Noam Chomsky (* 7.12.1928), Anarchist, politischer Analytiker und Professor für Linguistik und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge/Mass., ist laut New York Times "der einflussreichste westliche Intellektuelle". Seinen Artikel "US-Haiti" vom 9. März 2004 hat Michael Schiffmann für die Graswurzelrevolution übersetzt. Er erscheint hier in deutscher Erstübersetzung (GWR-Red.).
Alle, die sich wirklich Sorgen um Haiti machen, werden natürlich verstehen wollen, auf welche Weise es zu der jüngsten Tragödie gekommen ist. Und für diejenigen, die das Privileg hatten, in irgendeiner Weise mit den Menschen dieses gepeinigten Landes in Berührung zu kommen, ist ein solcher Versuch nicht nur natürlich, sondern unvermeidlich.
Nichtsdestoweniger begehen wir einen ernsten Irrtum, wenn wir uns zu sehr auf die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, oder auch nur auf Haiti allein, konzentrieren. Die entscheidende Frage für uns ist, was wir im Hinblick auf diese Ereignisse tun sollten. Das wäre selbst dann so, wenn wir nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten hätten, um so mehr aber im Fall von Haiti, wo wir beides in enormem und entscheidendem Maß besitzen.
Noch stärker gilt dies, weil der schreckliche Lauf der Ereignisse schon vor Jahren vorhersehbar war – wenn wir ihn nicht aufhalten würden.
Und genau das taten wir nicht. Die Lehren daraus liegen auf der Hand, und sie sind von so großer Bedeutung, dass sie, wenn wir eine freie Presse hätten, täglich Thema etlicher Leitartikel wären.
In einer Besprechung der Ereignisse in Haiti in der Zeitschrift Z-Magazine kurz nachdem Clinton dort 1994 „die Demokratie wiederherstellte“, war ich zu dem widerwilligen Schluss gezwungen, dass „es nicht sehr überraschend wäre, wenn unsere Operationen in Haiti sich als eine weitere Katastrophe erweisen würden“, und dass für den Fall, dass dies zuträfe, „es keine schwierige Aufgabe sein wird, die wohlbekannten Phrasen abzuspulen, die das Scheitern unserer wohltätigen Mission in dieser missratenen Gesellschaft erklären werden“. Die Gründe waren für jeden, der bereit war, wirklich hinzusehen, offensichtlich. Und traurigerweise und wie vorherzusehen war, hören wir jetzt tatsächlich wieder die bekannten Phrasen.
Heute werden viele feierliche Diskussionen geführt, die ganz zu Recht auseinandersetzen, dass Demokratie mehr bedeutet, als alle paar Jahre irgendwo sein Kreuzchen zu machen. Eine funktionierende Demokratie basiert auf gewissen Voraussetzungen. Eine davon ist, dass die Bevölkerung die Möglichkeit haben sollte, zu erfahren, was auf der Welt vor sich geht. Und zwar in der wirklichen Welt, nicht dem eigennützigen Porträt, das von der „Establishmentpresse“ gezeichnet wird und das durch seine „Unterwürfigkeit gegenüber der Staatsmacht“ und „die gängige Feindseligkeit gegenüber Volksbewegungen“ verzerrt ist – letzteres die zutreffenden Worte Paul Farmers, dessen Arbeit über Haiti auf ihre eigene Art vielleicht ebenso bedeutsam ist wie das, was er in diesem Land selbst geleistet hat. (1) Farmer schrieb sein Buch 1993 und gab darin einen Überblick über die Kommentare und Berichte zu Haiti in der Mainstreampresse, eine traurige Bilanz, die bis auf die Tage der grausamen und zerstörerischen Invasion Präsident Wilsons im Jahr 1915 zurückgeht und sich bis heute nicht geändert hat. Die Tatsachen sind umfassend dokumentiert: Sie sind furchtbar und beschämend. Und sie werden aus den üblichen Gründen für irrelevant erachtet: Sie entsprechen nicht dem geforderten Selbstbild und müssen daher in den Tiefen des Gedächtnislochs verschwinden, obwohl sie von Menschen, die sich für die tatsächliche Welt interessieren, immer noch aufgedeckt werden können.
