Zu den vielen Facetten des Mythos, der um Ernesto "Che" Guevara (1928-67) entstanden ist, gehört die These, er gehöre in irgendeiner Weise zur libertären Bewegung.
Schon der anarchistische Guevara-Kritiker Augustin Souchy berichtet in seinen Memoiren von anarchistischen Kongressen mit Sympathien für Guevara. (1) In jüngster Zeit erschien die deutsche Übersetzung der bedeutenden Guevara-Biographie von Paco Ignacio Taibo II in einem libertären Verlag, schließlich wird ihm mit seinem Ausspruch „Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“ eine bakunistische Tradition unterstellt. (2)
Dabei gibt es im wirklichen Leben des Ernesto Guevara keinen Anhaltspunkt für eine libertäre Überzeugung; Taibo hätte sie in seiner umfangreichen, die neueste Guevara-Forschung berücksichtigenden Biographie sicher erwähnt. Dem jungen Guevara ist das auch nicht vorzuwerfen, es fehlte ihm eher an libertären Anknüpfungspunkten. Er stammte aus einem Elternhaus der Oberschicht Argentiniens, der Vater, Bauingenieur, war diffus sozialistisch, die Mutter antiimperialistisch und von der Frauenbewegung beeinflusst.
Die Familie kannte zwar die Geschichte der spanischen Volksfront von 1936, doch wenn Ernesto Guevara in seinen jugendlichen Wanderjahren in Lateinamerika, die ihn als angehenden Arzt über Bolivien und Guatemala nach Mexico führten, nur KommunistInnen und keine AnarchistInnen traf, ist das nicht untypisch für die fünfziger Jahre. Der klassische Anarchosyndikalismus Südamerikas hatte seine Blütezeit hinter sich. Es wäre Zufall gewesen, wenn Guevara libertäre AktivistInnen getroffen oder entsprechende Literatur gelesen hätte. Als er zusammen mit den Cubanern um Fidel Castro Ende 1956 von Mexico-City nach Cuba aufbrach, las er gerade Lenins „Staat und Revolution“ sowie den ersten Band von Marx‘ „Das Kapital“, der ihm in die cubanischen Berge nachgesandt werden musste. Zwar ließ er später bei Diskussionen über die Agrarreform vereinzelt sympathisierende Bemerkungen über den Zapatismus fallen, vom Anarchismus aber sprach er zeitlebens wie jeder orthodoxe Marxist-Leninist: So waren für ihn unterschiedlich hohe Löhne im Kapitalismus „Lohnanarchie“. (3) 1964, nach dem Bruch zwischen der UdSSR und China, äußerte er Sympathien für China und revidierte seine – zunächst stalinistisch beeinflusste – Ablehnung Trotzkis. Über diese Lebensphase Guevaras bemerkt Biograph Taibo:
„Er spürt, dass man zu den angeblichen Häresien des Marxismus zurückkehren und sie vorurteilslos untersuchen muss, aber Che hatte keinen anderen Kontakt zum Trotzkismus, Anarchosyndikalismus, Rätekommunismus oder irgendeiner anderen Strömung der europäischen revolutionären Linken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als den, den er durch die Darstellungen der siegreichen sowjetischen stalinistischen Bürokratie erhalten hatte.“ (4)
Als kleiner Junge verspürte Guevara nach Angaben von Taibo Sympathien für Mahatma Gandhi. Doch das blieb ohne Bedeutung. Als er im Juli 1959 bei einer Indienreise als erster Botschafter der cubanischen „Revolution“ einen Kranz an der Verbrennungsstätte Gandhis niederlegte, dokumentierte er seine fehlende Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis der gewaltfreien Revolution, als er meinte: „Der passive Widerstand macht in Lateinamerika keinen Sinn, bei uns muss er aktiv sein.“ (5)
Betrogener Idealismus oder: Was ist revolutionär?
Ernesto Guevara versuchte subjektiv, sein Leben lang einem Ideal des von materiellen Anreizen unkorrumpierbaren Humanismus einer egalitären Gesellschaft treu zu bleiben. Dass er 1965 seine gesicherte Stellung als cubanischer Industrieminister wieder aufgab, um erneut als Guerillero unter extremen Bedingungen (und mit dem zusätzlichen Handicap seines chronischen Asthma-Leidens) sein Leben zu riskieren, brüskierte all diejenigen, die auf ihren Regierungsposten klebten und die Ideale der cubanischen „Revolution“ Stück für Stück durch die Anhäufung individueller materialistischer Bequemlichkeiten ersetzten. Sie betrogen dadurch den humanistischen und egalitären Anspruch der „Revolution“.
