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Die Schattenseiten einer Hochglanzmetropole

Die Kasernen von Sant Andreu. Ein Bericht aus Barcelona

| Sophia Arevan

"Un té calientito, señoras y señores, por favor, en mi habitación, tomamos un te sahariano, por favor!" (1)

Nach dem Durchqueren einiger dunkler, streng riechender Räume sitzen wir im von Neonlicht durchfluteten Zimmer Achmeds. Eingerichtet ist es mit Möbeln von der Straße, zwei Sofas, ein Sessel, ein Regal, ein Bett. Adresse: Kasernen von Sant Andreu, Torras y Bages, Barcelona.

Die Besetzung dieser vom Verteidigungsministerium aufgegebenen Kasernen begann vor gut drei Jahren. Anfangs waren es nur wenige, aber die Schwierigkeiten, eine bezahlbare Bleibe in Barcelona zu finden, ließen immer mehr Menschen hierher kommen, Migranten, mit und ohne Papiere, Wohnungslose und Hausbesetzer.

Der Fernseher zeigt tonlos strahlende Sieger, Achmed schüttet einen Haufen Erdnüsse auf den Tisch und verschwindet hinter einem Vorhang, um Tee zu machen. Das Wasser muss täglich auf der anderen Seite der Straße, welche die beiden Teile des 107.450 qm großen Geländes voneinander trennt, an einem öffentlichen Brunnen geholt werden. Strom wird gezapft oder kommt von Autobatterien, Heizung oder Duschen gibt es keine. Die wenigen Duschen, die von den „Architekten ohne Grenzen“ installiert worden waren, wurden einige Tage später von der Polizei zerstört. Die Stadtverwaltung spricht offiziell von Aufräumarbeiten und „Entrattung“, während sie sukzessive, unangekündigt, wenn sich gerade niemand im Gebäude befindet, die noch bewohnten Gebäude abreißen lässt.

Es ist Samstag, der 15. November 2003, gegen sieben Uhr abends. Die Teegesellschaft, allesamt in Jacken und Mützen, besteht aus Achmed, unserem Gastgeber, Agata, der Anthropologin aus Warschau, Juri, dem Geschichtsstudenten aus Katalonien, Elmer aus Chile und mir. Elmer zückt seinen Pass aus der rechten Hosentasche und legt ihn sorgsam, fast zärtlich auf den Tisch neben den größer werdenden Berg Erdnussschalen. Obwohl er die ganze Zeit über schweigt, erzählt er viel mit seinen Händen, die den Pass wieder in die Hosentasche stecken und kurze Zeit später umständlich hervorkramen, mit sichtlichem Unbehagen im Gesicht, mit so einem sperrigen Ausweisdokument in der Tasche kann einfach keine Gemütlichkeit aufkommen. Die Staatsgewalt hat ihre Präsenz bis in die Köpfe hinein ausgeweitet.

Die Bewohner der Kasernen von Sant Andreu kommen aus über 30 verschiedenen Nationen, aus Liberia, aus Panama, aus Kasachstan, aus Ghana, aus Rumänien, aus Sierra Leone, aus Chile, aus Russland, aus Ecuador, … in der Mehrheit aus Marokko, Subsahara Afrika und Osteuropa. Die meisten sind sogenannte „sin papeles“, ohne Papiere, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Arbeitserlaubnis, mit täglich schwindenden Hoffnungen auf ein würdiges Leben in der sich in Hochglanzprospekten zum Forum 2004 als multikulturell und weltoffen verkaufenden Metropole Kataloniens. Ein prickelndes „enjoy it“ aus der Dose inmitten der polierten Vielfalt wird aber nur denen geboten, die den Eintritt von knapp vierzig Euro für drei Tage Forum bezahlen können. Die, die nicht aus touristischen Motiven kommen, erleben nichts vom angepriesenen Dialog der Kulturen, von nachhaltiger Entwicklung oder gar Frieden.

