Abel Paz (Diego Camacho) wurde 1921 in Almería geboren. Er arbeitete ab 1934 als Lehrling in einer Textilfabrik. 1935 trat er der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT (Nationale Konföderation der Arbeit) bei. Bereits als 15-Jähriger hat er im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite von CNT und FAI (Anarchistische Föderation Iberikas) gegen die Franco-Faschisten und für die Soziale Revolution gekämpft. Nach der Niederschlagung des "kurzen Sommers der Anarchie" und drei Jahren Bürgerkrieg musste er 1939 vor den faschistischen Truppen des General Franco nach Frankreich flüchten. Dort wurde er mit anderen antifaschistischen Spanienkämpferinnen und Spanienkämpfern in Lagern interniert. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Frankreich floh er 1942 nach Spanien und kämpfte dort im Untergrund gegen das faschistische Regime, bis er verhaftet und bis 1953 inhaftiert wurde. Er emigrierte nach Frankreich und beteiligte sich auch 1968 am Pariser Mai. Abel Paz lebt heute in Barcelona. Er ist einer der letzten Zeitzeugen der Spanischen Revolution und hat unter anderem das Standardwerk "Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten" geschrieben. 1977 erstmals in Frankreich erschienen, wurde es 1994 vom Hamburger Verlag Edition Nautilus auch in deutscher Sprache veröffentlicht. Nun liegt die dritte Auflage dieses empfehlenswerten Buches vor. 740 Seiten spannende Geschichte(n) von unten. Der Band enthält viele Fotos und ist für 25 Euro in gut sortierten Infoläden und Buchhandlungen erhältlich. ISBN: 3-89401-224-2.
Im Juni 2004 besuchten insgesamt mehrere hundert Zuhörerinnen und Zuhörer die Veranstaltungen mit Abel Paz bei Berlin, in Bochum, Kassel, Münster, Amsterdam, Brüssel und Gent. In Münster wurde die Veranstaltung von der Graswurzelrevolution mitorganisiert. Eine gute Gelegenheit, mit Abel Paz im Vorfeld ein Radiointerview zu führen. Gesprächspartner war im Studio des Medienforums GWR-Redakteur Bernd Drücke.
Graswurzelrevolution (GWR): Wie bist Du als Jugendlicher zur anarchistischen Bewegung gekommen?
Was hat Dich dazu bewegt, in die CNT/FAI einzutreten und schon als 15-Jähriger aktiv gegen die faschistischen Militärputschisten zu kämpfen?
Abel Paz: Die Bedingungen in Spanien sind ganz anders als die in Deutschland, heute noch. Und damals war es einfach so, dass wir als Kinder von Bauern und Arbeitern ja wussten, was Klassenkampf ist, weil unsere Eltern von Großgrundbesitzern oder Großindustriellen ausgebeutet wurden. Und unter diesen Umständen wächst man dann da einfach hinein. Es war de facto die jüngste Revolution der Weltgeschichte. Der Altersdurchschnitt lag zwischen 17 und 22 Jahren. Einer der Ältesten war Durruti, der war 36 Jahre alt. Und der Rest der Führung war 30 Jahre alt. Das waren alles junge Menschen. Eine Revolution machen nie die Alten. Die Alten denken mehr drüber nach. Wenn man jung ist, denkt man nicht so viel, man macht es.
Aber heutzutage ist es eher so, dass die Jugend mehr nachdenkt als die Alten.
(Gelächter)
GWR: In Deutschland haben die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernommen, und der Widerstand gegen den Faschismus war relativ klein im Vergleich zu Spanien 1936, wo große Teile der Bevölkerung aufgestanden sind und gegen die faschistischen Putschisten gekämpft haben. Kannst Du erklären, wie es dazu gekommen ist und wo die Gründe für die großen Unterschiede zwischen Deutschland und Spanien liegen?
Abel Paz: Weil die geschichtlichen Bedingungen anders waren. Der Deutsche war immer sehr deutsch, und wir Spanier sind anders. Und Hitler hat das „Deutschgefühl“ genutzt, um die Macht zu übernehmen.