Doch obwohl Guevara seinem Idealismus treu bleiben wollte, musste auch er selbst diesen Anspruch verraten. Warum? Weil er seinen Idealismus einer Kampfform unterordnete, deren allgemeine Struktur und Notwendigkeiten immer wieder das Gegenteil dessen erforderten, was humanistische und egalitäre Ideale beinhalten. In seinem bolivianischen Tagebuch schrieb Guevara über den bewaffneten Kampf:
„Diese Art Kampf gibt uns die Möglichkeit, zu Revolutionären zu werden, der höchsten Stufe der menschlichen Spezies, aber sie erlaubt uns auch, uns als Menschen zu bewähren.“ (6)
Doch dieser „Revolutionär“, die „höchste Stufe der menschlichen Spezies“, musste bereits in der ersten Phase des cubanischen Guerillakampfes, der in den Jahren 1957/58 stattfand, von sich und anderen verlangen, Deserteure umzubringen. So berichtet ein Mitkämpfer über die Exekution des „Verräters“ Eutimio Guerra, der der feindlichen Armee des cubanischen Diktators Batista Hinweise auf den Aufenthalt der Guerilla gegeben hat: „Plötzlich zog Che einen 22er Colt und jagte ihm, paff, eine Kugel in den Kopf.“ (7) In der ersten, entbehrungsreichen Zeit in der Sierra Maestra gab es viele Desertionen aus den Reihen der Guerilla. Als Guevara Kommandant geworden war, verfolgte er eine widersprüchliche Strategie: Manchmal ließ er Deserteure ziehen, um sich von untauglichen Kämpfern zu befreien. Wenn er aber das Gefühl hatte, Strafen für Vergehen aussprechen zu müssen, richtete er Deserteure hin, auch während der Phasen, in denen keine Kämpfe stattfanden:
„Während die Kolonne sich Richtung Osten bewegt, um in die unzugänglichsten Gebiete der Sierra Maestra vorzudringen, kommt es zu einer Desertion. Als einer der Männer, die ausgeschickt worden sind, um den Deserteur zu verhaften, mit ihm fliehen will, fügt ihm ein Kamerad eine tödliche Schussverletzung zu, nachdem dieser seine Aufforderung zum Stehenbleiben nicht nachgekommen ist.“ Dazu Guevara in seinem cubanischen Tagebuch: „Ich versammelte die ganze Truppe an einem Hügel nahe dem Schauplatz des makabren Ereignisses und erklärte unseren Guerilleros, was sie nun zu sehen bekämen und was dies zu bedeuten hätte. Ich erklärte ihnen, warum die Desertion mit dem Tode bestraft wurde, den Grund der Bestrafung all jener, die die Revolution verraten. Wir zogen im Gänsemarsch und in vollkommenem Schweigen – viele waren angesichts des ersten Bildes vom Tod noch bestürzt – an der Leiche jenes Mannes vorbei, der seinen Platz verlassen hatte und dabei vielleicht eher durch irgendwelche persönliche Sympathien zum Deserteur geworden war als durch Untreue zur Revolution.“ (8)
Ebenfalls Produkt typischer militärischer Notwendigkeiten war die Entstehung von folterähnlichen Verfahren. So übernahm die Guerilla im befreiten Gebiet eine eigene Rechtssprechung, hatte aber keine Gefängnisse zur Verfügung und konnte keine Gefangenen über längere Zeit versorgen. Wenn gegnerische Soldaten gefangen genommen wurden, stellte deren baldige Freilassung nicht nur eine zusätzliche Demütigung der Armee dar und trug zur Zersetzung des Kampfgeistes in deren Reihen bei, sondern sie war vor allem eine organisatorische Erleichterung. Doch was tun mit Verrätern, verantwortlichen Offizieren, gewöhnlichen Verbrechern? Eine Lösung hieß Scheinhinrichtung. So wurde die Bande von Chino Chang geschnappt, die in der Sierra Maestra mafiaartig ihr Unwesen getrieben und dabei Verbrechen begangen hat.
