Wer sich mit der Geschichte der sozialen Bewegungen oder dem Anarchismus auseinandersetzen will, dem sei ein Stöbern in neuen und alten Bewegungsorganen empfohlen.
Zum Beispiel in der von 1919 bis 1922 in Dresden erschienenen Schaffenden Frau, „Zeitschrift für soziale Fragen, Pazifismus, Erziehungs-, Schul- und Frauenfragen, Moden neuer Richtung, Schneiderei und Handarbeiten“ (Untertitel).
Eine schwarz-rote Brigitte?
Diese libertär-„sozialistische Frauenzeitung mit Modenbeilage“ war keineswegs ein Witz, sondern neben DER FRAUENBUND eine der auflagenstärksten anarchistischen Frauenzeitschriften der 1920er Jahre. Den Macherinnen ging es darum, ihren meist proletarischen Leserinnen – neben Texten u.a. der Herausgeberin Aimee Köster und des gewaltfreien Anarchisten Leo Tolstoi – die Möglichkeit an die Hand zu geben, ihre Kleidung selbst zu produzieren, anstatt sie für viel Geld kaufen zu müssen.
Auch beim Lesen der anarchistischen Tageszeitung Die Schöpfung (1921-24), der Freien Jugend, „Jugendschrift für herrschaftslosen Sozialismus“ (1919-1926), der anarchistisch-pazifistischen Wochenzeitung Schwarze Fahne (1925-1929) und dem „Organ freiheitlicher Kindergruppen“ Der Kinderwille kann erkannt werden, dass es sich bei der zeitweise großen anarchistischen Bewegung der Weimarer Republik auch um eine radikale kulturelle Bewegung gehandelt hat. Ein Ziel der libertär-sozialistischen Medien war es, die bürgerliche Presse komplett zu ersetzen. Eine Offenbarung für BewegungsforscherInnen ist in diesem Zusammenhang auch die anarchosyndikalistische Wochenzeitung Der Syndikalist (1918-1932, Auflage: bis zu 120.000).
Heute nahezu unbekannte Untergrundblätter wie zum Beispiel Die Internationale (1924-1935), die ab 1933 in Amsterdam von der anarchosyndikalistischen Exilorganisation DAS produziert und als Tarnschrift unter dem Deckblatt Deutschtum im Ausland ins Reichsgebiet geschmuggelt wurde, sowie die im Rheinland von sozialrevolutionären ArbeiterInnen produzierte Direkte Aktion wurden zur Zeit des Nationalsozialismus unter Lebensgefahr verbreitet. Sie beweisen, dass Widerstand selbst unter schwierigsten Umständen möglich ist.
Auch libertäre Zeitschriften der Nachkriegszeit sind nicht nur Bewegungsspiegel und Zeitdokumente. Um die Geschichte des Widerstands und der sozialrevolutionären Bewegungen zu verstehen, ist es sinnvoll, solche Periodika zu studieren, etwa die von 1948 bis 1978 erschienene Befreiung, die seit 1972 erscheinende graswurzelrevolution, „Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“, die seit 1977 erscheinende anarchosyndikalistische da, die von DDR-GraswurzelbewegungsaktivistInnen ab 1986 publizierten Umweltblätter, und die 1980 gegründete, im April 2004 nach 1 1/2jähriger Erscheinungspause wieder herausgekommene „Vierteljahresschrift für Lust und Freiheit“ Schwarzer Faden (1).
Wo aber finde ich diese „graue Literatur“?
Publikationen der außerparlamentarischen Oppositionsgruppen verirren sich nur selten in staatlich geförderte Bibliotheken. Dabei sind sie bedeutende Quellen, auch um sozialen Wandel zu begreifen. Das Auswerten der bewegungseigenen Periodika kann sich als Voraussetzung erweisen für die kritische Aneignung der eigenen Widerstands- und Protestgeschichte durch die heutigen AktivistInnen. Was frühere Bewegungs-Aktive gedacht und gemacht haben, oft in Minimedien publiziert, lässt sich wiederum in den Archiven der Sozialen Bewegungen entdecken.
Die weltweit größte Ansammlung von „grauer Literatur“ existiert im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam. Dort sind auch alle oben genannten Zeitschriften im Original einsehbar.
Das schönste AnArchiv Europas ist m.E. das Centre International de Recherches sur l’anarchisme (CIRA) in Lausanne, seit 1957 liebevoll gestaltet und ausgebaut vor allem von den gewaltfreien Anarchistinnen Marie-Christine und Marianne Enckell. Fundgruben für Libertäre sind auch der Papiertiger in Berlin und das afas in Duisburg. Für Anti-Atom-AktivistInnen ist das Archiv des Münsteraner Umweltzentrums eine Schatzinsel – eines der größten Bewegungsarchive in der Bundesrepublik.
Wer aber weder nach Holland noch in die französische Schweiz, nicht nach Berlin, Münster oder Duisburg fahren möchte, um seine bibliophilen Neigungen zu befriedigen, der kann in ca. 280 „Archiven von unten“ hierzulande den verführerischen Duft von Druckerschwärze und verstaubten Papierbergen inhalieren.
Wer wissen will, wo sich diese Bibliotheken befinden und was sich dort finden lässt, dem seien zwei Publikationen ans Herz gelegt.
