Der gerade erschienene 5. Band der Reihe "Ausgewählte Schriften" Michael Bakunins im Karin Kramer Verlag wendet sich einem höchst spannenden und umstrittenen Thema zu: dem "Konflikt mit Marx".
Genauer gesagt widmet er sich der ersten Etappe der Auseinandersetzung und deckt den Zeitraum von 1868-1870 ab. Der 2. Teil, also sozusagen der Höhepunkt und das Ende des Konflikts, nach der Zäsur durch die Pariser Kommune, ist einem 2. Teilband vorbehalten, der hoffentlich bald nachgereicht wird.
Das zunächst eher freundschaftliche, wenn auch distanzierte Verhältnis zwischen Bakunin und Marx in den 1860er Jahren verschlechtert sich von dem Zeitpunkt an, als Bakunin in die Internationale Arbeiterassoziation eintritt (kurz „Internationale“) bzw. zu den Mitbegründern der „Internationalen Allianz der sozialistischen Demokratie“ (kurz „Allianz“) gehört, die beantragt, in die Internationale aufgenommen zu werden. Bakunin wird von Marx nun offenbar als Konkurrent um die „Vorherrschaft“ in der Internationale wahrgenommen, was sich zunächst in einigen noch unkoordinierten „Wutausbrüchen“ von Marx niederschlägt, bei denen es sich um reine Projektionen handelt, da der Anlass jeweils nicht das Verhalten Bakunins selbst ist, sondern Aktionen von Personen aus dem Umfeld Bakunins, hinter denen Marx (zu Unrecht) Bakunin als „Drahtzieher“ vermutet.
Marx‘ Paranoia, seine dominierende Stellung in der Internationale an Bakunin verlieren zu können, erhält durch seine Abstimmungsniederlage auf dem Basler Kongress der Internationale im September 1869 Auftrieb. In der Frage der Abschaffung des Erbrechts wird der von ihm verfasste Antrag des Generalrates mit deutlicher Mehrheit abgelehnt, während der von Bakunin inspirierte Antrag nur knapp (die zur Annahme benötigte) absolute Mehrheit verfehlt.
Durch diesen „Achtungserfolg“ Bakunins wachsen sich Marx‘ Ressentiments gegen ihn nun zu einer regelrechten Kampagne aus, bei der Marx Schützenhilfe von mehreren deutschen Publizisten erhält (Sigismund Borkheim, Moses Hess, Wilhelm Liebknecht). Man spielt sich gewissermaßen gegenseitig die Bälle zu. Während Marx und Engels den deutschen Pressepolemiken gegen Bakunin zuarbeiten, setzen diese Falschinformationen in die Welt, die Marx wiederum bereitwillig als Tatsachen übernimmt. So entsteht ein ganzes Gebräu an Unterstellungen, Lügen und Verballhornungen bakuninscher Positionen, das Marx Anfang 1870 in Form „vertraulicher Mitteilungen“ innerhalb der Internationale verbreitet, wobei er bewusst seine Stellung im Generalrat ausnutzt, um seiner privaten Denunziation einen offiziellen Anstrich zu verleihen. Das bekannteste und berüchtigtste Beispiel ist sicher die „confidentielle Mittheilung“ an die deutsche Sozialdemokratie, die kaum eine richtig wiedergegebene Tatsache enthält.
An den unterschiedlichen Reaktionen auf diese Anti-Bakunin-Kampagne zeichnet sich bereits ein geographisches Muster der kommenden Spaltung der Internationale ab. Während die deutschen Sozialdemokraten Marx‘ „confidentielle Mittheilung“ unkritisch für bare Münze nehmen (allerdings ist hier bereits publizistisch das Terrain vorbereitet), stoßen entsprechende „Mitteilungen“ in Belgien auf Ablehnung, bzw. wird Marx‘ Versuch, über seinen Schwiegersohn Paul Lafargue eine Kampagne gegen Bakunin in Frankreich zu lancieren, von diesem als aussichtslos beurteilt.
Dass sich hinter dem Marx-Bakunin-Konflikt keineswegs nur ein persönlicher Machtkampf oder die Rivalität zweier unverträglicher Charaktere verbirgt, sondern sich zwei gegensätzliche Sozialismuskonzeptionen abzuzeichnen beginnen, wird aus den Auseinandersetzungen auf einem „Nebenschauplatz“ deutlich. Im April 1870 spaltet sich die „Romanische Föderation“ der französischsprachigen Schweizer Sektionen der Internationale. Vordergründig geht es um die Aufnahme der „Allianz“ in die Föderation, die mit knapper Mehrheit beschlossen wird, was die unterlegene Minderheit zum Auszug veranlasst. Tatsächlich erweisen sich die unterschiedlichen politischen Auffassungen der beiden Fraktionen als unvereinbar. Es geht um das Für und Wider des Sicheinlassens auf die Institutionen des bürgerlichen Staates, um Sinn und Zweck von Wahlbeteiligung und Reformpolitik, kurzum: es steht der politisch-parlamentarische Flügel gegen den libertär-sozialrevolutionären – und dieser einstweilen noch regional begrenzte Konflikt wirft bereits die Schatten der großen Spaltung innerhalb der Arbeiterbewegung voraus. Jenseits vergangener Apologetik zeichnet der Herausgeber Wolfgang Eckhardt hier ein neues Bild des folgenreichen Konflikts. Gestützt auf eine umfassende Recherche und unter Einbeziehung vieler neu entdeckter Dokumente löst er sich von der Fixierung auf die beiden Protagonisten Marx und Bakunin und lenkt den Blick auf eine Reihe weiterer Akteure, die eine zum Teil nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Jedenfalls wird deutlich, dass Marx und Bakunin (wobei das Hauptaugenmerk auf Bakunin liegt) in Beziehungsgeflechte eingebunden und Exponenten bestimmter Richtungen waren, keine einsamen Gladiatoren auf dem Feld der Politik.
Das Buch hat nur einen Schönheitsfehler, wenn man es so nennen möchte: von einer „Werk“ausgabe Bakunins lässt sich nur bedingt sprechen. Die sehr untertreibend als „Einleitung“ bezeichnete historische Studie des Herausgebers ist bereits vom Umfang her das Kernstück des Bandes, die wenigen Originaltexte Bakunins, bei denen es sich durchweg um Marginalien (Briefe, Widmungen, Reden, Diskussionsbeiträge) handelt, haben mehr den Charakter eines dokumentarischen Anhangs.
Dieses Missverhältnis ist der chronologischen Darstellung des Konflikts zu verdanken. In der frühen Phase, die in diesem Band geschildert wird, ist Bakunin mehr das Objekt äußerer Zuschreibungen und tritt noch kaum als handelnde Person in Erscheinung. Die eigentliche, auch inhaltliche Auseinandersetzung mit Marx und seinen Anhängerinnen und Anhängern erfolgte erst zu einem späteren Zeitpunkt.
Michael Bakunin, Konflikt mit Marx. Teil 1: Texte und Briefe bis 1870. Einleitung Wolfgang Eckhardt. Ausgewählte Schriften 5, Karin Kramer Verlag, Berlin 2004, 235 S., 15 Euro