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Schon wieder wir?

"Anarchistische Briefbomber in Italien"? Die Verdrehung des Anarchiebegriffs und Diffamierung der FAI als "terroristisch".

| Bernd Drücke

"Die Außergesetzlichen haben in gröbster Weise die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört (...). Diese Personen nützen nicht nur alle Lücken der Paragraphen eines Rechtsstaates aus, sondern benehmen sich wie Tiere, auf die die Anwendung der für Menschen gemachten Gesetze nicht möglich ist. (...) Wir wollen keine Anarchie und keine Terrorbanden." Franz Josef Strauß (1)

Versetzen wir uns zurück in die Bundesrepublik der 1970er und 80er Jahre, in die Zeit der „Terroristenhysterie“. Auf den Fahndungsplakaten prangten unter dem Titel „ANARCHISTEN – Vorsicht Schusswaffen“ die Gesichter von gesuchten Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF). Obwohl sich die RAF selbst als marxistisch-leninistische Kadergruppe verstand und sich vom Anarchismus distanzierte, wurden die „Leninisten mit Knarre“ (2) als „anarchistische Gewalttäter“ gejagt. Die permanente Verwendung der Begriffe „Anarchist“ und „Anarchie“ als Schlagwörter diente zur Schaffung eines Reizklimas (3). Das Klischee vom Bomben werfenden Anarchisten spukte nicht nur in den Köpfen von Politikern wie Willy Brandt (SPD) und Franz Josef Strauß (CSU). Der Hass auf „Anarchisten“ war Teil des Mainstreams und das Wort in aller Munde. Das heißt nicht, dass den Leuten die Bedeutung des Begriffs bekannt war. Das bürgerlich-liberale Bewußtsein hat nicht unterschieden zwischen Kommunisten, Anarchisten, Militanten und Linken. Für die meisten Leute war das alles „ein Sumpf“.

Eine öffentliche Wahrnehmung von Libertären als Solche? Fehlanzeige.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Gabriele Voser, die die Rezeption der Anarchie- und Anarchismusbegriffe am Beispiel der Magazine Weltwoche und Der Spiegel im Zeitraum 1968 bis 1975 untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass die von ihr festgestellte journalistische Denunzierung des Anarchismus zur Schaffung eines Reizklimas und einer „kollektiven Psychose“ beitragen könne: „Ist die Psychose erst einmal da, so ist die Voraussetzung zum Pogrom geschaffen. Die Geschichte lehrt, dass verbale Gewalt zu Verfolgung und physischer Vernichtung führen kann“.

Haben sich die Zeiten geändert?

Franz Josef Strauß hat die Flinte 1988 für immer ins Korn geworfen. Seine Jagd auf „Anarchisten“ und „langhaarige, verdreckte Vietconganhänger, die da öffentlich Geschlechtsverkehr treiben unter Bäumen“ (4), ist Geschichte. Aber die Gleichsetzung von „Anarchie“ mit „Chaos und Terror“ und von „Anarchisten“ mit „Terroristen“ ist immer noch üblich. Beispielhaft dafür ist die derzeitige Berichterstattung über die „Briefbomben“-Anschläge gegen führende Politiker der Europäischen Union.

Anarchistische Briefbombenanschläge gegen die EU?

Titelschlagzeilen im Januar 2004:

„Anarchistengruppe bekennt sich zu Briefbombenanschlägen / Briefbomben: Anarchisten sagen EU den Kampf an / Bolognas Anarcho-Szene mit neuem Feind / Europa-Anarchisten sind kaum zu fassen / Anarchisten im Blick der Fahnder / Sondereinheit gegen ‚Anarchisten‘ / Die Anarchisten und ihr neuer Feind“

Mindestens 77 „Paket- und Briefbomben“ sollen nach Angaben italienischer Behörden seit Oktober 2003 von „Anarchisten“ versand worden sein (Stand: 21.01.2004). Hinter den Anschlägen stehe die „anarchistische Gruppe“ FAI (Federazione Anarchica Informale). Der frei erfundene Name dieser Fraktion ist eine Modifikation der real existierenden FAI (Federazione Anarchica Italiana).