Empfehlenswert ist der übersichtliche Reader „Archive von unten“
„Dieses Verzeichnis soll bei der Suche nach Material aus und über neue soziale Bewegungen helfen und die vielfältige Szene der Archive von unten mit ihren einmaligen Sammlungen bekannter machen“, so schreibt Herausgeber Bernd Hüttner. Diesem Anspruch wird das Buch des Bremer Archivars gerecht. Er hat mit „Archive von unten“ ein wichtiges Nachschlagewerk nicht nur für BibliothekarInnen, Infoladengruppen und Archivwürmer vorgelegt.
Neben kurzen inhaltlichen Beiträgen werden die Adressen von 276 Bewegungsarchiven aufgelistet. Einen Vorgeschmack auf die Sammlungen von ca. 50 Bibliotheken ermöglichen die kurzen Selbstdarstellungen, in denen u.a. die Nutzungsmöglichkeiten, Bestände und Themenschwerpunkte skizziert werden. Ergänzt wird das Ganze durch Service-Informationen, Internet-Adressen, Orts- und Namensregister.
Viele ArchivbetreiberInnen wurden entweder nicht vorab angefragt oder haben trotz vorheriger Anfrage die Chance verpasst, ihr Projekt eingehend zu beschreiben. So findet sich z.B. vom Neustädter AnArchiv zwar die Adresse, aber kein Hinweis auf den reichhaltigen Bestand. Schade, denn dieses von Horst Stowasser betreute Anarchistische Dokumentationszentrum gehört sicher zu den interessantesten Archiven. Es diente dem bekannten Autor Stowasser nicht zuletzt auch als Inspirationsquelle für seine anarchistischen Klassiker „Leben ohne Chef und Staat“, „Das Projekt A“ und „Freiheit pur“. Die weitere Existenz des AnArchivs ist aufgrund einer Firmenpleite des Betreibers bedroht. (2)
Bernd Hüttner hat viele, aber nicht alle Bewegungsarchive erfasst. Das ist kein Vorwurf. Von vielen Infoläden und Libertären Treffs ist kaum bekannt, dass auch dort Materialien aus den Bewegungen gesammelt werden. So fehlen in Hüttners Sammlung z.B. das Archiv des Leipziger Libertären Zentrums LIBELLE und das Infoladen-Bankrott-AnArchiv Münster.
Ein solcher Reader muss regelmäßig aktualisiert werden, denn Archive werden neu gegründet, andere lösen sich auf oder ändern ihre Adresse. Im März 2004, wenige Monate nach Erscheinen seines Buches, hat Hüttner bereits einen Nachtrag in der CONTRASTE, „Monatszeitung für Selbstverwaltung“, veröffentlicht: „41 Prozent aller Bewegungsarchive befinden sich in nur zehn Städten.“
Schön wäre es, wenn Aktualisierungen und die Adressen von fehlenden Archiven den Weg in die nächste Auflage finden könnten. Die ArchivarInnen seien hiermit aufgefordert, ihre Selbstdarstellungen an das Bremer Archiv der sozialen Bewegungen (3) nachzureichen.
BUNTE SEITEN
Sehr brauchbar, nicht nur als Ergänzung zu Hüttners Archivreader, sind auch die BUNTEN SEITEN. Sie werden alle zwei Jahre von der CONTRASTE herausgegeben. Die BUNTEN SEITEN 2003+ enthalten rund 13.500 ausgewählte Anschriften aus der Bundesrepublik, Schweiz, Österreich sowie im Anhang einen Überblick internationaler Adressen. Als zusätzlicher Serviceteil enthalten ist der „Reader der AlternativMedien“ mit vielen alternativen, libertären und linken Zeitschriften sowie Charakteristika wie Erscheinungsweise, Verbreitungsgrad, Seitenzahl, Preise und thematische Schwerpunkte und Ansprüche. Vorgestellt werden Zeitschriften vor allem aus dem deutschsprachigen Raum, aber auch auf internationaler Ebene. Ein Überblick über Freie Radios, linke Verlage, über Film- und Videogruppen rundet das Werk ab.
Also, Ihr AnarchismusforscherInnen und Geschichte von unten-SucherInnen: Holt Euch diese Reader und dann auf ins nächste (An-)Archiv: Bewegungsluft schnuppern.
(1) Zur Geschichte der libertären Presse im Nachkriegsdeutschland siehe: Holger Jenrich: Anarchistische Presse in Deutschland 1945-1985, Trotzdemverlag Grafenau 1988, 300 Seiten; sowie Bernd Drücke: Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998, 640 Seiten.
(2) Dazu wird es voraussichtlich in einer der nächsten Ausgaben der GWR mehr Infos geben.
(3) Archiv der sozialen Bewegungen, St. Pauli-Str. 10-12, 28203 Bremen. www.archivbremen.de
Literatur
BUNTE SEITEN Ausgabe 2003+. Verzeichnis alternativer Projekte, Initiativen & Betriebe. Mit Reader der AlternativMedien
ISBN 3-924085-06-4
300 Seiten, 18 Euro
Contraste
Zeitsprung-Verlag
Postfach 104520
69035 Heidelberg
Bernd Hüttner: Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände
ISBN 3-930830-40-X
180 Seiten, 15 Euro
AG SPAK
Holzheimer Str. 7
89233 Neu-Ulm
www.leibi.de/archive