Man wird sie jedoch selten in der „Establishmentpresse“ finden. Wenn wir uns an das liberalere und informiertere Ende des Spektrums halten, finden wir dort als Standardversion, dass sich die USA in „missratenen Gesellschaften“ wie Haiti und dem Irak dem wohltätigen „Aufbau der Nation“ verschreiben müssen, einem „hehren Ziel“, das jedoch möglicherweise nicht in unserer Reichweite liegt, weil es den Objekten unseres Wohlwollens so sehr an den erforderlichen Qualitäten fehlt. Trotz der hingebungsvollen Bemühungen Washingtons während der von Wilson bis zu Franklin Delano Roosevelt dauernden Besatzung Haitis durch US-Marines, „ist der neue Morgen der Demokratie in Haiti nie gekommen“. Und „weder alle guten Wünsche Amerikas noch all seine Marines können heute die Demokratie erreichen, bevor die Haitianer dies selber tun“ (H.D.S. Greenway, Boston Globe). Oder wie der Korrespondent der New York Times, R.W. Apple, 1994 zwei Jahrhunderte Geschichte wiedergab, indem er über die Aussichten des damals im Gange befindlichen Clintonschen Projekts der „Wiederherstellung der Demokratie“ in Haiti reflektierte: „Wie die Franzosen im 19. Jahrhundert und wie die Marines, die Haiti von 1915 bis 1934 besetzt hielten, werden die Amerikaner, die jetzt eine neue Ordnung durchzusetzen versuchen, sich einer komplexen und gewalttätigen Gesellschaft ohne demokratische Geschichte gegenüber sehen.“ Mit seiner Bezugnahme auf Napoleons brutalen Angriff auf Haiti, der das Land in Trümmern hinterließ, um in der reichsten Kolonie und der Quelle eines Großteils des französischen Reichtums dem Verbrechen der Befreiung einen Riegel vorzuschieben, scheint Apple ein wenig über die Norm hinauszuschießen. Aber vielleicht genügte auch dieses Unternehmen dem grundlegenden Kriterium der wohltätigen Absicht: Es wurde von den Vereinigten Staaten unterstützt, die selbstverständlich erzürnt und entsetzt waren, als „die erste Nation der Welt sich für die Sache der universalen Freiheit für die gesamte Menschheit einsetzte und damit die begrenzte Definition der Freiheit offen legte, wie sie sich die französische und die amerikanische Revolution zu eigen gemacht hatten“.
So schreibt der haitianische Historiker Patrick Bellegarde-Smith, indem er zutreffend das Erschrecken in dem nicht weit von Haiti entfernt gelegenen Sklavenstaat beschreibt, das auch dann nicht nachließ, als Haitis erfolgreicher Befreiungskampf, der einen enormen Preis forderte, den Vereinigten Staaten den Weg zur Expansion in den Westen öffnete, indem der Kampf Napoleon dazu zwang, den Verkauf Louisianas an die USA zu akzeptieren.
Die USA taten auch weiterhin, was sie konnten, um Haiti zu strangulieren, und unterstützten sogar Frankreichs unnachgiebige Forderung, dass Haiti eine große Entschädigung für das Verbrechen seiner Selbstbefreiung zu zahlen habe, eine Last, von der sich das Land nie mehr befreien konnte – und Frankreich wiederum weist mit erlesener Geringschätzung die kürzlich unter Aristide erhobene Forderung Haitis zurück, dass es zumindest diese Entschädigung zurückzahlt, und weist damit die Verantwortung von sich, die eine zivilisierte Gesellschaft umstandslos auf sich nehmen würde.
Die wichtigsten Umrisse der Geschehnisse, die zu der gegenwärtigen Tragödie geführt haben, sind ziemlich klar auszumachen. Wenn man – und das ist an sich ein viel zu kurzer Zeitrahmen – mit der Wahl Aristides zum Präsidenten im Jahr 1990 beginnt, so war Washington damals bestürzt über die Wahl eines populistischen Kandidaten mit einer aus einer Massenbewegung hervorgegangenen Wählerschaft, genauso wie die USA zwei Jahrhunderte zuvor über die Aussicht bestürzt waren, dass hier vor ihrer Haustür das erste freie Land der Hemisphäre entstehen würde. Die traditionellen Verbündeten Washingtons waren natürlich derselben Ansicht. „Die Furcht vor der Demokratie existiert, per definitionem und notwendigerweise, bei den Gruppen der Elite, welche die wirtschaftliche und politische Macht monopolisieren“, schreibt Bellegarde-Smith in seiner hellsichtigen Geschichte Haitis, und das gilt nicht nur in Haiti und den USA, sondern auch überall sonst.