Und Franco ist ja auch kein Spanier, er ist aus Galizien.
(Gelächter)
GWR: Was hat den Sommer der Anarchie 1936 ausgemacht?
Abel Paz: ???
GWR: Kannst Du erklären, was die libertäre Revolution, was die Selbstverwaltung bedeutete und bedeutet ?
Abel Paz: Leute, die sich nicht kennen, oder Leute, die sich nicht mögen, kämpfen auf einmal gemeinsam für eine Sache. Und das ist das Wichtige an einer Revolution: Diese Solidarität. Die Revolution verändert den Menschen.
Der Gesellschaftswandel war schon in den Köpfen vieler Menschen. Viele Spanier glaubten schon damals nicht an einen Gott. Es war einfach. Die Revolution lief schon 60 Jahre. Es gab schon Aufstände in Spanien seit 1521, aber seit 1870 gab es ständig Aufstände.
Die Spanische Revolution steht noch offen, die steht schon lange offen. Wir haben sie begonnen, aber noch nicht beendet. Der Weg ist geöffnet für die Revolution.
Es war auch keine „demokratische Revolution“. Die „Demokratie“ ist eine Fabelfigur.
Schon bei den alten Griechen war die Demokratie eine Fabel, die galt ja nur für die Griechen, nicht für die Sklaven. Die Demokratie ist nicht mehr als die Diktatur der Bourgeoisie. Und die Politiker vertreten meistens nur ihren eigenen Vorteil, nicht den Vorteil der Menschen, die sie vertreten sollten.
In Spanien war die Lösung der Föderalismus. Der hat nichts mit dem deutschen Föderalismus oder dem Föderalismus in anderen Ländern zu tun, sondern ist eine ganz eigene, spanische Lösung.
Als sich 1519 die Dörfer von Castilla gegen den König Carlos I erhoben haben, da waren es schon Anarchisten. Die Anarchie ist keine Ideologie, sie ist eine Praxis. Der Marxismus ist eine Ideologie. Die Anarchie ist in der Natur der Sache.
GWR: Wie sah die Rolle der Frauen in der Spanischen Revolution aus?
Abel Paz: Die Frauen hatten eine sehr wichtige Rolle. Aber anders, als es der bürgerliche, staatsnahe Feminismus heutzutage versteht. Die Rolle der Männer und der Frauen ist für mich, dass sie irgendwann zusammen kommen und sich gemeinsam das Leben teilen.
Und so muss man das auch in Spanien verstehen. Die spanischen Frauen hatten immer zuhause das Sagen gehabt, obwohl Spanien ein zutiefst katholisches Land war. Man darf nicht vergessen, dass in den sieben Jahrhunderten der spanischen Geschichte der Anfang muslimisch war. Und schon die muslimische Frau hatte zuhause das Sagen, und nicht der Mann. Und so hat es sich in der spanischen Revolution dann auch weiter fortgeführt. Ein Beispiel aus meiner Familie: Wenn meine Eltern mit mir und den Geschwistern rausgingen und der Vater sich verabreden wollte, dann sagte meine Mutter immer: „Du kannst dich verabreden, aber nur wenn ich es dir erlaube.“ Also, der Mann hatte das Sagen sozusagen außerhalb des Hauses, aber im Hause hatte sie das Sagen, und wenn sie wollte, dass er zuhause blieb, dann hatte er zuhause zu bleiben. In der Revolution an sich waren die Frauen sogar an den Waffen. Während der revolutionären Phase haben sie neben ihren Männern gekämpft. Und in der 2. Phase, wo die Revolution zum Krieg wurde, da haben die Frauen nicht mehr an der Front gekämpft, aus dem einfachen Grund, dass die Frauen hygienischer, sauberer sind, und die Front ist sehr dreckig. Man kann sich nicht waschen, man kann da gar nichts machen und liegt wochenlang im Dreck. Und dann haben die Frauen eher die Rollen hinter der Front übernommen, die ganzen Aufgaben, die zu machen waren. Sie haben produziert, sie haben gepflanzt, sie haben in Barcelona die Straßenbahnen gefahren, usw. usf. Sie haben die ganzen Zuliefererrollen übernommen, während die Männer an der Front kämpften. Und von daher hat das auch sehr viel mit der Emanzipation der spanischen Frau zu tun.
