concert for anarchy

Einstiegsdroge in den Ungehorsam

18 Jahre Aktionen der Gruppe Lebenslaute

| Wolfgang Hauptfleisch

Als 1986 Gruppen von überall her Blockaden vor den Raketendepots in Mutlangen ankündigten und zum "Blockade-Herbst" aufriefen, war einigen Menschen das "bloße dasitzen und sich wegtragen lassen" zu wenig.

Weil diese Menschen passionierte MusikerInnen waren, lag deshalb für sie nichts näher als die vielleicht etwas befremdliche Idee, sich die Wartezeit in der Blockade mit Musik, genauer mit musizieren, zu vertreiben. Doch um klassische Musik zu spielen, braucht es ein klassisches Orchester.

Und so schalteten sie im Frühjahr 1986 in der taz eine Anzeige, in der sie offen und ungeniert zu „einer Konzertblockade in Mutlangen“ einluden. Die Idee zündete überraschend gut, mehr als 120 MusikerInnen kamen. Gespielt werden sollte „bis zur Räumung“. Nach über 10 Stunden Konzertprogramm wurde das letzte Ensemble in der Nacht geräumt, und einige MusikerInnen wurden in Gewahrsam genommen.

Kaum jemand hätte sich damals denken können, dass heute, 18 Jahre später, Aktionsform und Gruppe immer noch bestehen und seitdem kontinuierlich an Aktionen teilgenommen haben. Wenn auch – um im MusikerInnenslang zu bleiben – mit ständig wechselnder Besetzung und Orchesterstärke.

Dass Musik damals einzig und allein „klassische“ Musik (und davon vor allem die Klassik der bürgerlichen, besonders aber auch der kirchlichen Tradition) bedeutete, schien den MusikerInnen anfangs selbstverständlich.

Begriffe wie „Musik des Lebens gegen das Chaos von Krieg und Zerstörung“ prägten diese Phase der Gruppe. Auf der einen Seite stand die Musik als kreative Kraft, auf der anderen Seite die destruktive Macht von Gewalt und Krieg. Man mag diese Gegenüberstellung, vor allem den aus der bürgerlichen Musiktradition übernommenen Begriff der „guten und schönen Kunst“, heute etwas belächeln.

Der Widerspruch, die „Musik der Herrschenden“ als Mittel zum Protest zu wählen, regte sich jedoch schon im direkt im Anschluss an die Mutlangen-Aktion veröffentlichten Reader. Für die damals Beteiligten, von denen sich viele ihrer „bürgerlichen“ Musikausbildung bewusst waren, war diese Musik jedoch eine Hilfe für den Schritt von der Kritik zur Aktion, bewusst griffen sie etwas für sie Vertrautes auf, um damit Neuland zu betreten.

Zwei Jahre nach Mutlangen, 1988, entschied sich Lebenslaute, nach Wackersdorf zu gehen. Und ging damit einen weiteren Schritt, nämlich durchaus an Orten aktiv zu werden, an denen sie für ihre Aktionsform auch belächelt wurden. Wackersdorf, damals der Inbegriff des entschlossenen und auch militanten Widerstands gegen den Atomstaat, schien ein wenig geeigneter Ort für einen musikalischen Protest – eine „idyllisch friedliche“ Musik-Blockade zwischen Wasserwerfern und Tränengas. Zu einer solchen Blockade kam es dort erst gar nicht, da die Polizei diese bereits im Vorfeld unterband.

Diese ersten Aktionen zeigten bereits die verschiedenen Aspekte der über die Jahre von Lebenslaute weiterentwickelten Aktionsform: die Musik als Hilfe und Mittel zur Überwindung der eigenen Angst zu nutzen, um von der theoretischen Auseinandersetzung zu einem direkten, ungehorsamen Eingreifen überzugehen und auch die damit verbundene Repression in Kauf zu nehmen.

Schon in diesen frühen Jahren trafen in der Lebenslaute zwei unterschiedliche Gruppen aufeinander. Da waren zum einen die, die die Musik als „Einstiegsdroge in den zivilen Ungehorsam“ nutzen wollten, oft politisch unerfahren. Da Lebenslaute sich von Anfang an mit Aktionstraining und Übungen in Konsensfindung ausführlich auf die Aktionen vorbereitete, war dies für sie der rundum ideale Einstieg. Zum anderen diejenigen, die in der Musik- und Konzertaktion vor allem ein geeignetes Mittel sahen, politisch einzugreifen und den eingefahrenen Vorstellungen von zivilem Ungehorsam einen neuen und überraschenden Aspekt hinzuzufügen.

Bald tauchte zudem der Begriff der „unräumbaren Blockade“ auf.