Italiens rechtsgerichteter Innenminister Pisanu behauptete, die FAI „vereinige die extremsten Verfechter der Anarchie und des Marxismus-Leninismus“. Als dann auch in anderen EU-Staaten „Briefbomben“ auftauchten, redete er ein „Kartell europäischer Anarchistengruppen“ herbei. Es sei eine „Liste mit den Namen von 250 Personen erstellt worden, die mit der anarchistischen Szene in Verbindung gebracht werden“. Seitdem werden Razzien in besetzten Häusern Bolognas durchgeführt und eine EU-weite „Anti-Anarchisten Sonderkommission“ wurde eingerichtet.

Um ein Klima der Angst zu schaffen, waren sich die italienischen Repressionsorgane und Medien auch in jüngster Zeit nicht zu schade haarsträubendste Konstruktionen für die Öffentlichkeit zu erfinden. Ein Beispiel: Da sich eine anarchistische Gruppe in Rovereto im Zusammenhang mit den Protesten gegen das Treffen der EU-Außenminister im September 2003 in Riva del Garda in einem Artikel mit der Privatisierung und Verknappung des Trinkwassers beschäftigt hat und die Rolle der multinationalen Konzerne betonte, galten vergiftete Mineralwasserflaschen, die in einigen italienischen Supermärkten verkauft wurden, als „anarchistischer Anschlag“. (5)

Nun ist in den Agenturmeldungen von Brief- und Paketbomben die Rede, obwohl keiner der Briefe Sprengstoff enthielt. Nach Angaben des Kriminologen Christian Pfeiffer enthalten diese Umschläge „keinen Sprengstoff, sondern eine brennbare Substanz, die beim Öffnen in eine Stichflamme aufgeht.“ (6)

Die vom rechten Staatschef Berlusconi dominierten Massenmedien in Italien und auch die Boulevardpresse in Deutschland betreiben unhinterfragt, ohne Durchblick und kritische Recherche eine Hetzkampagne gegen Anarchisten.

Diese anti-libertäre Propaganda wird hierzulande aber keineswegs nur von der rechten Springerpresse übernommen.

„Die EU im Visier. Internationale Ermittlergruppe soll nach Briefbomben-Attentätern fahnden“

So der Titel des Artikels von Olaf Stanke, der am 8. Januar 2004 in der PDS-nahen Tageszeitung Neues Deutschland (ND) erschienen ist. Auch dieser ND-Text erweckt den Eindruck, als handele es sich bei den Attentätern tatsächlich um Anarchisten und Mitglieder der FAI. Das ist irreführend. Die anarchistische FAI organisiert zum Beispiel Anti-Kriegs-Kampagnen, Demonstrationen, Streiks und direkte gewaltfreie Aktionen. Mit den Anschlägen hat dieser libertär-sozialistische Zusammenhang nichts zu tun. Am 28. Dezember 2003 hat sich die FAI von den Tätern ausdrücklich distanziert (siehe Erklärung auf dieser Seite). Die mit „FAI“ unterzeichneten Selbstbezichtigungsschreiben sind offensichtlich als Versuch zu werten, die Taten der libertären Szene unterzuschieben. Durch die verdrehende Berichterstattung über die Attentate, bei denen Menschen gefährdet werden könnten und die deshalb grundsätzlich von GraswurzelrevolutionärInnen abgelehnt werden, soll der Begriff „Anarchist“ wieder einmal mit „Terrorist“ assoziiert werden.

Briefbombenanschläge waren bisher eine „Spezialität“ rechtsextremer und faschistischer Gruppen, also der erklärten Feinde der AnarchistInnen. Die Federazione Anarchica Italiana vermutet, dass die Taten von Agenten oder Kollaborateuren der Polizei begangen wurden. Auch die Sprache der „Federazione Anarchica Informale“ nährt den Verdacht, dass es sich bei den Tätern um Faschisten oder verdeckt operierende Polizisten handelt. In einem der Bekennerschreiben ist von einem „marxistische[n] Krebsgeschwür“ die Rede.