Die Gefahr der Demokratie in Haiti im Jahr 1991 war nur umso bedrohlicher aufgrund der positiven Reaktion der internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, IADB) auf die Programme Aristides, die jedoch die üblichen Sorgen über den „ansteckenden“ Effekt einer erfolgreichen unabhängigen Entwicklung auslösten. Das ist in der Szenerie der internationalen Politik nichts ungewöhnliches: Die Unabhängigkeit Nordamerikas löste bei den damaligen führenden Politikern Europas dieselben Sorgen aus. Im allgemeinen werden die hiervon ausgehenden Gefahren in Ländern wie Haiti, das von Frankreich geplündert und dann durch ein Jahrhundert von US-Interventionen in völliges Elend gestürzt worden war, als besonders schwerwiegend empfunden.
Wenn sogar Menschen, die unter solch schrecklichen Umständen leben, ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können – wer weiß, was dann noch anderswo passieren könnte, wenn diese „Seuche sich ausbreitet“.
Die erste Bush-Administration reagierte auf die katastrophale Gefahr der Demokratie, indem sie ihre Auslandshilfe statt an die demokratisch gewählte Regierung an die Kreise gab, die hier die „demokratischen Kräfte“ genannt werden: die reichen Eliten und die Geschäftssektoren, die, zusammen mit den Mördern und Folterknechten der Armee und der Paramilitärs, von den heutigen Amtsinhabern in Washington in ihrer Reaganschen Phase für ihre Fortschritte bei der „demokratischen Entwicklung“ gepriesen worden waren, was wiederum einen warmen Regen neuer Auslandshilfe für sie rechtfertigte. Diese Lobpreisungen kamen in Reaktion auf die Verabschiedung eines neuen Gesetzes durch das haitianische Parlament, mit dem Auftragsmörder und -folterer Washingtons Baby Doc Duvalier die Vollmacht gewährt wurde, ohne Begründung die Rechte sämtlicher politischer Parteien außer Kraft zu setzen. Das Gesetz wurde mit einer Mehrheit von 99,98% beschlossen. Es stellte daher einen positiven Schritt zur Demokratie dar, jedenfalls verglichen mit der Zustimmung von 99% zu einem Gesetz im Jahr 1918, mit dem den US-Konzernen das Recht gewährt wurde, das Land in eine US-Plantage zu verwandeln, wobei über dieses Gesetz 5% der Bevölkerung abstimmten, nachdem das Parlament Haitis unter Androhung bewaffneter Gewalt von Seiten der US-Marines von Präsident Wilson aufgelöst wurde, als es sich weigerte, dieser „fortschrittlichen Maßnahme“, die für die „wirtschaftliche Entwicklung essenziell“ war, zuzustimmen. Die Reaktion der Bush-Leute auf die ermutigenden Fortschritte Baby Docs in Richtung Demokratie war typisch für die Visionäre, die jetzt die gebildeten Kreise auf der ganzen Welt mit ihrem Engagement für die Verbreitung der Demokratie in einer leidenden Welt in Verzückung versetzen – obwohl natürlich die tatsächlichen Resultate ihres Handelns auf geschmackvolle Art retuschiert werden, damit sie den gegenwärtigen politischen Notwendigkeiten entsprechen.
Flüchtlinge, die vor dem Terror der US-gestützten Diktaturen in die USA flohen, wurden unter krasser Verletzung des internationalen humanitären Rechts gewaltsam zurückgebracht. Diese Politik wurde dann umgekehrt, als eine demokratische Regierung ins Amt kam. Obwohl der Flüchtlingsstrom auf ein Rinnsal zurückging, erhielten die meisten Flüchtlinge nun politisches Asyl. Die Politik gegenüber Haiti kehrte zum Normalzustand zurück, als eine Militärjunta nach sieben Monaten die Aristide-Regierung stürzte und die staatsterroristischen Gräueltaten einen neuen Höhepunkt erreichten. Die Urheber des Terrors waren die Armee – die Erben der von den Besatzern Präsident Wilsons zur Kontrolle der Bevölkerung zurückgelassenen Nationalgarde – und ihre paramilitärischen Streitkräfte. Die wichtigste dieser paramilitärischen Truppen, FRAPH, wurde von dem CIA-Mitarbeiter Emmanuel Constant gegründet, der heute fröhlich in Queens, New York lebt, nachdem Clinton und Bush der Zweite Forderungen nach seiner Auslieferung abgelehnt haben – und zwar, wie weithin angenommen wird, deswegen, weil er die US-Kontakte zu der mörderischen Junta in Haiti bloßlegen würde. Dabei waren die Beiträge Constants zur Gesamtbilanz des Staatsterrors letztlich mager: Er war ja nur der Hauptverantwortliche für die Ermordung von 4 – 5.000 armen Schwarzen.