Dann haben sie die Männerrollen auch in der öffentlichen Gesellschaft übernommen.
Die Frauenfrage ist auch eine Frage von gleichen Möglichkeiten. Diese Forderung, die oft gestellt wird, dass genauso viele Frauen wie Männer in den Parlamenten sitzen sollen, ist für mich eine falsche Forderung.
Davon abgesehen, dass ich nichts von Parlamenten halte, ist es so, dass die Leute Tätigkeiten ausüben können sollen, zu denen sie befähigt sind. Und das ist dann unabhängig vom Geschlecht, sondern abhängig von der Bildung. Und einfach nur zu sagen: „Jetzt müssen 50 % Frauen und 50 % Männer da sein“, gewährleistet nicht, dass da eine Verbesserung stattfindet. Das ist eine Sache. Ein Beispiel aus Spanien: Viele Studentinnen haben einen wesentlich besseren Studienabschluss als die Studenten. Trotzdem bekommen sie nach dem Studium die schlechter bezahlten Stellen und müssen sich Männern unterordnen. Das ist ein Beispiel dafür, dass eine Gleichberechtigung nicht da ist. Ein anderes Beispiel: In Spanien gibt es heutzutage sehr viele Richterinnen, aber in Fällen, wo Männer und Frauen gegeneinander vor Gericht ziehen, gewinnen fast immer die Männer, obwohl eine Richterin entscheidet. Das hat damit zu tun, dass natürlich die Gesetzgeber überwiegend Männer sind und die Gesetze so ausgelegt werden, dass die Männer auch bei den Urteilen im Vorteil sind. Von daher müsste man eher die Gleichheit der Möglichkeiten fördern, so dass Männer und Frauen die gleiche Ausbildung haben und je nach ihren Fähigkeiten Funktionen übernehmen, die sie auch ausfüllen können, unabhängig vom Geschlecht.
Die Frauen haben ihre Unabhängigkeit in Europa verloren beim Konzil von Triest im 15. Jahrhundert. Sie wurden sozusagen von der katholischen Kirche an den Mann verkauft. Im Mittelalter war vieles freier. Es gab keine Hochzeiten, usw. usf.
Es ist so, dass die Frauen, die schon damals schlauer waren als die Männer, sich sozial sozusagen einen 6. Sinn angeeignet haben und durch eine bestimmte Art und Weise der Unterwürfigkeit, die sie dann dem Mann gegenüber an den Tag legen mussten, trotzdem Kontrolle über den Mann in vielen Bereichen, vor allem im häuslichen Bereich usw., entwickeln und erhalten konnten. Das zeigt nur, dass die Frauen zum großen Teil eigentlich wesentlich fähiger sind, als die Männer.
GWR: Kaum jemand hierzulande weiß etwas über die Spanische Revolution. Vielleicht kannst Du den Alltag 1936 beschreiben, in Barcelona, in den anarchistischen, in den selbstverwalteten Gebieten?
Wie ist die Gesellschaft organisiert worden, und was war anders im Vergleich zu den Gesellschaften, wie wir sie heute kennen?
Abel Paz: Das große Problem ist, dass viele Leute faul sind, denn die Sachen sind alle in Büchern beschrieben, aber die Leute lesen die Bücher nicht. Und wenn man es ihnen sagt, dann hören sie es zwar, aber sie wollen es dann trotzdem nicht verstehen.