Die physische Präsenz der Staatsgewalt auf dem „Passeig Torras y Bages“ wurde im August 2003 nochmals verstärkt, so dass es für das tägliche Wasserholen entscheidender geworden ist, Ausweisdokumente zu besitzen als einen Kanister. Das Verlassen und Betreten des Geländes ist durch die massive Polizeipräsenz nicht mehr möglich, ohne die Gefahr einer Kontrolle. Für die „sin papeles“ bedeutet dies immer die Internierung im Ausländergefängnis „La Verneda“, und es droht die sofortige Abschiebung.

Momentan leben in ganz Europa mehr als zehn Millionen Migrantinnen und Migranten, allein in Spanien mehr als drei Millionen, ein Drittel „sin papeles“. Die Migrationspolitik der Regierungsverantwortlichen besteht aus verschärften Grenzkontrollen, systematischer Verfolgung und Erleichterung des Abschiebeverfahrens. „Ich habe immer etwas Kleingeld dabei, falls sie mich mitnehmen, um irgendwem Bescheid zu sagen. Meist nicht viel, aber immer genug zum Telefonieren.“ Rodriguez aus Panama erzählt von seinen Erfahrungen mit der Polizei. „Ich hab Glück, ich kann perfekt Spanisch, da lassen sie mich in Ruhe.“ Noch. Auch ihm kann es jeden Tag passieren, dass er in eine Kontrolle gerät, irgendeinen Strafvorwurf erhält und binnen drei Tagen abgeschoben wird. Wird die Abschiebung nicht innerhalb dieser drei Tage durchgeführt, muss er mit der längsten Abschiebehaft ganz Europas rechnen; vierzig Tage in La Verneda.

Seit Dezember ist das legal. Ohne Gerichtsverfahren, ohne Rechtssicherheit während des Verfahrens, ohne Skrupel.

Die gleichzeitig mit der Abschiebung verhängte zehnjährige Einreisesperre bleibt auch dann gültig, wenn im Nachhinein ein Freispruch erfolgt. Unschuldig ist, wer „legal“ im Land ist.

Eine echte Lösung für die in Spanien lebenden Migranten ist nicht vorgesehen. Die am 14. März 2004 abgewählte Zentralregierung Aznars verfiel kurioserweise gemeinsam mit den Regierenden Kanariens auf die Idee, Migranten, die sich ohne Papiere in anderen Teilen Spaniens aufhielten, eine Fahrkarte nach Barcelona zu bezahlen. Als Residenz wurden ihnen die Kasernen von „Sant Andreu“ empfohlen.

„Eh chico“, die trotz andalusischem Akzent schneidenden Worte richten sich an einen jungen Schwarzen, „Los papeles. Pronto.“ Augenblicklich ist er von vier „Guardia Civil“ umstellt. Einer, klein, drahtig, nervös, packt den Schwarzen am Kragen, zieht ihn zu sich hin und stößt ihn wieder von sich weg. „Los papeles, chico, eh ¿donde están?“ (2) Längst ist klar, dass das Leeren der Taschen keine Papiere zum Vorschein bringen wird. Wieder packt der kleine Nervöse – die anderen bleiben Statisten – sein Opfer und versetzt ihm einen Schlag. Der so Misshandelte fällt rücklings zu Boden, wird jedoch sofort hochgerissen und mit Wucht wieder zu Boden geschlagen.

Erst als Agata und ich, beide weiß, eindeutig „europäisch“, uns aus der ohnmächtigen Beobachterperspektive heraus nähern, um unsere Wut zu artikulieren und wenigstens irgendwie verbal einzugreifen, lässt er ab. „Hier hat niemand irgendwen geschlagen. Das ist eine Lüge, eine verdammte Lüge!“ stößt er uns erregt entgegen. Während seine Kollegen im Hintergrund den Menschen „sin papeles“ abführen, verlangt er mit einem untergründigen Grinsen der Überlegenheit unsere Papiere. Daran, wer hier die Macht hat, soll bloß kein Zweifel aufkommen. In dem falschen Glauben, er hätte kein Recht dazu, und mit der Sicherheit der EU-Staatsbürgerschaft verweigere ich trotz seines aggressiven Insistierens.

