Noch am frühen Morgen des 11. März schien der Wahlsieger des 14. März festzustehen. Alle Umfragen sahen den Partido Popular (PP) mit absoluter Mehrheit weiterregieren, Aznar gegen Rajoy ausgetauscht, Schnauzbart gegen Schnurbart, aber sonst ändert sich nix im Staate Spanien.
Im Verlaufe des Tages wurden immer mehr Details des Attentates bekannt, die Zahl der Toten stieg stündlich, am Mittag hieß es, es seien um die 70. Das ganze Land befand sich im Ausnahmezustand, der Unterricht an Schulen und Universitäten wurde suspendiert. Die Regierung sah als Hauptverdächtigen die ETA an, und spontane Trauerkundgebungen wurden von „ETA NO“-Rufen begleitet.
Im sonst trubeligen Barcelona herrschte eine angespannte Ernsthaftigkeit. Für den kommenden Tag beriefen die Regierenden in allen Städten des Landes Kundgebungen ein: „Mit den Opfern, gegen den Terrorismus, für die Demokratie und die Verfassung.“ Es sollte eine von oben gelenkte Inszenierung gegen die ETA werden.
In Barcelona gingen 1,5 Millionen Menschen auf die Straßen. Eigentlich sollte sich der Trauer- und Protestzug von der „Diagonal“ ungefähr einen Kilometer bis zum „Plaza Catalunya“ bewegen, kam aber wegen der Menschenmassen nur wenige Schritte weit. Von denen an diesem Freitagabend Zusammengekommenen glaubte kaum noch jemand Aznars Märchen von der Täterschaft der ETA. Vereinzelt waren „ETA NO“-Schilder zu sehen.
Die Mehrheit hatte jedoch andere Schuldige ausgemacht. Bilder mit Bush, Blair und Aznar wurden hochgehalten: „Hat uns dieses Foto 200 Tote gekostet?“.
Unmengen des im vergangenen Jahr bekannt gewordenen „NO A LA GUERRA“ und „NO VOTIS LA GUERRA“ (Wähl‘ nicht den Krieg) und „PAZ“ bzw. „PAU“ waren zu sehen.
Auch die sonst wegen ihres Nationalstolzes berüchtigten Katalanen führten wie ganz Spanien ein „Heute bin auch ich Madrilene“ mit sich. Aber für die Verfassung sind sie deshalb nicht: „Mit den Opfern, gegen den Terrorismus. Die Verfassung ist ein anderes Thema.“ Wut und Trauer in den Gesichtern. Insgesamt war die Stimmung verhalten. Nur bei Erscheinen der PP-Repräsentanten kam es zu Tumulten, Pfiffen, Buh-Rufen und immer wieder: „Esto nos pasa por un gobierno facha“ (Das passiert uns wegen einer Fascho-Regierung). Die Rufe gegen die PP halten noch lange nach dem offiziellen Ende der Kundgebungen an.
Noch am Freitagabend traf sich die außerparlamentarische Linke Barcelonas im „Espai Obert“. Nach langem Hin und Her, zu welchem Zeitpunkt denn in strategischer Weise die „Caserolada“ einberufen werden soll, wurde beschlossen, schon ab sieben Uhr abends lärmend unter dem Motto „Eure Kriege, unsere Toten“ über die Ramblas und durch die Stadt zu ziehen.
Am Samstagmorgen waren die Medien voll von lobenden Berichten über die beeindruckende Solidarität der Spanier und die Standfestigkeit gegenüber dem Terrorismus. Nur einige wenige Extremisten hätten am Rande die Demonstration in Barcelona mit Rufen gegen die Regierung gestört.
Am Samstag um sieben fanden sich um die Tausend mit Töpfen und Pfannen zusammen, um Radau zu schlagen. Sie hatten per E-Mail oder Mundpropaganda von der Demo erfahren. Auf dem Weg zum Rathaus und zur Regierungsdelegation stießen immer mehr Menschen hinzu. Viele zückten ihr Mobiltelefon, um Freunden Bescheid zu sagen: „Ich bin gerade auf dem Rathausplatz, verdammt viele Leute hier. Wir gehen jetzt zum PP. Komm vorbei!“
Die Medien werden konstatieren, es habe sich um die erste per SMS einberufenen Demo gehandelt. Sprechchöre wiederholten das am Vortag entstandene „esto nos pasa por un gobierno facha“, neu hinzu kam: „Aznar, fascista, tu eres el terroristat“ (Aznar, Fascho, Du bist der Terrorist). Viele riefen „NO A LA GUERRA“ und „NO, NO, NO A LA MANIPULACIÓ“ (Nein zur Manipulation). Das lokale Fernsehen berichtete, und am nächsten Morgen waren ausführliche Berichte in den überregionalen Zeitungen zu lesen. Nur das staatliche Fernsehen berichtete nicht. Statt dessen wurde ein Spielfilm über ein ETA-Attentat gezeigt, der schon Tage zuvor zur Hauptsendezeit ausgestrahlt worden war. Der Pressesprecher von TVE konnte dies auf Anfrage der Tageszeitung „EL PAIS“ leider nicht erklären.
Gegen elf Uhr waren über 7.000 Menschen vor dem Büro des PP versammelt. Bis weit in die Nacht hinein wurde weitergelärmt und damit dem PP nicht nur eine schlaflose Nacht bereitet.