Der Alltag der Arbeiter hat sich eigentlich nicht geändert. Sie mussten ja weiter arbeiten. Was sich geändert hat, dass sie die Unterdrückung nicht mehr erleben mussten, von den Chefs, von der Polizei, von der Justiz, vom Staat, … der Staat war weg. Was sich wirklich geändert hat, war der Alltag der Bourgeoisie, weil die Bourgeoisie die Kontrolle verloren hat. Deren Leben hat sich geändert.
Die Kollektivierung beruht auf einer Tradition, die es in Spanien gab und die es eigentlich in allen ländlichen Gebieten gibt, auch heute noch. Dass man z.B. immer gemeinsam zur gleichen Zeit zu Tisch geht, für längere oder für kürzere Mahlzeiten. In Spanien ist es so, dass man abends länger zusammen sitzt und ausführlicher isst und dass dann alle Menschen in dem Haushalt zusammen am Tisch sitzen, von den Kleinkindern bis zu den Großeltern, Kranke, wenn sie aufstehen können, alle. Und während der Mahlzeiten wird alles besprochen, was am Tag war, was beschaffen werden muss, usw. Und so gibt es eine Teilung der Verantwortung unter allen. Und Kinder wachsen da automatisch rein, weil sie schon im Kindesalter mitreden können. Und diese Tradition, die ist in Spanien dann auch in den Industriestädten mit reingekommen, weil das ja zum großen Teil Bauern waren, die in die Stadt übergesiedelt sind, um dort in den Fabriken zu arbeiten. Und ohne diese Tradition hätte es nie diese Solidarität gegeben und dieses Kollektivdenken in der Gesellschaft, wie es sich dann entwickelt hat. Dieses Denken gibt es eigentlich in drei Branchen: Das sind einmal die Bauern, einmal die Bergbauarbeiter und die Matrosen. Das sind Bereiche, wo ein Arbeiter vom anderen abhängig ist. Bei den Bauern ist es so, wenn es einen Sturm gibt, dann müssen alle raus und gemeinsam versuchen, die Ernte zu retten. Ob alt, ob jung, ob Kind, alle müssen raus und entwickeln dadurch automatisch einen Sinn für Solidarität, den man in der Stadt so nicht hat. Wenn man auf einem Schiff ist oder im Bergbau unten arbeitet, ist es das Gleiche: Wenn ein Problem besteht, dann entsteht automatisch eine Solidarität.
Und das Problem heutzutage ist, dass die städtischen Gesellschaften total isoliert sind von den ländlichen Gesellschaften und die Solidarität unter den Menschen immer mehr schwindet. Und das ist ein großes Problem für eine revolutionäre Entwicklung. Aber das Problem hatten wir damals zum Glück nicht, und deshalb konnten wir da auch so gut kollektivieren.
Zur Revolution an sich und was da so zum Teil hinter steckte: Einmal ist das in die Geschichte eingebettet, man kann die Revolution nicht isoliert betrachten.
Eine Sache, die wir geändert haben, ist der Geschichtsunterricht an der Schule. Die „Geschichtslehrer“ wurden abgeschafft, aber nicht der Geschichtsunterricht. Es waren dann alte Bauern, Fabrikarbeiter, Frauen, die Arbeitserfahrung hatten, usw., die den Kindern von ihrer eigenen Geschichte erzählten, und nicht diese akademische Geschichte. Weil, es ist schon interessant zu lernen, was im alten Rom oder im alten Griechenland passiert ist, aber es ist letztlich viel wichtiger, zu wissen, was vorgestern passiert ist, wie die Familie aufgewachsen ist und wie die Bedingungen vorher waren und wie sie jetzt sind, usw.
Aber das sind viele Sachen, die wir verändern wollten, wie diese, die wir leider nicht mehr geschafft haben, weil die Revolution letztendlich 32 Monate gedauert hat, und da konnten wir nicht alles so entwickeln, wie wir es wollten.