Überraschender weise gibt er nach dem dritten Mal auf.

Willkür und rassistische Kontrollen sind hier weder ungewöhnlich, noch beschränken sie sich auf den öffentlichen Raum, die Straße zwischen den beiden Teilen des Geländes. Ende September drangen zehn Polizisten in ein Gebäude ein, kontrollierten die drei anwesenden Bewohner, alle aus Osteuropa stammend, und zerstörten einen Großteil der vorhandenen Einrichtung. Zum Abschied verteilten sie den Inhalt mehrerer Müllsäcke und verließen den Tatort mit der Aufforderung, doch bitte aufzuräumen.

Die Berichterstattung in den lokalen Medien beschränkt sich, wenn sie denn stattfindet, meist auf die Deskription unter der Übernahme der offiziellen Perspektive oder reproduziert schlimmstenfalls die in Stadtverwaltung und Nachbarschaft geläufigen Rassismen; die Medien loben die humanitären Leistungen des Roten Kreuzes für jeden „woanders“ untergebrachten Migranten, ob kurzfristig in einer Pension oder für maximal drei Monate in dem ehemaligen Kloster in Tiana, in dem das Rote Kreuz ein Arbeits- und Sozialisierungsprogramm mit rigiden Auflagen durchführt. Bei Nachfragen, worin denn die in Tiana geleistete Arbeit bestehe und unter welchen Bedingungen die Migranten dort leben, reagieren die mit roter Jacke uniformierten Mitarbeiter brüsk. „Steht doch in der Presse, hier, lies den Artikel vor!“, befielt der Rotkreuzmitarbeiter Xavi beim spontanen Ortstermin in Tiana. Der Artikel lobt die mildtätige Arbeit von Xavi und seinen Kollegen. Im Verlauf des Gesprächs mit den kritisch nachfragenden Besuchern der Plattform für Migration zieht er alle Register.

Vom harten Verhandlungspartner, der uns die Welt erklärt, „also so nicht, ihr müsst seriöser auftreten, mit Organisationsnamen, Aktivitäten, konkreten Zielen, einem Organisationsprofil. So läuft’s“ bis zum besten Freund, zeigt sich mal cholerisch, mal schmeichlerisch anbiedernd, „wir sitzen ja schließlich alle im selben Boot“; nur von der Arbeit erzählt er nichts. Nur soviel: „Ist ganz schön schwierig mit den Negern. Viele können noch nicht mal einen Besen halten und benutzen den Wischmopp zum Tischabwischen. Denen müssen wir eine Menge beibringen.“

Das Gebäude betreten oder gar mit den Bewohnern sprechen dürfen wir nicht. Noch Fragen?

Was aus dem für uns namenlos bleibenden Schwarzen, den ich deswegen nicht anders zu benennen weiß, geworden ist, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Es ist durchaus möglich, dass er nach der Internierung in La Verneda längst aus Barcelona abgeschoben wurde. Die Zahl der Abschiebungen aus Spanien beläuft sich für das Jahr 2003 auf über 900.000. Im Herbst 2003 wurden auf dem „Passeig Torras y Bages“ über 400 Menschen festgenommen und 270 in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Die einzig öffentlich gewordene Verhaftung ist die Yerko Torros, des Pressesprechers der Kasernenbewohner und des sichtbarsten Repräsentanten. Wegen des Vorwurfs, er habe keine gültigen Papiere – zum Zeitpunkt der Kontrolle konnte er sie nicht vollständig vorweisen -, verbrachte er mehr als 30 Tage im Ausländergefängnis La Verneda und stand kurz davor, nach Chile abgeschoben zu werden. Durch öffentliche Proteste und das Einschreiten einer Anwältin konnte die Abschiebung verhindert werden.

