur Demo und dort die Herausgabe des Plakates forderte – um feststellen zu müssen, daß diesmal nichts drauf stand.

Während in jeder Gruppe von aufmüpfigen Menschen weltweit oft überlegt wird, was zu tun ist, wenn eine Hausdurchsuchung ansteht, erfuhren wir dort, wie oft das konkret geschah, und wenn man Glück hatte, waren die unter den Kohlen versteckten wertvollen Bücher oder ähnliches nicht gefunden worden. Wer hat schon Lust, Kohlen zu schippen? Das mag lustig klingen, aber wenn bei jedem Treffen die Polizei das Haus beobachtet, kann man allen Humor verlieren. Die Geschichte der polizeilichen (oder war es die Stasi?) Beobachtungen – und viel mehr darüber hinaus – des Köngswalder Friedensseminars über viele Jahre hin, und daß es sich trotzdem von anfangs ca. 20 Leuten in einem privaten Wohnzimmer zu mehr als 700 in einer großen Kirche entwickelte, zeigte uns viel Einfallsreichtum und eine bewundernswerte Durchhaltekraft.

GWR: Wie habt Ihr das Ende der DDR und des Staatssozialismus in Europa erlebt? Wie bewertet Ihr den Einfluss der Bürgerrechtsbewegung?

Wolfgang: Das hat eine persönliche und eine politische Seite. Wenn ich an die persönliche Seite denke, die natürlich mit der politischen zusammenhängt, dann denke ich an die vielen Besuche bei meiner Mutter und anderen Verwandten in der DDR. Die vielen idiotischen Kontrollen – ein Beispiel:

Meine Mutter besuchte uns jährlich für 4 – 6 Wochen. Und in einem Jahr, Anfang der 80er Jahre fuhren wir mit ihr zurück nach Ostberlin. Wir hatten das Auto vollgepackt mit Schokolade, Kaffee, Äpfeln und allen möglichen Konserven. In meiner Aktentasche hatte ich ein Manuskript für ein Buch, das ich während des Urlaubs in Ostberlin in Ruhe zu lesen hoffte. Die DDR-Grenzer entdeckten das Manuskript, beratschlagten zwei Stunden oder mehr darüber und erlaubten Helga schließlich, es zurückzubringen zum Westberliner Kontrollpunkt, wo es für uns aufbewahrt wurde.

GWR: Was war das für ein Buch?

Wolfgang: Von Gunar Seitz: Ökologische Kriegsdienstverweigerung, das dann bei uns erschien. Während Helga ihre Wanderung vom Kontrollpunkt Ost nach West und zurück nach Ost machen durfte, mußte ich das ganze Auto ausladen und jedes einzelne Teil wurde geröntgt. So verbrachten wir den ganzen Nachmittag zwischen allen Stühlen – für meine Mutter als DDR-Bürgerin eine beängstigende Erfahrung – und für uns auch. Gegen Abend kamen wir dann doch wohlbehalten mit allem Gepäck, außer dem Manuskript, in ihrer Wohnung an.

Helga: Dazu ist noch zu sagen, daß diese Kriegsdienstverweigerung in dem Manuskript natürlich auch für die DDR-Grenzer beängstigend war. Sie wollten wissen, was wir damit vorhaben, wen wir besuchen wollen, wer der Autor ist und vieles mehr, was ich vergessen habe. Es waren mindestens 6 bis 7 Beamte in ständigem Rennen über den Hof zum nächsten Vorgesetzten am Entscheidungsprozeß beteiligt, ehe ich die Sachen in den Westen rübertragen durfte, zum Glück ohne weitere Nachteile für uns, was nicht selbstverständlich war.

Wolfgang: Unsere politischen Aktivitäten hier in der BRD hatten auch andere Familienmitglieder in der DDR zu spüren bekommen. Meine Schwester und ihr Mann erhielten wiederholt Besuch von der Stasi, die über ihre Kontakte zu uns und über unsere politische Betätigung mehr erfahren wollten. Offensichtlich waren wiederholt Briefsendungen abgefangen worden. Es handelte sich wohl um die GWR, und bei Öffnung des Umschlages sah jemand unsere Adresse von Versandbuchhandlung & Verlag bei den Kontaktadressen. Dies wurde vielleicht als Absender mißverstanden oder aber mit anderen Dingen in Zusammenhang gebracht und führte dazu, daß bei der Familie die Stasi auftauchte.

