Am 3. April 2004 haben in Berlin, Köln und Stuttgart rund 500.000 Menschen gegen den unter dem Logo "Agenda 2010" laufenden Sozialkahlschlag demonstriert. Dabei wurden die Demonstrationen von unterschiedlichen TeilnehmerInnen unterschiedlich wahrgenommen, wie die hier als Teil eines GWR-Themenschwerpunkts veröffentlichten Berichte und Analysen zeigen (Red.).
Ein packender Bericht von der Kölner Demo gegen den Sozialkahlschlag
Als ich zwei Wochen vorher in der Ver.di-Zentrale war, fiel mir schon dort im Flur die lange Reihe von 17 Kartons auf, die für die 17 geplanten Busse von Hamm/Unna nach Köln bestimmt waren.
Bei der Abfahrt erklärte der Verantwortliche für den Bus, worauf bei dieser Fahrt besonders zu achten sei. Da haben wir als erstes das knallrote Käppi mit Ver.di-Aufdruck, für jeden eins. Als nächstes liegt für jeden Vierten im Bus die praktische Ver.di-Handfahne bereit. Nur einen Meter lang und notfalls auch als Spazierstock zu benutzen. Dann wird eine große Leinentasche von Reihe zu Reihe weitergereicht, woraus sich jeder etwas nehmen darf, zum Beispiel Luftballons mit Ver.di-Aufdruck (schließlich singt Nena!) und Trillerpfeifen (begrenzter Vorrat!). Da sich der Himmel bedenklich zuzieht und mit Regenschauern zu rechnen ist, haben die Veranstalter für eine ausreichende Anzahl bedruckter, gelblicher Plastikhemden gesorgt, die von ihrem Aussehen her allerdings einem Müllsack bedenklich nahe kommen. Wer es modischer mag, der kann für schlappe 5 Euro Zuzahlung schöne schwarz-rote (sic!) T-Shirts mit Ver.di-Aufdruck erhalten, vorrätig in den Größen bis XXL.
Nach der Abwicklung dieser Geschäfte mussten noch verschiedene Formalien erledigt werden.
Hierzu wurde ein „Roter Faden für die TeilnehmerInnen“ verteilt, in dem in den extra hierzu freigelassenen Spalten der Name des Busverantwortlichen, seine Handynummer, die Busnummer, die Parkplatznummer und die vereinbarte Rückfahrtzeit handschriftlich einzutragen waren. Zusätzlich wurden noch ein Stadtplan, ein Terminplan, ein Fahrplan für die Straßenbahn und ein kurzes Profil des Organisationsbüros gereicht, das sich das alles ausgedacht hat.
Inzwischen hungrig geworden, begannen die meisten TeilnehmerInnen ihre mitgebrachten Butterbrote zu essen, denn der DGB hatte bereits im Vorfeld der Demonstration in seinen Flugblättern mehr Eigenverantwortung auch für seine Mitglieder angekündigt: „Für Verpflegung ist selbst zu sorgen“. Von diesen Aktivitäten müde geworden, nickten wir während der Fahrt leicht ein, bis uns der Busverantwortliche kurz vor Köln weckte und jedem von uns persönlich einen ca. 5 mal 5 cm großen roten Aufkleber überreichte, auf dem stand: „Aufstehen! DGB“ und ganz klein in kaum leserlicher Schrift: „Europäischer Aktionstag 0.3 April 0.4“. Dieses Schriftstück, so erklärte er uns, berechtige zur rechtmäßigen Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Köln, um wieder zu den großen Busparkplätzen zurückzukommen, und später könne man diesen Aufkleber sogar verkleben! Anschließend ermahnte er uns eindringlich, sich das Gesicht des Nebenmannes genau einzuprägen – wegen der Vollzähligkeit bei der Rückfahrt.
Endlich angekommen, reihten wir uns in den Zug ein. Von einem großen Wagen ertönte laute Karnevalsmusik, und einige von uns reckten schon die Hälse, ob es nicht auch noch Kamelle geben würde. Und tatsächlich, es wurde Traubenzucker geworfen, das bringt neue Energie! Da ich zu den ganz wenigen von den insgesamt Hunderttausend gehörte, die kein rotes Käppi trugen und auch keine Ver.di-Handfahne schwenkten, kam ich mir manchmal etwas fremd vor, aber ich freute mich doch, wenn ich ausnahmsweise mal ein originelles Transparent entdeckte, etwa: „Opa, wem vererbst du dein Gebiss?“
Unter den Dutzenden von Flugblättern, die uns entlang der Strecke in die Hand gedrückt wurden, hatte ein ganz Kleines die irgendwie selbstverständliche Überschrift „Weitergehen“ (1), was wir trotz Gedränge auch taten, denn in der Ferne hörten wir schon, dass Nena mit ihren 99 Luftballons schon angefangen hatte zu singen. Vorbei an der Maus-Hüpfburg und dem Bungee-Jumping-Gestell für Kinder gelangten wir endlich auf die große Kundgebungsmeile mit den fünf riesigen Leinwänden, damit wir nichts verpassten.
Ich zog mich in eine italienische Bar zurück, trank einen Cappuccino und hörte nach geraumer Zeit ein gellendes, hierzulande ungewöhnlich wütendes Pfeifkonzert und sich ständig steigernde laute Buh-Rufe. Um den entscheidenden Ausbruch des Volkszornes nicht zu verpassen, lief ich schnell zum Fenster und sah auf der Leinwand Norbert Blüm gegen den Sozialabbau wettern. Bei dieser Zumutung konnte man so richtig Dampf ablassen! Es war so wie früher.
Auf der Rückfahrt wurde im Bus das Radio eingestellt, um die neuesten Ergebnisse zu hören. 4 : 1 für Schalke, alles in allem also ein erfreulicher Tag. Zum Schluss möchte ich noch einmal betonen, dass sich alles genau so zugetragen hat, wie ich es geschrieben habe.
Als ich am nächsten Tag zuhause das auch von der Freien ArbeiterInnen Union (FAU) mitunterzeichnete Flugblatt las, erfuhr ich, dass diverse Gruppen den Demonstrationszug an einer bestimmten, von mir unbemerkten Stelle verlassen hatten, um eine eigene Kundgebung abzuhalten. Hiermit wollten sie in ihrer Kritik am Sozialabbau inhaltlich und real „Weitergehen!“, als der DGB es tat. Hätte ich das während der Demo bemerkt, hätte mein Bericht sicherlich eine ganz unerwartete Wendung erhalten.