Taibo: „Gemeinsam mit Chino wird ein Bauer, der eine Jugendliche vergewaltigt hatte, in einem Schnellverfahren hingerichtet. Zwei Mitglieder der Bande werden freigesprochen und drei andere einer Scheinfüsilierung unterworfen.“ Guevara im Tagebuch zu den Scheinhinrichtungen: „Dieses erstmals in der Sierra angewandte System mag vielleicht etwas barbarisch erscheinen, es war indes keine andere Form der Bestrafung für diese drei Männer möglich, die eine Reihe von ziemlich schweren Delikten auf dem Kerbholz hatten. (…) Die drei traten danach der Rebellenarmee bei, und zwei von ihnen haben sich meinen Informationen zufolge glänzend in der gesamten Aufstandsphase geschlagen.“ (9) Die Methode der Scheinhinrichtung gehört zum repressiven Instrumentarium jeder imperialistischen Armee. Doch unabhängig davon, ob sie von imperialistischen Söldnerarmeen oder von Guerillas begangen wird, eine Scheinhinrichtung ist Folter!
Ein weiteres Merkmal jedes militärischen Kampfes, das inzwischen zu einem Aspekt der Arbeit von antimilitaristischen und Menschenrechts-Initiativen geworden ist, trat ebenfalls im cubanischen Guerillakampf zutage. Weil die Guerilla sich in der Anfangsphase bei Armeeoffensiven ins Gebirge zurückziehen musste, wurden die engen Wege auf die Gipfel für Soldaten unzugänglich gemacht.
Castro und Guevara verwendeten dazu Landminen. Castro empfahl Guevara Tellerminen und beschrieb ihm in einem Brief die Wirkung: „Gestern hängte ich eine Metallgranate an einen zwei Meter hohen Ast und brachte sie zur Explosion. Sie schleuderte tödliche Splitter in alle Richtungen.“ (10)
Jeder Guerillakampf sieht sich zu Beginn mit der militärischen Übermacht des Gegners konfrontiert. Obwohl die cubanische Guerilla recht bald einen Flugplatz im befreiten Gebiet hatte, auf dem Flugzeuge mit Waffennachschub aus den Unterstützungsbasen in den USA und Venezuela landeten, war sie unzureichend bewaffnet und nie ausreichend mit Nachschub versorgt. Guevara entwickelte aus dieser Notsituation seine Theorie vom schnellen Bewegungskrieg, wonach sich die Guerilla durch Angriffe auf Armeekasernen im Verlauf des Kampfes beim besiegten Gegner mit Waffen versorgt. In Wirklichkeit war damit die Forderung an viele Kämpfer verbunden, selbst schlecht ausgerüstet oder gar unbewaffnet mitten im Kugelhagel zu versuchen, den Gegner zu entwaffnen. Eine Einsatzgruppe in vorderster Front, die hauptsächlich aus Jugendlichen bestand, hatte sogar offiziell den vielsagenden Namen „Selbstmordtrupp“. Guevara erzählte folgendes Erlebnis mit einem seiner Kämpfer, der im Ort Remedios sein Gewehr verloren hatte:
„Ich gab ihm eine meiner üblichen trockenen Antworten: Erobere dir ein anderes Gewehr, indem du dich unbewaffnet an die vorderste Gefechtslinie begibst (…), wenn du dazu in der Lage bist. Als ich später in Santa Clara die Verletzten im Feldlazarett aufmunterte, berührte mich ein im Sterben Liegender an der Hand und sagte: ‚Erinnern Sie sich noch an mich, Kommandant? Sie haben mich in Remedios aufgefordert, mir eine Waffe zu erobern (…) und ich habe es getan.‘ (…) Er sollte wenige Minuten später sterben und blickte mich zufrieden an, da er seinen Mut bewiesen hatte.“ (11)
Unmittelbar nach dem militärischen Sieg der cubanischen Guerilla, nach dem Ende der Kampfhandlungen und ohne die Gefahr eines unmittelbaren Gegen-Putsches, wurden vom 1. bis zum 20. Januar 1959 rund 200 befehlshabende Militärs und Soldaten des Batista-Regimes hingerichtet. Guevara gehörte den Schnellgerichten nicht an, überprüfte aber als Garnisonskommandant die Berufungen gegen die Todesurteile. Taibo: „Er dürfte keine Zweifel an den Urteilen gehegt haben; er hielt sie für gerecht. In den letzten Jahren hatte er sich in ähnlichen Situationen eine gewaltige Härte angeeignet.“ (12)
Hat sich Guevara durch diese „Härte“ als „Mensch“ bewährt, als „Revolutionär“, als „höchste Stufe der menschlichen Spezies“, wie er meinte? Oder haben nicht vielmehr die ehernen Gesetze des bewaffneten Kampfes seine Verhaltensweisen inhuman gemacht, eine konterrevolutionäre Kaltblütigkeit und disziplinarische Versessenheit (gegen sich persönlich und, als Forderung nach militärischer Disziplin, gegen andere) an die Oberfläche gebracht, die seinen Idealismus umso autoritärer und gefährlicher erscheinen lassen? Die Anwendung revolutionärer Gewalt, das zeigte schon Lenin in Russland, kann, wenn außerordentlich günstige Bedingungen zusammenkommen, durchaus militärisch erfolgreich sein. Sie ist allerdings auch für einen Großteil derjenigen Gewalt- und Herrschaftsstrukturen verantwortlich, die sowohl während des Kampfes, als auch nach Etablierung der verstaatlichten Befreiungsarmee im neuen Staat auftreten.