Aber auch in diesem geschichtlichen Kontext ist es so, dass z.B. der Mai 1968 eine Weiterentwicklung der Spanischen Revolution war, genauso wie die Spanische Revolution eine Weiterentwicklung der Pariser Commune war und vom alten Spartakus …
Und man kann dann nicht fragen: „Wie war die Spanische Revolution?“ Es geht nicht um die Spanische Revolution. Die Revolution hat eigentlich nur eine Regel: Es ist der Kampf des Menschen um seine Freiheit.
Und der entwickelt sich im ganzen Verlauf der Geschichte. Diese Ansicht von Geschichtsunterricht führt auch dazu, das ist ein Erbe der Spanischen Revolution, dass man heute zum Beispiel viel mehr Wert auf Zeitzeugen legt, das hat man vor der Spanischen Revolution nicht getan. Die Menschen, die etwas erlebt haben, die können viel besser darüber erzählen, als irgendein akademischer Schreiber, der sich nur auf Dokumente beruft, die nicht die ganze Realität darlegen.
Ein Beispiel ist auch die Struktur der Familie an sich. Die wirkliche Liebe in der Familie entwickelt sich eigentlich zwischen Großeltern und Enkeln. Die Eltern haben die Autoritätsrolle, die müssen erziehen, die müssen hier mal verbieten, mal da was verbieten. Die Großeltern haben die Rolle, die Liebe zu übertragen und auch den Kindern Freiheit zu geben. Deshalb wird oft auch gesagt: „Bei den Großeltern darf das Kind alles machen“, usw. usf., das ist de facto so. Und diese erlebte Freiheit, die ist sehr wichtig, damit man später auch als Erwachsener Freiheit erleben kann. Und es ist ein Problem der modernen Gesellschaft, dass heutzutage die alten Menschen in Altenheime abgeschoben werden und nicht mehr die Erziehung mit beeinflussen. Und wer letztlich darunter leidet, sind die Enkel, die schon im Kindesalter nicht mehr die Freiheit genießen können und später, wenn sie erwachsen sind, gar nicht wissen, was Freiheit ist, und sich dann leichter dem System unterwerfen.
Ich habe zwei Enkelkinder, einen 16- und einen 18-Jährigen, Kinder von meinem Sohn, die lieber bei mir sind, als zuhause bei ihren Eltern. Die leben in Paris, und die besuchen mich oft in Barcelona, weil sie gerne die Geschichten hören, die ich erzähle, essen usw.
Obwohl ich so weit weg von ihnen wohne, können sie es genießen, dass sie dann nicht in ein Altenheim müssen, sondern einen unabhängigen Großvater erleben, der in seiner Wohnung lebt und der ihnen viele Sachen erzählen kann. Und ich habe den Eindruck, dass das meinen Enkeln sehr gut tut.
GWR: 1939, nach drei Jahren Bürgerkrieg, hat der Franco-Faschismus gesiegt. Wie beurteilst Du den Niedergang der Sozialen Revolution und die Rolle der Stalinisten, die sie im Spanischen Bürgerkrieg gespielt haben?
Abel Paz: Es ist schade, über Stalinismus reden zu müssen. Den Stalinismus gibt es nicht mehr. Stalin gibt es nicht mehr. Es ist jetzt unwichtig.
Das große Problem von Stalin war, dass er das Erbe von Lenin und Trotzki angetreten hat. Er konnte gar nicht anders, als er gehandelt hat. Der Staatsapparat war schon aufgebaut, die Geheimpolizei war schon da. Alles Sachen, die Lenin und Trotzki erfunden haben. Und Stalin hat es einfach übernommen und weitergeführt.
Man soll nicht vergessen, dass der libertäre Matrosenaufstand in Kronstadt und die libertäre Machnobewegung in der Ukraine von Trotzki besiegt wurden und dass Lenin das alles gebilligt und öffentlich vertreten hat. Trotzki hat die Anarchisten immer als Konterrevolutionäre bezeichnet und sie auch als solche bekämpft.