Es gab noch weitere Beispiele: Meiner jüngeren Schwester, die mehrere Jahre als Dolmetscherin mit DDR-Firmen in arabischen Ländern gearbeitet hatte, war es nach meinen Aktivitäten im Zusammenhang mit der Besetzung der Tschechoslowakei durch fünf Warschauer Pakt Staaten nicht mehr möglich, ins Ausland zu reisen.

So war es eine Erlösung, als ich am 1. Mai 1990 bei meiner Nichte in Ostberlin zu Besuch war, endlich frei reden zu können über unsere Arbeit und auch über unsere Kontakte zu Freunden in der DDR.

Das Ende der DDR und des Staatssozialismus haben wir zwiespältig erfahren. Natürlich waren wir froh, mit unseren Freunden in der DDR nun frei kommunizieren und uns mit ihnen treffen zu können. Auf der anderen Seite teilten wir ihre Ansichten für einen freien und freiwilligen Sozialismus, womit sie in der DDR eine Minderheit waren und auf viel Widerstand stießen. Das hat uns sehr geschmerzt. Es zeigt die Grenzen der Oppositions- und Bürgerrechtsbewegung, die durch ihre Aktivitäten die Menschen dazu ermutigt haben, sich gegen den Staat offen aufzulehnen, aber mit ihrer Forderung nach einer DDR in Freiheit nicht durchkamen.

GWR: Wolfgang, Du warst 1965 Gründungsmitglied und Mitherausgeber der Direkten Aktion (2). Kannst Du beschreiben, wie sich die Direkte Aktion entwickelt hat?

Wolfgang: Ich habe in der letzten Ausgabe der Graswurzelrevolution ja schon einiges zu der Arbeit des Kreises um die Direkte Aktion gesagt und in welchem politischen Kontext die Arbeit stand. Einer der wichtigsten Aspekte bei der Gruppe bestand wohl darin, daß es sich im Kern um einen Freundeskreis von bis zu 10 Leuten handelte, die sich in wechselnder Zusammensetzung mehrere Male in der Woche trafen. Wenn es nicht um die Vorbereitung von Veranstaltungen oder Aktionen ging, kamen wir zusammen zu nichts anderem als freundschaftlichem Beisammensein mit Wanderungen oder Musik. Es wurden auch Protestsongs getextet und komponiert. Oder es wurden Bücher diskutiert – nicht nur politische oder sozialkritische Literatur. Wichtig waren die Vorstellungen der Sarvodaya-Gesellschaft, wie sie von Gandhi, Vinoba Bhave und anderen in Indien entwickelt worden waren und die im wesentlichen die indische Variante einer anarchistischen Gesellschaft darstellen. Auf diese Weise versuchten wir Gewaltlosigkeit und Anarchismus zu verbinden und Protagonisten und Gruppen solcher Vorstellungen in Europa zu entdecken. Im Zusammenhang mit Gandhi stießen wir auf Tolstoi, entdeckten Landauer und andere. Als Ausweg aus dem Dilemma von Zentralismus und Bürokratie, auch im Zusammenhang mit Sozialismus, sahen wir die Bildung von Affinitätsgruppen von 10-15 Menschen, in denen ein festeres Gemeinschaftsleben, Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Selbstorganisation eher garantiert ist und der Verwirklichung einer direkten, freiheitlichen Demokratie näher kommt.

Bald nach dem Beginn der Zeitschrift Direkte Aktion bin ich nach England gegangen und habe die Aktivitäten nur aus der Ferne verfolgen können. So weit ich das feststellen konnte, hat die Gruppe im Zusammenhang mit dem Vietnamkrieg verstärkt Aktionen organisiert, so daß es bald Schwierigkeiten gab, beides – Zeitschrift und Organisieren von Aktionen – unter einen Hut zu bringen.

GWR: Was ist aus den anderen Redaktionsmitgliedern geworden? Habt Ihr noch Kontakt?

Wolfgang: Als ich 1973 nach Deutschland zurückkam, existierte die Redaktion nicht mehr. Bei einigen wenigen Besuchen in Hannover habe ich vier FreundInnen wiedergesehen, die alle im Berufsleben standen. Einer von ihnen war politisch noch sehr aktiv. Er starb vor etwa zehn Jahren. In der Tageszeitung in Hannover stand ein kurzer Nachruf auf ihn, wo er als sozialistisches Urgestein beschrieben wurde. Einen weiteren Freund habe ich vor 25 Jahren bei einer Fahrt an den Bodensee getroffen, der dort in einer anthroposophischen Einrichtung für Behinderte arbeitete. Mit einem Freund in Hannover stehe ich noch in losem Kontakt. Vor drei Jahren hatte die Graswurzelgruppe Hannover mit anderen „Anarchistische Tage“ organisiert, bei denen er mit seinem Sohn an einigen Veranstaltungen teilgenommen hat und Du ihn auch kennen gelernt hast.