Lösung der Weltprobleme „hinter dem Eisernen Vorhang“?
Entsprechend militärisch sozialisiert, überraschen dann Stellungnahmen Guevaras auch nicht mehr, die ihn als vehementen Befürworter militärischer Macht zeigen, wenn diese nur auf der angeblich richtigen Seite steht. So meinte Guevara noch während des cubanischen Guerillakampfes, am 14. Dezember 1957, innerhalb einer ideologischen Auseinandersetzung mit Ramos Latour von der „Nationalen Leitung der Ebene“ (dem städtischen Unterstützungsnetzwerk) um die Dominanz in der „Bewegung des 26. Juli“ (der offizielle Name von Castros Organisation):
„Meiner ideologischen Schulung zufolge gehöre ich zu denen, die glauben, dass die Lösung der Weltprobleme sich hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang befindet.“ (13)
Pikant, dass Guevara dieses Bekenntnis nur ein Jahr, nachdem sowjetische Panzer die Revolte in Ungarn zermalmt haben, äußerte.
Ramos Latour antwortete ihm am 18.12.1957: „Die Beseitigung unserer Übel geschieht nicht dadurch, dass wir uns von der schädlichen Yankeeherrschaft durch die nicht weniger schädliche sowjetische Herrschaft befreien.“ (14) Angesichts dieser Antwort innerhalb der eigenen Organisation kann argumentiert werden, dass Guevara zu dieser Zeit den stalinistischen Flügel der Befreiungsbewegung repräsentierte. Ramos Latour starb kurze Zeit später im Kampf.
Zusammen mit Raúl Castro sorgte Guevara zu Beginn der castristischen Herrschaft in Cuba dafür, dass die Kommunistische Partei Cubas (früher PCC, jetzt PSP: Sozialistische Volkspartei) Stück für Stück Machtpositionen gewinnen konnte. Im Jahre 1960 nahm Guevara in Moskau an den Feiern zum Jahrestag der Oktoberrevolution teil: „Er wird zum Präsidium geleitet, was eine hohe Auszeichnung ist, die normalerweise den Staatsoberhäuptern und den hochrangigen Bürokraten des Ostblocks vorbehalten ist.“ (15)
Er besuchte China und Nordkorea. Guevara zum Nordkorea des stalinistischen Diktators Kim Il Sung: „vielleicht das Land, das uns am stärksten beeindruckt hat.“ (16)
Biograph Taibo fragt: „Was bedeutete die UdSSR für Che? Ein paar Romane über den antifaschistischen Krieg und die Oktoberrevolution, die Erbin der sozialistischen Mythologie, die Heimat Lenins, die Wiege des marxistischen Humanismus, die Heimat des Egalitarismus, die Alternative zum wohlbekannten US-Imperialismus in einer bipolaren Welt. Weder die Moskauer Prozesse noch der polizeiliche Autoritarismus, noch die Verfolgung der Dissidenten, noch der bürokratische Anti-Egalitarismus, noch die schlecht geplante Wirtschaft, noch der Fassaden- und Pappmachékommunismus der Russen gehört zu Ches politischer Kultur im Jahre 1960.“
Guevara war nach Taibo „zweifellos einer der stärksten Befürworter der Annäherung an die Sowjetrussen innerhalb der kubanischen Regierung.“ (17)
Am 30.5.1962 entschied ein Geheimtreffen von Fidel Castro, Raúl Castro, Ernesto Guevara und dem damaligen cubanischen Präsidenten Dorticós darüber, den Vorschlag von Chruschtschow anzunehmen, auf Cuba Atomraketen zu stationieren.
