Die Mehrheit der EU wählte "anarchistisch", nämlich gar nicht. In Deutschland bekamen bei 57 Prozent NichtwählerInnen die CDU nur 15,27 Prozent, die SPD 9, die CSU 3,35, die Grünen 4,99, die PDS 2,56 und die FDP 2,54.
Der Wahlkampf war eine weitgehend geräuschlose Angelegenheit. Stumm grinsten die KandidatInnen auf den Plakaten das desinteressierte Wahlvolk an und verschonten es weitgehend mit aufdringlichen Kundgebungen. Dieses Desinteresse ist nicht nur positiv zu sehen. Es zeugt auch von einem elementaren Unverständnis großer Teile der Bevölkerung, welche Rolle die EU in Zukunft spielen wird. Der Versuch, dieses Unverständnis als tendenzielle anarchistische Kritik an übergeordneten staatlichen Institutionen auszulegen, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Trugschluss. Mit der beliebten Allerweltsformel vom weitverbreiteten Desinteresse lässt sich genauso gut das Gegenteil beweisen, weil in sie beliebige ideologische Versatzstücke als angebliche Ursache eingestreut werden können.
Alain De Benoist knüpfte in dem Leitartikel „Das Volk wurde nie gefragt“ am 11. Juni 2004 in der rechtsextremen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ geschickt an den Frust der WählerInnen und den Ärger über die „zähflüssige Brüsseler Bürokratie“ an, um anschließend als Schutz vor drohender „Globalisierung“ die „Bewusstwerdung eigener Identität“ sowie die Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei ins Spiel zu bringen. Sie wäre angeblich nicht fähig, „an einem Zivilisationsprojekt teilzunehmen“.
Europaweit haben verschiedene euroskeptische Parteien stark zugelegt. Da in Deutschland keine solche Parteien zur Wahl standen, erhöhte sich der Stimmenanteil von den nationalistischen Parteien wie NPD, „Republikaner“ und „Deutsche Partei“ von 2,1 auf 3,8 Prozent und bescherte ihnen 3,2 Millionen Euro Wahlkampfkostenrückerstattung. Eine beachtliche Anzahl von 800.000 Menschen votierte in Deutschland wieder für offen rechtsextreme Parteien.
Papiertiger bleiben unbeachtet
Das Eingreifen der Friedensbewegung beschränkte sich an vielen Orten weitgehend darauf, die üblichen Fragen zur EU-Militarisierung und Friedenspolitik an die EU-KandidatInnen zu schicken. Der nächste Kandidat wohnte meist ein- oder zweihundert Kilometer weiter – schon hier zu weit weg für eine Antwort. Wie soll das erst werden, wenn die alle in Brüssel sitzen?
Attac verzettelte sich in den letzten Wochen vor der Wahl mal wieder mit der Forderung nach der Tobin-Steuer, die spekulationsbedingte Finanzkrisen in der EU verhindern soll. Nur ein paar liberalen Tageszeitungen war es ein Artikel wert. Die Attac-Fragen an 277 EU-KandidatInnen zum Thema Welthandel landeten offensichtlich fast alle im Papierkorb – nur 37 antworteten. Die geringe Resonanz auf eher hilflos wirkende Befragungsversuche ist nicht sonderlich verwunderlich. Weder Friedensbewegung noch Attac fallen zur Zeit durch bemerkenswerte überregionale Aktionen auf und stellen deshalb keine Kraft dar, auf die die offizielle Politik besondere Rücksicht nehmen müsste.
Die Thematisierung des von einer Allparteienkoalition betriebenen Sozialraubes und seine Fortschreibung in der EU-Verfassung hätte viel eher die Sorgen und Nöte der Mehrheit der Menschen ernst genommen und an die großen Demonstrationen am 3. April 2004 (vgl. GWR 289) anknüpfen können. Dass es dazu nicht gekommen ist, offenbart einerseits die eklatante organisatorische Schwäche von Basisorganisationen in diesem Bereich und andererseits ihr momentanes Unvermögen, innerhalb kürzerer Zeit vorausschauende strategische Entscheidungen zu fällen.