Noch einige Worte zu zwei Leuten, die nicht zur Redaktion gehörten, aber zum weiteren Kreis. Es muß etwa 1970 gewesen sein. Vielleicht war es in dem Jahr als meine jüngere Schwester starb und wir zur Beerdigung in Ostberlin waren und ich mehrere Wochen in Deutschland war, auch in Hannover. Wir trafen auf einen Freund, der, so weit ich mich erinnere, zu der Zeit studierte und angab, politisierende Bewußtseinsarbeit mit Drogen zu machen. Wir kannten in swinging London natürlich diese Vorstellungen, hatten darüber diskutiert und auch Beobachtungen gemacht und festgestellt, daß mit Experimenten dieser Art leichtsinnig umgegangen wird und Menschen in heillose Verwirrung und Depression geraten können. Auf jeden Fall waren wir entsetzt zu sehen, in welche Richtung ein Mensch aus der Gruppe um die Direkte Aktion sich entwickelt. Jahre später wurde er Verleger einer Stadtzeitung.

Eine Frau, die wenige Monate vor meinem Umzug nach London zu unserer Gruppe gestoßen war ist später zur RAF gegangen. Sie ist im Flugzeug in Mogadischu umgekommen. Es hat mir einen riesigen Schreck eingejagt, als ich das Jahre später erfuhr. Für mich war das besonders schmerzlich, denn sie hatte gesagt, daß sie wesentliche Anregungen für ihr Denken von mir erhalten hat. Es ist schon eine unbegreifliches Geschichte, in welcher Weise Menschen mitunter Anregungen für ihr eigenes Leben verarbeiten.

GWR: Ihr kennt die Graswurzelrevolution seit mehr als 30 Jahren. Wie seht Ihr die Entwicklung der GWR? Was gefällt Euch? Was fehlt oder missfällt Euch, wenn Ihr die letzten Jahrgänge betrachtet?

Wolfgang: Die Graswurzelrevolution ist eine Zeitung für soziale Bewegungen, besonders gewaltlose Graswurzelbewegungen. Sie berichtet über ihre Aktionen, Ideen und Strategien in vielen Teilen der Erde und hilft mit Analysen und Auswertungen Erfolge und Mißerfolge zu erklären und zu verstehen. Sie analysiert nationale und internationale Regierungspolitik, vor allem wo sie in Beziehung steht zu der Arbeit und den Kampagnen sozialer Bewegungen. Es gibt aber Fragen, von denen die meisten Menschen betroffen sind, also auch Menschen, die die Graswurzelrevolution lesen und ihr schreiben. Aber dennoch wird in dieser Zeitung kaum etwas darüber geschrieben. Dazu gehört die Frage der sozialen Sicherheit, der Gesundheit, der Krankenversicherung, der Rentenversicherung. Ich war daher froh, daß in der Nummer 279 ein Beitrag von Horst Blume zu Fragen um den Sozialabbau erschien. Wie stehen wir eigentlich zu einem System der sozialen Sicherung, vor allem Kranken- und Rentenversicherung, die vom Staat gelenkt, kontrolliert und garantiert wird? Diese Fragen scheinen mir aktuell zu sein, vor allem angesichts der Tatsache, daß es immer mehr Stimmen gibt, die eine völlige Privatisierung der Alters- und Krankenversicherung fordern. Damit hätten wir ja nicht mehr ein System der sozialen Sicherheit, sondern der sozialen Unsicherheit, die von Profit bestimmt wird und dem weltweit rotierenden Kapital mit verheerenden Folgen an den Börsen – siehe das Schicksal der US-Rentenkassen vor einigen Jahren. Gibt es selbstbestimmte und selbstverwaltete Systeme der sozialen Sicherheit? Wie sah es vor der Einführung der staatlichen Alters- und Krankenversicherung aus? In England ist das erst etwas mehr als 50 Jahre her, und einige dieser Einrichtungen sollen bis heute überlebt haben, wenn auch in reduzierter Form. Gibt es Alternativen oder Gegenstrategien zur unheiligen Allianz von Pharmaindustrie, Regierung und Parlament, Krankenkassen und Ärzteschaft mit den Folgen, daß Menschen durch Behandlung oft in Krankheit und Abhängigkeit gehalten werden? Sollten uns diese Fragen nicht interessieren?