Später waren Guevara und Castro allerdings darüber enttäuscht, dass Chruschtschow die Atomwaffen in den Verhandlungen nach der Drohung Kennedys wieder abziehen ließ, ohne die Cubaner zu fragen. Dabei hatte der russische KP-Chef mit Kennedy die Garantie ausgehandelt, von Seiten der USA zukünftig auf eine Militärintervention in Cuba zu verzichten. (18)
Nach der italienischen kommunistischen Journalistin Rossanna Rosanda hat Guevara den Begriff des „Kommunismus ohne Partei“ geprägt. Das ist sicher falsch, denn nach Taibo finden sich, abgesehen von vereinzelten Kritiken am Bürokratismus der cubanischen Kommunistischen Partei und Vorhaltungen an deren Adresse, sich zu wenig am Guerillakampf 1957/58 beteiligt zu haben, eindeutige Stellungnahmen:
„Am 20. Mai ’63 hält Che eine sehr schwache Rede zum Jahrestag der Zeitung ‚Hoy‘ (der Parteizeitung der PCC bzw. PSP, d.A.), mit einer sehr schematischen Sichtweise des Marxismus, voll von Gemeinplätzen und Lob an den alten Kadern der PSP. In seinem ebenfalls in jenen Tagen verfassten Vorwort zu ‚Die marxistisch-leninistische Partei‘, einer Sammlung von theoretischen Texten der Partei vermischt mit Reden von Fidel, wiederholt er diese Vorstellungen. Massari, einer seiner Biographen, beschwert sich über die ‚Lobreden von Guevara auf das theoretische Elend dieses Buches‘.“ (19)
Nach dem militärischen Sieg 1959 war Guevara gleichzeitig Direktor der cubanischen Nationalbank, Leiter der Industrialisierung und Chef der Kulturausbildung der Armee. Obwohl er keine Ahnung vom Finanzwesen hatte und auch von Industrialisierung nichts verstand, hatte er in dieser Zeit nichts Besseres zu tun, als wöchentlich militärische Artikel abzufassen, Titel u.a.: „Der Nutzen der Maschinengewehre im Defensivgefecht“, „Die Feuerdisziplin im Gefecht“, „Verteidigung gegen Panzer“, „Die Taschenartillerie“! (20)
Als Industrieminister übertrug er Taktiken der Guerillakriegsführung auf die Industrieorganisation. Er beklagte das Fehlen mittlerer Führungskader für die Leitung der Betriebe. Da überzeugte Kader nach seiner Überzeugung nur im militärischen Kampf geschmiedet werden, bedauerte er die Kürze des cubanischen Guerillakrieges, etwa im Gegensatz zu China, wo ein dreißigjähriger Krieg genug mittlere Kader hervorgebracht habe. Guevaras These aus seiner Kriegserfahrung lautete: „Das Bewusstsein der Arbeiter erhebt sich in Krisenmomenten über die Probleme.“ (21) Also je mehr Spannung, je mehr Bedrohung, je mehr Krieg, desto mehr „revolutionärer“ Enthusiasmus unter den ArbeiterInnen, desto größer das Bewusstsein der leitenden Kader.
Aufgrund der geringen Anzahl mittlerer Führungskader befürwortete Guevara die totale Zentralisierung der Industrie. An den russischen kollektiven Staatsbetrieben kritisierte er kurioserweise eine von ihm so gesehene „Selbstverwaltung“ mit materiellen Anreizen für Produktionssteigerungen einzelner Kollektive, die nur wieder zu Ungleichheit und zum Kapitalismus führe (seine einzige ideologische Kritik an der Sowjetunion). Die Anreize müssten dagegen rein ideell sein. Auf dieser Basis rief er zu freiwilligen Arbeitseinsätzen auf (zunächst zusätzliche Stunden zur Tagesarbeit, dann freiwillige Arbeit am Sonntag, so genannte „Rote Sonntage“, alles unbezahlt), um die Produktivität zu steigern, die aufgrund von zunehmendem Absentismus der ArbeiterInnen und der Landflucht der ZuckerrohrarbeiterInnen sank. M.E. wäre der Gedanke dann richtig, wenn die Betriebe und Produktionsflächen auf dem Lande in Cuba wirklich den Menschen gehören würden und sie selbst in freier Diskussion über ihre Produktion bestimmen dürften. Dann könnte sich ein revolutionärer und egalitärer Idealismus auch in freiwilliger und selbstbestimmter Mehrarbeit ausdrücken. Durch die von Guevara unterstützte Unterdrückung unabhängiger Gewerkschaften ist das allerdings verunmöglicht worden. Zudem würde die Mehrarbeit wohl kaum das Ausmaß der von Guevara praktizierten, oft weit über zehn Stunden hinausgehenden Arbeitszeit pro Tag und ohne Wochenende erreichen, einem ideellen Fetisch, den er aus seinem Guerilla-Dasein (wo beständige Angriffe tagelang kaum Schlaf zuließen) auf das zivile Alltagsleben übertrug und wie selbstverständlich auch von anderen verlangte.