Erinnern wir uns an das Kernstück der Bush-Doktrin, die, wie der Harvard-Professor Graham Allison in Foreign Affairs schreibt, „de facto bereits zur Regel in internationalen Angelegenheiten geworden ist“: „Diejenigen, die Terroristen Zuflucht gewähren, sind ebenso schuldig wie die Terroristen selbst“, so die Worte des Präsidenten, und sie müssen dementsprechend behandelt werden, das heißt, mit großangelegten Bombardements und Invasionen.
Als Aristide durch den Militärputsch von 1991 gestürzt wurde, erklärte die Organisation Amerikanischer Staaten OAS ein Embargo. Bush der Erste verkündete sogleich, dass die USA es verletzen würden, indem er US-Firmen vom Embargo ausnahm. Wie die New York Times berichtete, nahm er damit eine „Feinjustierung“ des Embargos zugunsten der leidenden Bevölkerung vor. Clinton genehmigte sogar noch extremere Verletzungen des Embargos und daraufhin nahm der Handel zwischen den USA und der Junta und ihren reichen Unterstützern rapide zu. Der entscheidende Faktor des Embargos war natürlich das Öl. Während Vertreter der CIA vor dem Kongress feierlich bezeugten, die Junta werde „wahrscheinlich binnen sehr kurzem keinen Brennstoff und keinen Strom mehr haben“, während die nachrichtendienstlichen Aktivitäten der CIA „auf die Aufspürung von Versuchen zur Umgehung des Embargos und die Überwachung seiner Resultate gerichtet“ seien, autorisierte Clinton insgeheim die Texaco-Ölgesellschaft, illegal und in Verletzung der Direktiven des Präsidenten selbst Öl an die Junta zu liefern. Diese bemerkenswerte Enthüllung war die wichtigste Geschichte der Nachrichtenagentur AP just am Tag, bevor Clinton die Marines nach Haiti schickte, um „die Demokratie wiederherzustellen“, und somit nicht zu übersehen – zufälligerweise folgte ich den Nachrichten von AP an diesem Tag und sah diesen Bericht wieder und wieder an prominenter Stelle – und natürlich auch von enormer Bedeutung für alle Menschen, die ein Verständnis von dem gewinnen wollten, was da vor sich ging. In den Medien wurde der Bericht mit beeindruckender Disziplin unterdrückt, obwohl er in Wirtschaftszeitschriften gebracht und in der Geschäftspresse gelegentlich unter ferner liefen erwähnt wurde.
Ebenfalls effizient unterschlagen wurden die entscheidend wichtigen Bedingungen, die Clinton für die Rückkehr Aristides zur Voraussetzung machte: nämlich dass er das Programm des bei den Wahlen von 1990 unterlegenen US-Kandidaten übernahm, eines ehemaligen Angestellten der Weltbank, der nur 14% der Stimmen bekommen hatte. Wir nennen dies „Wiederherstellung der Demokratie“, eine hervorragende Illustration dafür, dass die Außenpolitik der USA in eine von einer „heiligen Glut“ beseelten „hehren Phase“ eingetreten ist, wie die nationale Presse auseinander setzte. Das harte neoliberale Programm, zu dessen Durchsetzung Aristide damit gezwungen war, garantierte praktisch, dass die letzten Zipfelchen wirtschaftlicher Souveränität zerstört wurden, womit die progressive Gesetzgebung Präsident Wilsons und ähnliche seither von den USA erzwungene Maßnahmen ein weiteres Mal eine Fortsetzung fanden.