GWR: Wie weit entspricht Eurer Meinung nach die Graswurzelrevolution sowohl als Zeitung als auch als „Bewegung“ dem Ideal der Gewaltfreiheit, das z.B. von Gandhi aufgestellt wurde?

Wolfgang: Ich denke, daß Gandhis Handeln und Denken in mancher Hinsicht nicht einem Ideal von Gewaltlosigkeit entspricht. Dazu sind einige Seiten seines Handelns und Denkens zu sehr gebunden an den geschichtlichen und kulturellen Kontext in Indien. Vieles, was in den vergangenen Jahrzehnten in der gewaltlosen Bewegung in vielen Teilen der Erde entwickelt worden ist und was ein Geben, Lernen und Zurückgeben mit neuen Erfahrungen und Ideen beinhaltet, geht über Gandhi hinaus. Bezugsgruppenmodell, Konsens und andere Elemente von Graswurzelbewegung wurden in Gandhis Indien nicht in der Weise, wie wir es kennen, praktiziert. Dafür war Gandhi selbst wahrscheinlich zu sehr Autokrat, Autorität oder Guru. Die Graswurzelrevolution hat seit ihrem Bestehen daran gearbeitet, die Verdienste und Bedeutung Gandhis für eine weltweite gewaltlose Bewegung herauszuarbeiten, und an der Weiterentwicklung von Aktion und Theorie gewaltloser Aktion in unterschiedlichen kulturellen und politischen Kontexten mitgewirkt. In dieser Weise führt sie vielleicht fort, was Gandhi meinte, wenn er sagte: „My Life is My Message“ (Mein Leben ist meine Botschaft).

GWR: Die Graswurzelbewegung erlebt zwar immer mal wieder Hochs. Insgesamt ist die Zahl der aktiven Graswurzelgruppen aber klein, nicht erst seit Auflösung der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA). Nicht wenige ehemalige GraswurzelrevolutionärInnen haben sich entpolitisiert, sich zurückgezogen oder sie sind, wie z.B. Michael Schroeren (3), ins parteipolitische Lager abgewandert. Nicht alle bleiben so lange ihren gewaltfrei-libertären Idealen treu wie Ihr. Wie erklärt Ihr euch das?

Wolfgang: Es gab ja bemerkenswerte Unterschiede zwischen uns und den meisten Menschen, die in den Gewaltfreien- und Graswurzelgruppen aktiv waren. Auf dem ersten Weihnachtstreffen der Graswurzler 1973 waren einige TeilnehmerInnen kaum 18 Jahre alt und außer uns nur zwei oder drei älter als 25 Jahre. Wir hatten, als wir vier Monate später mit der Koordinationsarbeit der Gruppen in der Graswurzelwerkstatt (GWW) anfingen, viele Berufsjahre hinter uns, und ich war 45 Jahre alt. Berufsjahre können einem eine gewisse Distanz zu den Zielen und Grundsätzen von Gewaltlosigkeit, Anarchismus und Revolution verschaffen. Das Alltagsleben, die Sorgen, Nöte und Freuden von ArbeiterInnen und Angestellten hautnah kennen zulernen und zu teilen, machte uns in der Arbeit für Gewaltlosigkeit, Anarchismus und Revolution bescheidener als viele der 20jährigen, die studierten oder in der Berufsausbildung standen. Es ist eine meiner Vorstellungen, daß jemand, der oder die hauptamtliche Arbeit im Graswurzelzusammenhang oder in der Friedensbewegung macht, eine 5jährige Erfahrung in einem „normalen“ Beruf haben sollte. Wir haben gegen Anfang unserer Arbeit in der GWW jemanden gehört, der zu Beginn seiner Mitarbeit an der Graswurzelrevolution die Vorstellung hatte, daß man nur genügend Zeitungen verkaufen müsse und die Menschen damit schon von den Ideen überzeugen könne, denn sie seien doch zwingend. Er wird zu der Zeit kaum älter als 18 Jahre gewesen sein. Wir waren schockiert und sprachlos. Dies mag 30 Jahre später etwas vereinfacht wiedergegeben sein, trifft aber den Kern dessen, was er sagte. Solche Sachen muß man natürlich im Zusammenhang mit der Atmosphäre der damaligen Zeit sehen, die für viele Menschen heute kaum nachvollziehbar ist. Auch ich mußte das damals erst lernen. Viele Graswurzler bis Ende der 70er Jahre bezogen wesentliche Anstöße aus den Ereignissen und Ideen der 68er. Als ich dies das erste Mal von einem Graswurzler hörte, mußte ich erst mal tief Luft holen, bis mir klar wurde, wo die Unterschiede zwischen ihm und mir liegen. Wir hatten die Ereignisse seit 1967 in London zwar nur gebremst wahrgenommen, dabei aber deutlich die negativen Tendenzen gesehen, die sich dann vor allem in den K-Gruppen manifestierten – und natürlich der RAF. Für uns gehörte das mit zu 68 und machte uns skeptisch.