Das einzige Werk des Marxismus, das ich für gut halte, ist das Kommunistische Manifest, der Rest ist alles blabla. Im Kommunistischen Manifest ist alles sehr gut beschrieben, wie sie es sich vorgestellt haben, wie das ablaufen soll, inklusive der Diktatur des Proletariats. Obwohl der Marxismus und der Anarchismus das gleiche Ziel erreichen wollen, ist doch eine sehr große Distanzierung, eine sehr große Entfernung in der Praxis, wie man da hin kommt. Der größte Unterschied ist der, dass der Marxismus eine bestimmte Zeit historischen Bedingungen entsprochen hat, aber jetzt ist er tot, weil die Bedingungen andere sind. Und der Anarchismus ist die Geschichte, der wird nie sterben.
Der Anarchismus an sich ist gegen die Gewalt. Der erste Pazifist, den es gegeben hat, war Jesus Christus, der gesagt hat: „Wenn dir jemand auf die eine Wange haut, halt ihm auch die andere hin“. Und die Anarchisten in Spanien haben, anstatt die andere Wange hin zu halten, eher die Hand festgehalten und gesagt: „Moment mal, ihr müsst mich nicht schlagen.“
Ich will auf Deine Frage eingehen. Aber nicht direkt auf Stalin, eher auf den Sieg des Faschismus. Es gibt einen Intellektuellen, Miguel de Unamuno, aus der Zeit der Revolution, ein Baske, der an der Universität gearbeitet hat, der zu dem franquistischen General Milán Astray gesagt hat: „Du wirst siegen, weil du brutaler bist und weil du die besseren Mittel hast. Nicht weil du die Leute überzeugen kannst.“ Und so ist es auch gekommen. Franco hatte die besseren Waffen, die besser ausgerüstete Armee. Er hat eigentlich nicht gesiegt, er hat die Anarchisten besiegt. Aber gesiegt hat er nicht. Nach 40 Jahren Franquismus hat Spanien wieder ein Parlament, hat wieder einen König, hat wieder verschiedene Parteien. Es ist alles wieder so, wie vor dem Franquismus. Es hat sich nichts geändert, alles was Franco bekämpft hat mit seinem Faschismus, ist wieder da. Was sich geändert hat, ist, dass er Spanien auf der intellektuellen Ebene um 200 Jahre zurückgeworfen hat. Spanien lebt auf intellektueller Ebene im 18. Jahrhundert. Das ist das Vermächtnis des Franquismus. Und da hilft auch all die moderne Technik nichts. Spanien ist das Land mit den meisten Telefonen pro Kopf in Europa. In Spanien hat jeder einen Computer. Aber wofür wird das benutzt? Die Telefone werden dafür benutzt, damit die Männer die Frauen kontrollieren können, was sie gerade machen, um nachzufragen, wann das Essen fertig ist, usw., und nicht, um etwas Besonderes zu machen. Und am Computer werden Spiele gespielt.
Nach dem Ende des Franquismus, da bin ich der Meinung, dass der Anarchismus dort ist, wo er sein soll: In Spanien. Ich war im Exil, als Franco 1975 gestorben ist, und da habe ich ein Interview im Radio gehört mit Santiago Carillo, das war damals der Generalsekretär der Spanischen Kommunistischen Partei, und man fragte, welche Rolle die Kommunistische Partei nach dem Tod Francos spielen werde. Und er hat gesagt: „Ja, wir werden wieder die erste Rolle spielen im Arbeiterkampf, werden unsere Leute im Parlament haben und weiter für die Sache der Arbeiter kämpfen.“ Dann hat man Santiago Carillo gefragt: „Und was ist mit dem Anarchismus?“ Und da hat er gesagt: „Ach, das sind doch nur noch vier Verrückte, die hier noch rumrennen. Aber der Anarchismus ist tot.“ Da haben die gefragt: „Ja, tot, weil sie alle füsiliert wurden?“ Da hat er gesagt: „Ja, Franco hat alle getötet. Der Anarchismus wird keine Rolle mehr spielen.“
Daraufhin, ein paar Monate später, gab es den ersten Kongress, die erste öffentliche Veranstaltung der CNT wieder in Spanien, in San Sebastian de los Reyes, vor den Toren von Madrid, da man ihnen in Madrid keinen Raum gegeben hat. Und da sind die Leute zu Fuß oder mit Bus und Bahn, oder wie auch immer, hingefahren. Und es waren 25.000 Leute anwesend. Also sehr viele Menschen für die damalige Zeit. Und kurz darauf hat man wieder ein Interview mit Santiago Carillo gemacht und wieder nach den Anarchisten gefragt. Und da sagte er wieder, es wären „nur vier Verrückte“. Und da hat man ihm gesagt: „Auf dem anarchistischen Kongress waren doch 25.000 Leute, das kann doch so nicht stimmen.“ Und da hat er das Interview abgebrochen.