Der Stil der Anschläge weckt Erinnerungen an die „Strategie der Spannung“ in den 1970er Jahren, als viele Bluttaten von Rechten verübt wurden, aber linken und anarchistischen Gruppen in die Schuhe geschoben werden sollten.

„Polizeiagenten, meist Faschisten, führten (…) unzählige Terroranschläge durch, für die dann Anarchisten und Autonome verfolgt und oft jahrelang unschuldig eingesperrt wurden. Netzwerke wie P2 und Gladio waren in Italien federführend. Das Netzwerk P2 (Propaganda Due) wurde 1969 vom Faschisten Licio Gelli gegründet. Gelli war bereits bei den ‚Schwarzhemden‘ Mussolinis aktiv. (…) In der P2 waren rund 2500 führende Personen der italienischen Gesellschaft. (…) Berlusconi hatte damals die Mitgliedsnummer 1816. Ziel der Organisation, so das Ergebnis der Untersuchungen sei der Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung durch einen ‚colpo bianco‘, einen weißen Staatsstreich. (…) Bereits beim ersten Anschlag der Spannungsstrategen am 12. Dezember 1969 in der Mailänder Landwirtschaftsbank auf der Piazza Fontana (16 Tote, über 80 Verletzte), den neofaschistische Terroristen durchführten, war ein Agent provocateur am Werk, der die Spuren nach links lenken sollte. Der als Geheimdienstagent angeworbene Neofaschist Mario Merlino gründete einen anarchistischen Zirkel, für den er den Ballett-Tänzer Pietro Valpreda anwarb, der danach mit falschen Zeugenaussagen als einer der Organisatoren des Attentats präsentiert wurde. (…) Der Neofaschist und Angehörige der NATO-Gruppe ‚Gladio‘, Gianfranco Bertoli, führte im Mai 1973 einen Bombenanschlag auf das Mailänder Polizeipräsidium durch (vier Tote, 52 Verletzte). Dabei sollte auch Ministerpräsident Rumor getötet werden, der jedoch zu spät eintraf und so dem Attentat entging. P2 ist Anfang der 80er Jahre außerdem als für etliche Morde verantwortlich bekannt geworden (sic!) (politische Gefangene fielen bei Polizeiverhören aus dem Fenster (nachzulesen auch bei Dario Fo: ‚Zufälliger Tod eines Anarchisten‘). (…) Das blutigste Attentat der Nachkriegsgeschichte war der Anschlag auf den Bahnhof von Bologna am 2. August 1980. 85 Menschen wurden getötet und mehr als 200 verletzt. Auch hier konnte die Führungsspitze der P2 als verantwortlich ausgemacht werden. (…) 1982 wurde P2 für aufgelöst erklärt. (…) Kenner der Szene gehen davon aus, dass einzelne Strukturen erhalten blieben und heute als ‚P3‘ weiter im Untergrund operieren.“ (7)

Nichts ist unmöglich, nicht alle AnarchistInnen sind gewaltfrei, und auch in libertären Zusammenhängen mag es Knallköppe geben, aber es ist eher unwahrscheinlich, dass hinter den „FAI“-Anschlägen tatsächlich AnarchistInnen stecken.

Es ist ein Skandal, dass Medien, wie z.B. ND, tagesschau, Süddeutsche Zeitung und Telepolis, die oben skizzierten Sachverhalte nicht herausstellen und die Distanzierungserklärung der real existierenden FAI unterschlagen. In der Berliner taz war immerhin zu lesen, dass es sich bei den Attentätern nicht um Mitglieder der FAI handelt.