„Unräumbar“ war die Konzertblockade, wie Wackersdorf gezeigt hatte, zwar wirklich niemals, aber die mit der ungewohnten Aktionsform konfrontierte Staatsmacht tat sich sichtlich schwer, ein klassisches Orchester zu räumen oder andere Gewalt gegen dieses anzuwenden. So wurde der angelernte Respekt vor der Erscheinung der bürgerlichen Kultur (dem Orchester) zum Aktionsmittel und zu einer Stärke der Gruppe. Gleichzeitig wird diese bürgerliche Musiktradition ad absurdum geführt, da sie Mittel zum Zweck des Protests gegen die bestehende Gesellschaft wird.

1995, vor dem Zwischenlager in Gorleben, ging es noch einen Schritt weiter: Eine Gruppe von KammermusikerInnen kletterte nach dem ersten Teil des Konzerts über die Mauern des Zwischenlagers, um innerhalb des abgesperrten Bereichs des Atommüll-Lagers zu musizieren.

Damit wurde ein neuer Aspekt des Ungehorsams hinzugefügt, aus dem recht „passiven“ Blockieren der ersten Aktionen wurde eine Form der dynamischen Aktion. Diese dynamische Bewegung wurde bei den späteren Platzbegehungen der Truppenübungsplätze in Gruorn und Wittstock, meist im Anschluss an Orchesterkonzerte, wieder aufgegriffen.

Unter anderen Umständen bedurfte es nicht einmal eines ausgeprägten Ungehorsams, es reichte aus, das Orchester an einen ungewöhnlichen Ort zu verpflanzen. In Flughäfen, vor Atomkraftwerken oder Giftmülldepots steht das Orchester allein durch seine Deplaziertheit als Metapher für die Absurdität der Gesellschaft. Genauso deplaziert und unwirklich wie der Urlauber im Frankfurter oder Hamburger Flughafen, der sich neben der ausgewiesenen Migrantin ins Flugzeug setzt. Verstärkt wird dies durch das auf den ersten Blick unsinnige Festhalten am klassischen Konzertprogramm und seiner Konventionen. Lebenslaute Chor und Orchester treten stets in eleganter Garderobe und mit zugehörigen Requisiten – Stuhl und Notenständer – auf. Und mit Dirigent(in). Das Zusammenführen von basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen, wie sie in politischen Gruppen über Jahre entwickelt wurden, und der hierarchischen Organisation des Orchesters (Dirigent – 1.Geige – 2. Geige usw.) ist ein bis heute nicht abgeschlossenes Experiment.

Im Juli 2001 gelang es dem Orchester zusammen mit rund 1.000 AktivistInnen des Frankfurter Grenzcamps, in den Terminal des Frankfurter Flughafens einzudringen, um dort gegen Grenzen und Ausgrenzung zu musizieren. Abgeschirmt von mindestens ebenso vielen Polizeikräften.

Die Bildzeitung verpackte das dabei entstandene absurde Theater in der hilflosen Schlagzeile: „Stundenlang Chaos am Flughafen. Demo-Orchester spielte Mozart.“

Besonders wichtig war Lebenslaute in all den Jahren die Zusammenarbeit mit lokalen Gruppen am Aktionsort. Sowohl bedingt durch die Notwendigkeit der Unterstützung für die Durchführung eines solchen Konzerts, als auch, um sich in die politische und soziale Situation vor Ort einzuleben.

Für viele war Lebenslaute die bereits erwähnte „Einstiegsdroge“, viele schlossen sich später anderen politischen Gruppen an, arbeiteten zu anderen Themen, an die sie die Mitarbeit bei Lebenslaute herangeführt hatte. Andere kehrten nach Jahren wieder in die Gruppe zurück. Auch die „reine klassische Lehre“ brach hin und wieder auf, mit zeitgenössischen – vor allem politischen – Werken, aber auch mit modernen Liedern und populären Stücken.

Die über 18 Jahren oft und lang geführten Diskussionen über unterschiedliche Gewichtung von Musik und Aktion, den unterschiedlichen Wünschen von professionellen MusikerInnen auf der einen und musizierenden AktivistInnen auf der anderen Seite, auch die immer wieder grundsätzliche Kritik der Aktionsform, haben die Gruppe verändert und geprägt. Ebenso die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Politikfeldern, von den Anti-Atom-Protesten von Wackersdorf über Militarismus bis zum Antirassismus.

An einige Orte ist auch Lebenslaute immer wieder zurückgekehrt. Auch um zu vermeiden, dass aus der Gruppe eine oberflächliche Reisegruppe wird, die von Demo zu Demo, von Thema zu Thema hetzt. Deshalb reist Lebenslaute in diesem Sommer wieder in die Kyritz-Ruppiner Heide nach Wittstock, um auf dem Bombenabwurfplatz gegen die Militarisierung der Politik zu protestieren.