Der Vorfall kann durchaus als deutlicher Hinweis auf die Regeln und darauf, wer sie bestimmt, verstanden werden.

Zwischen den offiziell Verantwortlichen, dem Verteidigungsministerium als Eigentümer und der Stadtverwaltung als potentiellem Käufer, kam es zu keiner Einigung. Niemand wollte die Verantwortung übernehmen. Erst im Frühjahr 2003 wurden sie aus der Lethargie aufgeweckt, sei es durch das Näherrücken des Eröffnungstermins des Forums 2004 (siehe GWR 285), die Beschwerden der Nachbarschaft oder die wachsende Selbstorganisation der Migranten.

„Wir wurden immer stärker, waren im Sommer gut 800, die konnten uns nicht mehr übersehen“, berichtet William aus Ghana auf englisch. Nach einer Odyssee über Libyen, Algerien, Marokko nach Malaga, wo er lange zeit interniert und verhört wurde, kam er schließlich nach Barcelona. Drei Monate lang schlief er am Strand, bis er von den Kasernen erfuhr und als einer der ersten einzog. Er ist jeden Mittwoch auf Plena, zu denen sich Unterstützer und Bewohner zusammenfinden, anzutreffen. „Ich bleibe, bis alles zusammenbricht“, sagt er mit fester Stimme.

Schon im November drohte, was am 9. Februar Wirklichkeit wurde: Der komplette Abriss aller auf dem Gelände vorhandenen Gebäude.

„An diesem Morgen war ich mit einer Freundin aus Rumänien, die in den Kasernen lebt, zum Frühstücken verabredet“, erzählt Veronica von „papeles para todos“. „Sonst hätte ich die Räumung nicht gesehen. Sie kamen gegen neun Uhr morgens, 200 Polizisten, ohne Ankündigung, sperrten die Zufahrtswege, klopften an die Türen und holten die Leute heraus, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Sachen zu packen. Keiner wusste wohin, es war ein absolutes Chaos.“

Den noch anwesenden Bewohnern wurden 15 Tage Unterbringung in Pensionen geboten, andere zogen es vor, nicht polizeilich registriert zu werden, und die, die erst gegen Abend von ihrer Arbeit zurückkehrten, fanden nur noch Ruinen vor.

Die Räumung verlief von Seiten der Polizei betont friedlich ab, und in der noch am selben Abend stattfindenden Versammlung von Nachbarschaft, Stadtverwaltung und Generalität (autonome Regierung Kataloniens) wurde die schnelle Räumung als voller Erfolg gefeiert. Drei Tage nach dem Abriss wurde das Gelände an das Bau- und Immobilienkonsortium Zona Franca verkauft. Dasselbe Konsortium ist für die gigantischen Neubauten des Forums 2004 verantwortlich und zählt zu seinen Vorstandsmitgliedern den Bürgermeister Barcelonas.

Die 15 Tage sind vorbei. „Von einigen Freunden weiß ich nicht, wo sie sind. Sie sind schon nach 10 Tagen aus den Pensionen herausgeschmissen worden. Am selben Tag kamen acht direkt ins Abschiebegefängnis.“ William blickt auf die knapp 200 Menschen, die bei bestem Touristenwetter zu einem öffentlichen Plenum zum Thema Migration auf dem Plaza Catalunya zusammengekommen sind. „Es ist schwer geworden, die Leute jetzt zusammenzutrommeln.“

Wie er die Räumung erlebt hat, frage ich ihn. Er schweigt. „It’s very painfull. It’s all very painfull. Es ist so schwer, das Meer zu überqueren. Du kommst endlich an Land, und wieder lassen sie Dich leiden.“

Wir verabschieden uns mit einem „see you“, am Donnertag trifft sich „papeles para todos“. La lucha sigue.

(1) "Meine Damen und Herren, bitte schön, trinken wir einen heißen Tee."

(2) "Hey, wo sind die Papiere, Junge?"