„Anarchie im Irak“

Auf den ersten Blick und im Vergleich zur Anti-FAI-Hetze wohl eher harmlos, aber ein weiteres Beispiel für die Verdrehung des Anarchiebegriffs liefert die Berichterstattung zum Angriffskrieg der USA und ihrer „Koalition der Willigen“ im Irak. So behauptet das Nachrichtenmagazin Der Spiegel unter der Überschrift „Kampf gegen die Anarchie“ (8): „Die Amerikaner wollen der wuchernden Anarchie im Irak nicht länger zusehen.“ Auch die Süddeutsche Zeitung (9) beschäftigt sich mit der angeblichen „Anarchie im Irak“. So kommentiert SZ-Redakteur Stefan Kornelius die Situation nach dem Anschlag auf das UNO-Gebäude als „Logik der Anarchie“: „Anarchie ist der Zustand der Rechtlosigkeit, Anarchie steht für die Auflösung aller Herrschaft, für Willkür, Chaos, die Abwesenheit aller ordnenden Gewalt.“

Unsinn! Die chaotischen, menschenfeindlichen Verhältnisse im Irak wurden und werden durch die Herrschaft von Menschen über Menschen, durch Staatsterrorismus, Militär und Krieg herbeigeführt. Das, was im Irak geschieht, hat viel mit staatlicher Gewalt und Gegengewalt, aber nichts mit „Anarchie“ (griech. „ohne Herrschaft“) zu tun.

Für Immanuel Kant war Anarchie „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“, für GraswurzelrevolutionärInnen ist Anarchie eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft. (10) Anarchie ist das Ziel, Anarchismus der Weg dahin. AnarchistInnen und andere libertäre SozialistInnen wollen nicht Chaos und Terror. Der italienische Anarchist Errico Malatesta (1853-1932) beantwortete die Frage „Warum sind wir Anarchisten?“ wie folgt:

„Abgesehen von unseren Vorstellungen über den politischen Staat und die Regierung, das heißt die zwangsmäßige Organisation der Gesellschaft, die unser spezifisches Wesensmerkmal bilden, abgesehen auch von unseren Ideen über die beste Möglichkeit, allen Menschen die Benutzung der Produktionsmittel und die Beteiligung an den Vorteilen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu garantieren, sind wir Anarchisten aufgrund unseres Gefühls, das die Triebfeder sämtlicher gesellschaftlicher Erneuerer ist, ohne das unser Anarchismus eine Lüge oder ohne Sinn wäre. Dieses Gefühl ist die Liebe zu den Menschen, ist die Tatsache, an den Leiden der anderen zu leiden. (…) wenn ich esse, dann kann ich keinen Geschmack daran finden, wenn ich denke, dass Menschen Hungers sterben; wenn ich meiner kleinen Tochter ein Spielzeug kaufe und ganz glücklich über ihre Freude bin, dann wird diese Freude schnell getrübt, wenn ich vor dem Schaufenster des Händlers Kinder mit weit aufgerissenen Augen sehe, die mit einem Pfennigpüppchen glücklich gemacht werden könnten; wenn ich mich vergnüge, dann verdüstert sich mein Gemüt, sobald mir in den Sinn kommt, dass es Unglückliche gibt, die im Kerker schmachten; wenn ich studiere oder eine Arbeit mache, die mir gefällt, empfinde ich so etwas wie Gewissensbisse, wenn ich daran denke, wie viele es gibt, die klüger sind als ich und gezwungen sind, ihr Leben in einer abstumpfenden, oft unnützen oder schädlichen Arbeit zu vergeuden. Reiner Egoismus, wie ihr seht, doch ein Egoismus, den andere Altruismus nennen und ohne den niemand ein wirklicher Anarchist sein kann.“ (11)

(1) Klaus Staeck, Einschlägige Worte des Kandidaten Strauß, Steidl Verlag, Göttingen 1979

(2) "agit 883" (Berliner Anarchoblatt), unmittelbar nach Gründung der RAF

(3) Vgl. Gabriele Voser, Anarchismus - ein Reizwort in der öffentlichen Meinung, Frankfurt/M. 1982; Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998

(4) F.J. Strauß 1967 über linke StudentInnen

(5) Vgl. Egon Günther, Absender: Anarchist, in: Jungle World Nr. 4, Berlin, 14.01.04

(6) www.nd-online.de/ artikel.asp ?AID=47051 &IDC=2

(7) www.de.indymedia.org

(8) www.spiegel.de/ politik/ ausland/ 0,1518,260521,00.html

(9) SZ, 20.8.2003

(10) Informationen dazu: www.graswurzel.net

(11) Errico Malatesta, Anarchie, Karin Kramer Verlag, Berlin 1977