Weil aber die Betriebe vollständig zentralisiert und verstaatlicht waren, verkamen die freiwilligen Arbeitseinsätze zur Propaganda und übten auf die Menschen ganz profan Arbeitsdruck von oben aus. Guevara veranstaltete absurde Einsätze mit Stachanowartigen Arbeitswettkämpfen. So „stellte er sich einem Wettstreit mit einem ausgezeichneten Arbeiter der Zuckerplantage Bresil, Ibrahim Ventura, und schlägt ihn. Am folgenden Tag verliert Che in einem anderen Wettbewerb gegen den Arbeiter Roberto González.“ (22)
Als die freiwilligen Arbeitseinsätze nicht fruchteten und der Enthusiasmus ohne Krieg sich nicht dauerhaft einstellte, wenn die Betriebe dem Staate gehörten, führte Guevara die Zwangsarbeit zur Bestrafung ein. „Im Industrieministerium wurde folgendermaßen vorgegangen: Bei Fällen von Disziplinlosigkeit, bei Verstößen gegen die Moral oder Versagen bei der Arbeit bestimmt das Ministerium das Strafmaß von ein paar Wochen oder Monaten Aufenthalt in Guanahaciabibes.“ (23)
Guanahaciabibes war ein unzugängliches Arbeitslager auf der Halbinsel Corrientes, bewacht von rund einhundert Bewaffneten. Konservative Historiker haben das Lager schnell und ohne Umschweife als „Konzentrationslager“ bezeichnet, wogegen Taibo berechtigten Einspruch erhebt. Doch es war eindeutig Zwangsarbeit, die hier verrichten musste, wer im normalen Arbeitsalltag nicht spurte. Die cubanischen AnarchistInnen im Exil verurteilen die damals von Guevara angewandte Strategie der Arbeitseinsätze und der Zwangsarbeit als Bestrafung als „eine der schlimmsten Formen des Missbrauchs von Arbeit seit den dunkelsten Tagen des spanischen Kolonialismus.“ (24)
Der militaristische Idealismus im letzten Gefecht
Gemäß der von Guevara konzipierten Fokus-Theorie, nach welcher in den so genannten unterentwickelten Ländern mehrere Brennpunkte des bewaffneten Kampfes gegen den Imperialismus geschaffen werden sollten („zwei, drei, viele Vietnams“), exportierte Cuba von Beginn der Castro-Herrschaft an sein „Revolutionsmodell“. In Wahrheit war dies ein Export von Waffen und Soldaten. Bereits 1961 wurde eine Schiffsladung voll Waffen an die algerische Befreiungsorganisation FLN gesandt. Für Castro war der bewaffnete Internationalismus eine Notwendigkeit für den eigenen Machterhalt, denn nur durch weitere Machtergreifungen marxistisch-leninistischer Organisationen in anderen Ländern schien sich auch seine Herrschaft langfristig festigen zu können und entging der Gefahr der Isolation. Bei Guevara spielte der militaristische Idealismus eine größere Rolle. Obwohl dem maroden Batista-Regime in seinen letzten Monaten sogar die eigene nationale Bourgeoisie den Rücken kehrte, obwohl dessen Soldaten eine geringe „Kampfmoral“ offenbarten und bei vielen Kämpfen sogleich massenhaft desertierten, glaubte Guevara, den einmal erfolgreichen Guerillakampf unabhängig von diesen günstigen cubanischen Bedingungen wiederholen zu können. Er entwarf vom Industrieministerium aus eine kontinentale Aufstandsstrategie für die Andenländer Peru, Bolivien, Argentinien, die bereits in ihren Anfängen scheiterte, aber später wiederum als ideologische Legitimation seiner Guerillapraxis in Bolivien 1966/67 diente.