„Graswurzelpartei“ PDS?
Die in der EU-Verfassung festgeschriebene Pflicht zur Aufrüstung und der Ausbau der EU zu einer eigenständigen Militärmacht mit globalem Machtanspruch wurde als zweites wichtiges Thema in der öffentlichen Diskussion viel zu wenig wahrgenommen und ging in der EU-Debatte fast ganz unter. Tobias Pflüger, parteiloser Kandidat auf der Liste der PDS, gehörte zu den Wenigen, die sich dieses Themas engagiert annahmen.
Als langjähriger Mitherausgeber und häufiger Autor der Graswurzelrevolution hätte ich von ihm aber auch erwartet, dass er vor seiner Kandidatur mit uns darüber diskutiert hätte. Doch wahrscheinlich befürchtete er ein für ihn unbefriedigendes Ergebnis. Dabei kann man bei uns doch über alles reden… Es ist jedenfalls kein Naturgesetz, dass AktivistInnen, die sich begrüßenswerter weise über die engen libertären Zirkel hinaus in vielfältigen Bewegungen betätigen, als Höhepunkt ihres Schaffens bei Wahlen kandidieren müssen.
In den nächsten Jahren werden wir vermutlich vorgeführt bekommen, dass der europaweite Polittourismus von ParlamentarierInnen bei der Durchführung von Aktionen an der Basis nicht das Allerwichtigste ist. Es wurde bereits Ende letzten Jahres die Chance verpasst, hinsichtlich der EU in eine Perspektiv-Diskussion innerhalb des libertären Spektrums einzutreten, um ganz andere Akzente zu setzen.
Dafür geht jetzt die PDS gestärkt aus der Europawahl hervor, obwohl sie sich in mehreren Bundesländern auf Regierungsebene an dem Sozialkahlschlag beteiligt hat. Und die taz vom 15. Juni betitelte ihren Kommentar über die Ursache des PDS-Erfolges hintersinnig mit: „Die Graswurzelpartei“ und verweist auf frustgewöhnte mobilisierungsfähige PDS-Rentner-Scharen. – Ich muss doch wirklich sehr bitten! Wenn der PDS-Vorsitzende Bisky betont, abgerechnet wird 2006, dann wird damit in erster Linie auf den Wiedereinzug der PDS in den Bundestag orientiert und alles andere als nachrangig eingestuft. Die sozialen Grausamkeiten können jedoch nur noch in diesem Jahr durch außerparlamentarische Mobilisierungen verhindert werden und nicht mehr an einem Wahltag in über zwei Jahren. Ist das wirklich so schwer zu verstehen?
Marktlücke „Linkspartei“
Offensichtlich. Nur drei Tage nach der EU-Wahl titelte die gerade frisch von der SPD übernommene Frankfurter Rundschau „Eine Bewegung sucht ihre Partei“. Was sollte sie auch sonst tun, meint in dem Artikel der Diplom-Betriebswirt Reinhard Hanstein und entdeckt standesgemäß eine „Marktlücke“.
Denn „politische Bewegungen brauchen eine Vertretung in den Parlamenten“. Zur Begründung baut er folgende schematische Argumentationskette auf: Die Grünen entstanden acht Jahre nach der Gründung des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), Attac Deutschland entstand 2000, „das Projekt scheint gut in der Zeit zu liegen“. Sicher, die Terminkalender der „Bewegungs“-Funktionäre sind voll mit Strategiekonferenzen, und die Seiten der entsprechenden Zeitungen quellen geradezu über mit Spekulationen und Beiträgen zur Linkspartei.