Das Studium und die streckenweise begeisterte Arbeit und die Gemeinschaft in den Graswurzelgruppen erfuhr bei vielen im Beruf eine mitunter niederschmetternde Ernüchterung. Daraus erwuchs bei so manchem und mancher eine Ablehnung der eigenen Vergangenheit. So etwas haben wir wiederholt gehört. Natürlich gibt es dabei noch andere Faktoren. Heirat und Familie gehören dazu. Familie war für manche auch so eine überraschende Erfahrung, denn in den 70ern waren viele entschiedene Gegner von Familie und Anhänger vom Leben in Kommunen, wo die typischen patriarchalen Strukturen der Familie vermieden werden können.

Helga: Ich möchte noch „ein Wort einlegen“ für einige unserer besten Weggefährten, die heute für uns unsichtbar scheinen. Wie Wolfgang schon gesagt hat, schienen wenige eine Vorstellung von den Schwierigkeiten zu haben, die mit dem Leben im Broterwerb einhergehen, oder wie sich die Utopien übertragen lassen, was bei der Altersstruktur nicht verwunderlich war. Das mag dazu geführt haben, daß so mancher, der einen dieser anderen Wege einschlug, sogar als „Verräter“ betrachtet wurde. Ich erinnere mich an Gespräche mit einem, der sich wegen dieser Anschuldigung zurückzog und erst danach für uns verloren schien. Vielleicht ist es die Absolutheit in den Ansprüchen, die uns so viele gute Leute hat verlieren lassen.

Aber wer sagt denn, daß sie verloren sind? Ich denke an eine ganze Reihe ganz besonderer Frauen und Männer, die den Gruppen, der Zeitung, den Ideen über viele Jahre eng verbunden waren und alle ihre Energie und Kreativität einbrachten – zu unser aller Bereicherung. Sie stehen heute teils mit ihrem Broterwerb, teils darüber hinaus im ehrenamtlichen Bereich noch immer in der guten Tradition des Engagements. Aber nicht sichtbar für uns, weil wir grad dort nicht selbst wohnen, die Kontakte nicht aufrecht halten können. Und ich weiß von einigen von ihnen, daß sie ihre Arbeit noch immer als „Graswurzelarbeit“ verstehen. Was es in der Tat auch ist. Eine der Frauen erzählte mir vor einigen Jahren, daß die Zeit und die Ideen in den GAs ihr dieses Handwerkszeug vermittelt hätten, das sie bei ihrer Arbeit braucht und anwendet. Also ist es vielleicht so, daß nur, weil wir es nicht wissen, uns das als Verlust erscheint? Oder weil es nicht koordiniert unter unserem Namen läuft? Und doch wird es gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben – zumindest in der Region, wo sie lebt.

Ich bin da etwas zuversichtlicher, was diese scheinbar Unsichtbaren angeht, obwohl ich deren kleine Zahl natürlich sehe gegenüber all den hunderten, die durch GA-Gruppen berührt und bewegt wurden. Vielleicht auch, weil ich einigen dieser Männer und Frauen immer wieder begegne bei den Jahrestagungen des Versöhnungsbundes, jetzt sogar mit ihren immer erwachsener werdenden Kindern in einigen Fällen. Das ist sehr schön, denn es macht mir auch Mut in manchmal mutlosen Zeiten, wenn ich sie dort wiedertreffe, die ich ursprünglich vor 30 Jahren bei den Gewaltfreien Aktionsgruppen traf.