Im Jahr 1965 intervenierte Guevara zusammen mit einem cubanischen Guerillakontingent in die komplizierte Aufstandssituation im afrikanischen Kongo, wo er Laurent Kabila, den Nachfolger der ermordeten antikolonialen Symbolfigur Lumumba, unterstützen und einen revolutionären Flächenbrand gegen den Imperialismus in Afrika auslösen wollte. Ohne wirkliche Ahnung von den gesellschaftlichen Zusammenhängen in Afrika wollte er sein Modell des bewaffneten Kampfes aus Cuba übertragen. Einige Monate kämpften ruandische, kongolesische und cubanische Truppen nebeneinander. Die Afrikaner bevorzugten den lang andauernden, verlustarmen Stellungskrieg, Guevara wollte sie vom schnellen Bewegungskrieg überzeugen. Er reagierte ständig gereizt auf angebliche Disziplinlosigkeiten der kongolesischen Kämpfer, die er abwechselnd des „Infantilismus“ bezichtigte oder schlicht als „Idioten“ bezeichnete, wodurch er als weißer Truppenkommandant eine in großen Teilen rassistische Haltung einnahm. (25) Mitkämpfer Fernández Mell erinnert sich später an einen Streit mit Guevara: „Wir sagten ihm, dass in Kuba ein ganzes Volk gegen Batista gewesen war, und hier gäbe es weder ein Volk, noch sei es gegen irgendetwas.“ (26) Victor Dreke, zweiter Chef der cubanischen Kongo-Expedition, ebenfalls Jahre später: „Wir Kubaner durchbrachen das Gleichgewicht eines bewaffneten Friedens, den die Kongolesen erreicht hatten. Sie waren bewaffnet, aber zu Hause bei Frau und Kindern. Sie kämpften nicht.“ (27)
Der Mythos
Der letzte Versuch in Bolivien 1966/67, mit einer kleinen Gruppe bewaffneter Kämpfer eine ganze Gesellschaft aufzurollen (in Cuba, im Kongo und in Bolivien fing Guevara den bewaffneten Kampf immer mit gut ausgebildeten Einheiten, zahlenmäßig unter 100 Guerilleros, an – Vorbild für die spätere Stadtguerilla bis hin zur RAF und ihrer These, den Erfolg der Guerilla könne nur die Praxis erweisen), endete mit der Ermordung Guevaras nach monatelanger Einkreisung durch die bolivianische Armee in einsamem, menschenleerem Gebirgsland. Die Mythologisierung hat bereits zu Guevaras Lebzeiten eingesetzt, entfaltete ihre Eigendynamik aber erst nach seinem Tod. Der Mythos des libertär Angehauchten ist dabei nur eine Facette der Gesamtmythologie.
Castro hatte natürlich ein Interesse am Mythos als Legitimationsgrundlage für sein Regime. Auch Guevara selbst hat bereits an seiner eigenen Mythologisierung gearbeitet, davon zeugen besonders die vielen Fotos, die er bewusst von sich in den Guerillalagern machen ließ. Auf gute Fotos von ihm selbst legte er noch in verzweifelter strategischer Lage großen Wert. Sie sollten wohl der Propaganda für einen marxistisch-leninistischen Internationalismus nach seinem Tod dienen. Doch das entscheidende Foto schoss nicht er, sondern das bolivianische Militär, bei der Aufbahrung seines Leichnams nach der Ermordung. Paradoxerweise wirkte der Versuch, die Identität des Gemordeten zu beweisen und das Verbrechen durch fotogene Zurschaustellung zu vertuschen, geradezu als Auslöser christlicher Phantasien: Ein zeitgenössischer Christus wird aufgebahrt, das Grab ist leer. Die religiöse Dimension dieses modernen Mythos darf nicht unterschätzt werden. Schon das klassische Guevara-Posterfoto (Kopf mit Baskenmütze) hat eine Christus-Ähnlichkeit. Erweitert können auch die Schriften aus den Gebirgsregionen der Guerilla im Nachhinein wie Sendschriften des Propheten interpretiert werden, der antiimperialistische Internationalismus Guevaras als Aufforderung an die Jünger, auszuschwärmen in alle Welt. Dieser Mythos konnte eine enorme symbolische Macht entfalten, die zudem in Lateinamerika eine andere Resonanz erhielt als in Europa; Taibo spricht hier von der „furchtbaren christlichen Tradition“ Lateinamerikas. (28) Träger der Mythologisierung waren vielerorts Intellektuelle und KünstlerInnen, für Deutschland muss hier an erster Stelle Wolf Biermann genannt werden, der noch als überzeugter Kommunist in seinem Lied „Commandante Che Guevara“ sang:
„Jesus Christus mit der Knarre
So führt Dein Bild uns zur Attacke.“ (29)
Selbst Taibo kann am Ende seiner Biographie nicht mehr an sich halten und verfällt dem allgemeinen Delirium: „Im Zeitalter des Schiffbruchs ist er unser weltlicher Heiliger.“ (30)
Doch die religiöse Dimension des Mythos sowie die nachfolgende Pop-Ikonisierung, welche den Mythos kapitalistisch für alle möglichen Gruppen und für eine ganze Industrie verwertbar machte und ihn dabei vollends vom sozialen Kontext trennte, verschleierten nur eine bleibende historische Tatsache: Ernesto Guevara war nur ein Marxist-Leninist („mit Knarre“).
(1) siehe Teil 2 dieser Serie in GWR 286, S. 13.