Aber wo ist da noch tatsächliche Bewegung? Diese dümpelte in den letzten Monaten auf niedrigem Niveau dahin und wird ihre Chance in diesem Jahr wohl verpassen, dem Sozialraub mehr als wortreichen Widerstand entgegenzusetzen. Wenn schon buchhalterisch argumentiert wird, sollte die ganze Rechnung aufgemacht und bilanziert werden, wie viel Energie in die Vorbereitung der Gründung einer Linkspartei gesteckt wird und wie viel dann noch für die dringend notwendige Organisation des wirklichen Widerstandes übrigbleibt. Und wenn es diese Linkspartei dann gibt, wird sie sich mit der konkurrierenden PDS bei der Vorbereitung der nächsten Wahlen zerstreiten und zahllose Menschen in dieses nichtsnutzige Theater mit hereinreißen. – Aber vielleicht ist genau das von der SPD-orientierten Frankfurter Rundschau so gewollt.
EU: Konservative Mehrheit
Bei der EU-Wahl verlor die SPD 1,6 Millionen Stimmen und wurde für ihre Politik des Sozialabbaus abgestraft. Die wirtschafts- und sozialpolitisch neoliberalen Parteien FDP und Grüne erhielten mit 18 Prozent fast so viele Stimmen wie die SPD und werden in Zukunft die beiden großen Volksparteien stärker unter Druck setzen, noch mehr Politik für die Besserverdienenden zu betreiben.
Europaweit bekam fast überall die unsoziale Politik der jeweils herrschenden Regierung ihre Quittung: Die konservativen Parteien legten zu, die sozialdemokratischen büßten viele Sitze ein. Über Hundert EuroskeptikerInnen im EU-Parlament werden hier in Zukunft Schwierigkeiten machen. Grüne und KommunistInnen müssen sich mit einer kleineren Fraktion begnügen. Es ist bemerkenswert, dass die Aktivitäten der in den letzten Jahren vielbeachteten globalisierungskritischen Bewegung und des europäischen Sozialforums unter dem Strich nicht zu einem Zugewinn an linkssozialistischen und kommunistischen Mandaten führten, obwohl sich diese Parteien so gerne auf diese Basisorganisationen berufen haben. In den osteuropäischen Beitrittsstaaten haben nur die Tschechischen KommunistInnen mit 20,3 Prozent eine starke Position erreichen können. Ansonsten sind sie dort nicht mehr vertreten.
Die französischen Hoffnungsträger der Europäischen Antikapitalistischen Linken (EAL, siehe GWR Nr. 284: „Schwer von KP“) verloren ihre bisherigen fünf Sitze und mussten sich mit mageren 3,3 Prozent für die LO-LCR ganz aus dem EU-Parlament verabschieden. Die durchschnittlich 20 bis 30 BesucherInnen bei EAL-Veranstaltungen in fünf deutschen Großstädten sprechen ihre eigene Sprache. Von der vollmundig proklamierten „Rückkehr der radikalen Linken“ (SOZ-Heft 5) in den parlamentarischen Raum ist in der Realität nicht all zuviel übrig geblieben.
Zum Einen beharren die Mitglieder der Basisbewegungen auf eine deutliche Distanz gegenüber den selbsternannten, parlamentarisch orientierten „Vernetzern“ und „Koordinierern“ und wollen dies lieber in die eigenen Hände nehmen.
Zum Andern ist besonders in Deutschland das Netz von Sozialforen und globalisierungskritischen Gruppen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht so engmaschig, wie es oftmals angenommen wird. In weit über der Hälfte der Großstädte gibt es noch keine Sozialforen, von der „Provinz“ ganz zu schweigen. Für eifrige RevolutionärInnen gibt es also noch genug ganz unten an der Basis zu tun.
Die EU-Verfassung mit ihrer neoliberalen Zielsetzung und der Festschreibung des Aufrüstungsgebots wird von uns die nächsten zwei Jahre während der innenpolitischen Meinungsbildung und parlamentarischen Beschlussfassung verstärkt zu kritisieren sein, bevor sie dann im Jahr 2007 planmäßig europaweit in Kraft treten soll. Eine Volksabstimmung oder ein Referendum ist in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen Staaten nicht vorgesehen. Wie wir uns darüber hinaus in die EU-Diskussion einbringen, ist noch nicht ausdiskutiert.
Die Debatte steht erst an ihrem Anfang. In diesem Sinne hat die libertäre Bewegung ihre „europäische“ Zukunft noch vor sich.