Während die Demokratie auf diese Weise wiederhergestellt wurde, verkündete die Weltbank, dass „der erneuerte Staat sich auf eine wirtschaftliche Strategie konzentrieren muss, die sich an der Energie und Initiative der Zivilgesellschaft ausrichtet, besonders am privaten Sektor des Inlands wie des Auslands“. Diese Aussage hat den Verdienst, dass sie aufrichtig ist: Zur Zivilgesellschaft Haitis gehören die winzige reiche Elite und die Großkonzerne der USA, nicht aber die große Mehrheit der Bevölkerung, also die Bauern und Slumbewohner, die die schwerwiegende Sünde begangen hatten, sich zu organisieren und ihren eigenen Präsidenten zu wählen. Vertreter der Weltbank erklärten, dass das neoliberale Programm der „offeneren, aufgeklärten Wirtschaftsklasse“ und ausländischen Investoren nützen würde, versicherten aber zugleich, dass dieses Programm „die Armen nicht in dem Ausmaß treffen wird wie in anderen Ländern“, die der Strukturanpassung unterworfen wurden, da ja die Armen in Haiti ohnehin nicht einmal einen minimalen Schutz durch die staatliche Wirtschaftspolitik, beispielsweise in Form einer Subventionierung von Gütern des Grundbedarfs, genossen. Der Minister Aristides für ländliche Entwicklung und Agrarreform wurde über die Pläne, die dieser weitgehend bäuerlichen Gesellschaft aufgezwungen werden sollten, nicht einmal informiert, und so wurde Haiti durch die „guten Wünsche Amerikas“ auf den Kurs zurückgeführt, von dem es nach den bedauerlichen demokratischen Wahlen von 1990 kurzfristig abgewichen war.
Danach entwickelten sich die Dinge auf die vorhersehbare Art. Ein Bericht von USAID von 1995 setzte auseinander, dass die „exportorientierte Handels- und Investitionspolitik“, die Washington durchgesetzt hatte, die „einheimischen Reisbauern rücksichtslos in die Enge treiben“ wird, die damit gezwungen sein werden, sich dem Agrarexport zuzuwenden, was rein zufällig auch den Agrofirmen und Investoren aus den USA großen Nutzen bringt. Trotz ihrer großen Armut arbeiten die Reisbauern Haitis sehr effizient, können aber natürlich in keiner Weise mit dem US-Agrogeschäft konkurrieren und könnten dies auch dann nicht, wenn letzteres nicht 40% seiner Profite aus staatlichen Subventionen beziehen würde, die unter den wieder an die Macht gelangten Reagananhängern noch einmal stark erhöht wurden, während sie immer noch hochfliegende Rhetorik über die Wunder des Marktes von sich geben. Dafür lesen wir jetzt, dass Haiti sich nicht selbst ernähren kann, was ein weiteres Anzeichen für einen „missratenen Staat“ ist.
Einige wenige Kleinindustrien waren immer noch funktionsfähig, wie zum Beispiel die Produktion von Hühnerfleisch.
Aber da die US-Großkonzerne einen großen Überschuss an dunklem Fleisch haben, verlangten sie das Recht, ihre überschüssigen Produkte nach Haiti zu exportieren. In Kanada und Mexiko versuchten sie dasselbe, aber dort konnten diese illegalen Exporte abgewehrt werden. Nicht so in Haiti, das von der US-Regierung und den Kapitalgesellschaften, denen sie dient, gezwungen wurde, sich der Effizienz der Marktprinzipien zu unterwerfen.
Man könnte außerdem darauf hinweisen, dass der Prokonsul des Pentagon im Irak, Paul Bremer, dort die Durchführung eines ganz ähnlichen Programms angeordnet hat, bei dem auch an dieselben Nutznießer gedacht ist. Das wird ebenfalls als „Förderung der Demokratie bezeichnet“. Tatsächlich geht die höchst aufschlussreiche Bilanz dieser Praxis bis auf das 18. Jahrhundert zurück. Vergleichbare Programme haben eine große Rolle bei der Schaffung der heutigen Dritten Welt gespielt. Unterdessen ignorierten die Mächtigen die Regeln des Marktes, außer wenn sie von ihnen profitieren konnten, und waren so in der Lage, die reichen, entwickelten Gesellschaften zu schaffen; ein besonders dramatischer Fall sind die USA, die das führende Beispiel des modernen Protektionismus sind und in denen die Konzerne sich, besonders seit dem Zweiten Weltkrieg, im Bereich von Innovation und Entwicklung entscheidend auf den dynamischen Staatssektor gestützt und Risiken und Kosten auf die Gesamtgesellschaft abgewälzt haben.
Die brutale Behandlung Haitis wurde unter Bush dem Zweiten noch weitaus schlimmer – es gibt Unterschiede innerhalb des eng herrschenden Spektrums von Grausamkeit und Gier. Die Auslandshilfe an Haiti wurde gekürzt, und die internationalen Institutionen wurden unter Druck gesetzt, dasselbe zu tun, unter Vorwänden, die zu absurd sind, um eine Diskussion zu verdienen. Sie werden in Paul Farmers Buch The Uses of Haiti und einigen Pressekommentaren aus letzter Zeit, insbesondere von Jeffrey Sachs (Financial Times) und Tracy Kidder (New York Times) ausführlich besprochen.