Nachher war die Entwicklung in Spanien so weitergegangen, dass in Valencia nach diesem Kongress von San Sebastian de los Reyes ein zweites großes Treffen der CNT gemacht wurde mit ca. 70.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Dann hat sich die bürgerliche Rechte zusammengetan, um das Problem zu diskutieren. Sie haben den Pakt von La Moncloa entwickelt, wo die Übernahme der Regierung vereinbart wurde, später von Felipe Gonzales usw.
1977 gab es eine große Veranstaltung der CNT in Barcelona, wo auch große Fotos von den Heldinnen und Helden der Revolution aufgestellt wurden und wo 400.000 Leute anwesend waren. Dann wurde die Angst unter den Parteien noch größer, dass der Anarchismus in Spanien wieder so stark werden könnte. Dann hat man damit begonnen, das zu tun, was man heutzutage zum Teil auch mit den Antiglobalisierungsgruppen macht, also eine Polizeiinfiltration, usw. usf., um den Ruf der CNT ganz bewusst zu schädigen. Das ging dann so weit, dass es einen Skandal von Scala gegeben hat. Das ist eine Diskothek in Barcelona, wo ein faschistisches Attentat stattgefunden hat. Diese Diskothek wurde in Brand gesetzt, aber zu einer Zeit, als gegenüber der Diskothek eine Demonstration der CNT stattfand. Und sofort haben die ganzen Medien gebracht, dass die Anarchisten das Attentat gemacht hätten, und das hat den Leuten natürlich sehr viel Angst eingeflösst. Und da war dann sozusagen so etwas wie der Untergang für diese Art anarchistische Bewegung in Spanien eingeläutet worden. Der Gouverneur von Katalonien selbst hat zu der Zeit gesagt, dass er mehr Angst vor den Anarchisten habe, als vor der ETA, noch vor diesem Attentat. Auf der anderen Seite war die CNT ja vor dem Bürgerkrieg mit mehr als 1,8 Millionen Mitgliedern die stärkste Gewerkschaft in Spanien, mit vielen Gebäuden, mit Presse, verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften, usw. usf., und auch mit einem gewissen Vermögen. Die CNT hat gar nichts zurückbekommen. Die Sachen sind eher den sozialistischen und kommunistischen Gewerkschaften geschenkt worden, obwohl sie eigentlich CNT-Eigentum sind. Und sie müssen dann mit dem wenigen Geld, dass die Arbeiter, die Mitglieder der CNT sind, geben, kleine Räumlichkeiten mieten, um Veranstaltungen zu machen, während die Kommunisten und die sozialistischen Gewerkschaften, die UGT bei den Sozialisten und die Commissiones Obreras bei den Kommunisten, große Säle besitzen, die damals CNT-Eigentum waren. Aber: die sind leer. Es geht niemand hin.
GWR: Welche Perspektiven des Anarchismus siehst Du heute in Spanien, aber auch global? Und wie siehst Du das im Zusammenhang mit sozialen Bewegungen, z.B. Antiglobalisierungsbewegungen, Anti-Kriegsbewegungen, …?
Abel Paz: Ich bin Optimist. Zwar nicht 100%ig, aber ich glaube, wir laufen einer sehr interessanten Zeit entgegen.