Wolfgang: So ganz stellt mich diese Sicht nicht zufrieden. Ich denke dabei an unsere Arbeit in der WRI. Noch gegen Ende der 60er Jahre haben KDVer des Ersten Weltkrieges Kontakt zur WRI gehalten, haben Spenden geschickt und gelegentlich kam Geld aus dem Nachlaß von KDVern, die gestorben waren. Uns hat das damals wie heute ungemein beeindruckt. Einige dieser Freunde haben wir auch noch persönlich kennen gelernt. Solch eine langfristige, lebenslange Verbundenheit haben wir nicht und das vermisse ich.

Helga: Leider haben wir Graswurzler es nicht geschafft, mehr dieser Menschen zusammen zu halten, was zu den Aufgaben der Organisationsbildung gehört hätte.

GWR: Was wünscht Ihr euch für die Zukunft?

Helga: Hier beschränke ich mich auf den persönlichen Bereich: Ich wünsche uns genug Gesundheit und Energie für noch viele Jahre, damit wir weiter mitmischen können, wo es uns wichtig ist.

Wolfgang: Als um 1980 die Bewegung gegen die Mittelstreckenraketen an Momentum gewann, war mein Eindruck, daß die Graswurzel- und Gewaltfreien Aktionsgruppen nicht unbedingt gestärkt aus dieser Bewegung hervorgehen würden. Wir waren diejenigen, die Gewaltlose Direkte Aktion und Zivilen Ungehorsam in Deutschland auf die Tagesordnung gebracht haben, und zeitweise wurden diese Fragen weithin in der Öffentlichkeit diskutiert. Gruppen und Organisationen, die diese Aktionsformen noch wenige Jahre vorher abgelehnt hatten, übernahmen sie nach und nach. Neue Organisationen wurden gegründet, für die diese Aktionsformen jetzt selbstverständlich waren. Einige Gruppen und Organisationen lösten sich auf oder verloren an Bedeutung, zu denen auch die Graswurzelgruppen gehörten. Es wäre sicher interessant zu untersuchen, was zu diesem Niedergang beigetragen hat, und vielleicht kommt ja noch einmal eine Diskussion darüber in gang. Vielleicht gibt es dann etwas Klarheit darüber, wo die Schwächen bei uns lagen und ob es Faktoren gab, die außerhalb unserer Kontrolle lagen. Auf jeden Fall wünsche ich uns eine lebendige und kraftvolle Graswurzelbewegung, für die es in unserer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation viele Aufgaben gäbe.

GWR: Gibt es etwas, das Ihr den GWR-LeserInnen mit auf den Weg geben wollt?

Wolfgang: Ich denke, daß in diesem Interview einige unserer Erfahrungen zum Ausdruck gekommen sind und vielleicht kann die eine oder der andere daraus etwas mit auf seinen Weg nehmen.

GWR: Liebe Helga, lieber Wolfgang, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

(1) Von 1988 bis 1992 habe ich im Münsteraner Umweltzentrum gearbeitet. Wir hatten einen regen Publikations- und Infoaustausch mit der Ostberliner Umweltbibliothek. Im Westen konnten wir ein wenig zur Verbreitung der anarchistischen DDR-Untergrundzeitung Kopfsprung und der Ostberliner Umweltblätter beitragen. Die Umweltblätter waren für uns so etwas wie eine "Graswurzelrevolution der DDR".

Zur Geschichte von Kopfsprung, Umweltblättern, telegraph u.a. siehe auch: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998

(2) Die Direkte Aktion erschien 1965/66 in Hannover. Wer sich die 13 Ausgaben der "Blätter für Anarchismus und Gewaltfreiheit" (Untertitel) anschaut, kann erkennen, dass es sich um eine Vorläuferin der GWR handelt.

(3) Michael Schroeren war in den späten 70ern GWR-Redakteur. Heute ist er grüner Politiker und Pressesprecher des Bundesumweltministeriums.

(4) Anm. zur Abbildung auf dieser Seite, von Wolfgang Zucht: "Lilian hat viele Jahre lang Freedom Bookshop gemanagt und AnarchistInnen in der ganzen Welt kannten sie dadurch. Als sie 90 Jahre wurde, haben Anarchisten aus der ganzen Welt gesammelt, um ihr eine Reise in die USA zu ermöglichen. Mit 94 Jahren hat sie eine Busreise nach Italien gemacht. Sie wollte den Apoll in Florenz sehen. Die Mitreisenden wollten ihr immer die Reisetasche tragen. Dazu meinte sie: 'Ich bin doch kein Krüppel, daß sie mir die Tasche tragen müssen.'"

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