Von den Details abgesehen weist das, was seither geschehen ist, eine unheimliche Ähnlichkeit mit dem Sturz der ersten demokratischen Regierung Haitis im Jahr 1991 auf. Die Aristide-Regierung wurde ein weiteres Mal von den US-Planern unterminiert, die schon unter Clinton verstanden, dass die Gefahr der Demokratie gebannt werden kann, wenn die wirtschaftliche Souveränität des betreffenden Landes beseitigt wird, und die sich vermutlich auch darüber im klaren waren, dass wirtschaftliche Entwicklung unter solchen Bedingungen nur eine trügerische Hoffnung sein kann, ist dies doch eine der bestbestätigten Lehren der Wirtschaftsgeschichte. Die Planer unter Bush dem Zweiten widmen sich noch engagierter der Untergrabung von Demokratie und Unabhängigkeit und verachten Aristide und die Volksorganisationen, die ihn an die Macht gebracht haben, mit vielleicht noch größerer Leidenschaft als ihre Vorgänger. Die Kräfte, die sich jetzt das Land zurückerobert haben, sind größtenteils die Erben der von den USA installierten Armee und der zugehörigen paramilitärischen Terroristen.
Leute, die bestrebt sind, die Aufmerksamkeit von der Rolle der USA abzulenken, werden einwenden, dass die Situation komplexer ist als hier beschrieben, was ja immer wahr ist, und dass Aristide sich ebenfalls vieler Verbrechen schuldig gemacht hat. Das stimmt, aber selbst wenn er ein Heiliger gewesen wäre, hätte sich die Situation kaum wesentlich anders entwickelt. Das war tatsächlich schon 1994 offensichtlich, als die einzige Hoffnung darin bestand, dass eine demokratische Revolution in den USA es möglich machen würde, die Politik in eine zivilisiertere Richtung zu lenken.
Was zum gegenwärtigen Zeitpunkt geschieht, ist schrecklich und vielleicht nicht wieder gut zu machen. Und es gibt auf allen Seiten viele, die für die kurzfristigen Entwicklungen Verantwortung tragen. Aber der Kurs, den die USA und Frankreich anständigerweise verfolgen sollten, liegt auf der Hand. Sie sollten mit der Zahlung gewaltiger Reparationen an Haiti beginnen (wobei sich Frankreich in dieser Hinsicht vielleicht noch heuchlerischer und widerwärtiger verhält als die USA). Das erfordert jedoch die Schaffung funktionierender demokratischer Gesellschaften, in denen die Menschen zumindest einen Anspruch darauf haben, zu wissen, was vor sich geht. Die Kommentare zu Haiti, dem Irak und anderen „missratenen Gesellschaften“ haben ganz recht, wenn sie die Wichtigkeit der Überwindung des „demokratischen Defizits“ betonen, das die Bedeutung von Wahlen stark verringert. Sie ziehen jedoch leider nicht die offensichtliche Parallele: Diese Lehre gilt um ein Vielfaches mehr für ein Land, in dem „die Politik der Schatten ist, den die große Wirtschaft über die Gesellschaft wirft“, wie es der seinerzeit führende amerikanische Sozialphilosoph John Dewey im Hinblick auf sein eigenes Land zu einer Zeit ausdrückte, als dieser Schatten noch bei weitem nicht so lang war, wie er es heute ist.
Für alle, die sich um die Substanz von Demokratie und Menschenrechten sorgen, sind die wichtigsten Aufgaben im eigenen Land ebenfalls klar genug. Sie sind schon früher unter ungleich härteren Bedingungen anderswo, unter anderem in den Slums und Bergen von Haiti, mit nicht geringem Erfolg angegangen worden. Wir müssen uns nicht freiwillig damit abfinden, in einem missratenen Staat zu leben, der unter einem enormen Defizit an Demokratie leidet.
(1) Paul Farmer: The Uses of Haiti, Common Courage Press, 1994; zweite, erweiterte Auflage 2003.
Anmerkungen
Weitere Ausführungen Chomskys zu Haiti finden sich in seinem Buch "Wirtschaft und Gewalt. Vom Kolonialismus zur neuen Weltordnung", zu Klampen, 1993, S. 286-318 (Kapitel VIII: "Haitis Tragödie").