Nachdem es den Marxismus sozusagen nicht mehr gibt, seitdem es die Verführung von kommunistischen und trotzkistischen Parteien nicht mehr gibt, weil niemand mehr daran glaubt. Es ist so, dass die jungen Menschen auch nicht mehr an eine Struktur glauben. Sie gehen nicht wählen, sie beteiligen sich nicht unbedingt am System. Und das macht mich optimistisch. Es ist eine Art von primitivem Anarchismus, es müssen sich noch Sachen entwickeln. Vorsichtig sein muss man nur, dass man nicht versucht, diese ganzen Bewegungen zu bündeln und neue Strukturen durch diese Bewegungen zu schaffen. Weil diese Bewegungen dann auf ihrem Rücken die Last der alten Strukturen mittragen werden. Und deshalb ist es gut, wenn solche Strukturen nicht geschaffen werden.
Wenn ich das Heute sehe, dann vergleiche ich die heutige Zeit mit der Zeit des alten römischen Reiches. Das hat sich auch irgendwann sozusagen von selbst aufgelöst, weil es einfach saturiert war. Und wenn man sieht, wie die Macht in immer weniger Händen konzentriert wird, wie in den USA mit Bush, und das letztendlich die ganze Welt nur noch durch Geld zusammengehalten wird… Was ist Europa? Was ist die Europäische Union? Ohne den Euro würde es sie nicht geben. Die Leute haben ganz unterschiedliche Kulturen, sie haben eine andere Geschichte. Die Leute empfinden sich auch nicht als Europäer. Was sie vereint, ist nur das Geld, und nichts weiter.
Und das sind dann Punkte, die mir Hoffnung machen, dass sich diese Gesellschaft immer mehr destrukturieren wird, weil sie keine Werte mehr hat, die sie wirklich vertritt, außer die des Geldes. Und das Hauptindiz für diese Strukturierung ist, dass die Welt sich heute aufteilt, in diejenigen, die etwas zu essen haben, und diejenigen, die hungern müssen. Wir gehören zu denen, die noch etwas zu essen haben, aber die nächsten Jahre werden sehr gewaltsam sein, und es wird ein bestimmter „Kannibalismus“ herrschen.
Das Ende der Politiker, das Ende der aktuellen Politik ist meines Erachtens eingeläutet. Die neuen Bewegungen, die jetzt entstehen, das ist ein Aufstand der Massen, die Leute wollen nicht mehr diese Herrschaft des Geldes haben, obwohl es ihnen vielleicht selbst noch gar nicht bewusst ist. Aber es ist der Anfang eines solchen Aufstandes. Konkret ist es das Ende einer Zivilisation, um eine neue Zivilisation zu beginnen.
GWR: Herzlichen Dank.
Anmerkungen
Übersetzung: Ingo Saalfeld
Das (hier gekürzt vorliegende) GWR-Interview wurde am 6. Juni im Studio des "Medienforums Münster" aufgezeichnet und am 28. Juni 2004 von 18.04 bis 19 Uhr im Bürgerfunk (Antenne Münster, 95,4 MHZ) ausgestrahlt. Ein Mitschnitt der Radiosendung kann als CD-Rom für 5 Euro plus Porto bestellt werden bei:
Medienforum
z.Hd. Klaus Blödow
Verspoel 7-8
48143 Münster
2,50 Euro pro CD gehen an Abel Paz.
Das GWR-Interview, ein transkribierter Mitschnitt der von FAU, GWR, Infoladen Bankrott, FLOH (Fachschaftsinitiative linksorientierter HistorikerInnen), ESG, AStA und Gruppe B.A.S.T.A. organisierten Veranstaltung mit Abel Paz am 6.6. in der ESG Münster, sowie weitere Beiträge und Fotos erscheinen voraussichtlich im Oktober 2004 im Frankfurter Verlag Edition AV. ISBN: 3-936049-33-5. Mögliche Gewinne sollen Abel Paz zugute kommen.