(2) Auf deren neuere Forschungsergebnisse sich dieser Artikel hauptsächlich stützt: Paco Ignacio Taibo II: Che. Die Biographie des Ernesto Guevara. Edition Nautilus, Hamburg 1997. Ich habe Taibos Guevara-Biographie direkt nach der Geschichte des cubanischen Anarchismus von Frank Fernández: Cuban Anarchism. The History of a Movement. See Sharp Press, Tucson/Arizona 2001, gelesen. Beim direkten Vergleich wurde meine bisherige Hochachtung vor Taibos Arbeiten über Lateinamerika relativiert. Problematisch finde ich, dass Taibo die Unterdrückung der cubanischen AnarchistInnen durch Castro/Guevara nicht mit einem Wort erwähnt. Zum bakunistischen Spruch Guevaras vgl. Bildunterschrift in Taibo, Bild gegenüber S. 353.
(3) Taibo, Guevaras Ausdruck referiert nach einer Rede, 4.5.1962, S. 367.
(4) Taibo, S. 409.
(5) Guevara, zit. nach Taibo, S. 297.
(6) Guevara, Bolivianisches Tagebuch, zit. nach Taibo, S. 566.
(7) Universo, zit. nach Taibo, S. 132.
(8) zunächst Taibo, dann Guevara, zit. nach Taibo, S. 148.
(9) zit. nach Taibo, S. 158f.
(10) Fidel Castro an Guevara, 19. Mai 1958
(11) Guevara, zit. nach Taibo, S. 171.
(12) Taibo, S. 283.
(13) Guevara, zit. nach Taibo, S. 171.
(14) Ramos Latour, zit. nach Taibo, S. 171.
(15) Taibo, S. 326.
(16) Guevara, zit. nach Taibo, S. 328.
(17) Taibo, S. 311f.
(18) Taibo, S. 368 und 373ff.
(19) Taibo, S. 365 und 384.
(20) Taibo, S. 314.
(21) Taibo, S. 377.
(22) Taibo, S. 381.
(23) Taibo, S. 397.
(24) Frank Fernández: Cuban Anarchism. The History of a Movement. See Sharp Press, Tucson/Arizona 2001, S. 116.
(25) Guevara, zit. nach Taibo, S. 465 und 471.
(26) Fernández Mell, zit. nach Taibo, S. 470.
(27) Victor Dreke, zit. nach Taibo, S. 453. Der Laurent Kabila, der 1997 in Kinshasa nach 30-jährigem Guerillakrieg an die Macht kam, ist Guevara natürlich nicht vorzuwerfen. Aber vom Hoffnungsfunken eines "Fokus" (Guevara) war bei Kabila an der Macht nichts mehr zu spüren. Den mit ihm verbündeten ruandischen Truppen wurden beim Vorrücken auf Kinshasa 1997 willkürliche Rache-Massaker unter den Hutu-Flüchtlingen aus Ruanda zum Vorwurf gemacht (als Vergeltung für den Genozid 1994), und Kabila selbst begründete auch nur eine militärisch-diktatorische Dynastie, die heute von seinem Sohn fortgesetzt wird. Kabilas militärischer Sieg war Ausgangspunkt eines neuen Bürgerkrieges, der seit 1998 rund 3 Millionen Menschenleben kostete und zu neuen Massakern in der rohstoffreichen Region Bunia führte, in der europäische Mächte nach wie vor ihren Einfluss sichern, vgl. dazu aktuell Bernd Drücke: Coltan, Gold und Diamanten. Der Kongo-Krieg und die Interessen der EU, in: GWR 281, Sommer 2003, S. 1f.
(28) Taibo, S. 592.
(29) vgl. Songtext Wolf Biermann: Commandante Che Guevara. Dort heißt es zudem: "Und bist kein Bonze geworden, kein hohes Tier, das nach Geld schielt, und vom Schreibtisch aus den Held spielt." Ganz im Gegensatz zu Biermann. Aber hier setzt nun Biermanns jüngster Wahlspruch ein: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu!"
(30) Taibo, S. 609.
Anmerkungen
Teil 1 dieser Artikelserie erschien in GWR 285/Jan. 2004, S. 14f., Teil 2 in GWR 286/Feb. 2004, S. 13. Berichtigung zu Teil 2, S. 13, dritte Spalte: Camilo Cienfuegos starb nicht, wie angegeben, im Kampf gegen Batista, sondern kurz danach bei einem Flugzeugabsturz. Der vierte Teil dieser Serie über Castro an der Macht folgt in einer der nächsten Ausgaben.