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Subversive Kopffüßler?

Ein Interview mit Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg zum dreißigsten Geburtstag der Edition Nautilus

| Interview: Bernd Drücke

Nautilus - namengebend für Kapitän Nemos U-Boot aus Jules Vernes Roman "20.000 Meilen unter dem Meer" - ist ein Kopffüßler (Cephalopode), der ein kalkiges Außenskelett besitzt. Die Kopffüßler, bekannter unter der Bezeichnung "Tintenfische", sind eine steinalte Tiergruppe, deren erste Vertreter schon vor über 500 Millionen Jahren in den damaligen Meeren auftauchten.

Was hat das mit Anarchismus zu tun? Viel. Vor 30 Jahren wurde die Edition Nautilus ins Leben gerufen.

Hanna Mittelstädt (* 1951) und Lutz Schulenburg (* 1953) sind Gründungsmitglieder dieses libertär inspirierten Hamburger Verlags. Mit ihnen sprach während der Leipziger Buchmesse 2004 im Libertären Zentrum "Libelle" GWR-Koordinationsredakteur Bernd Drücke.

Graswurzelrevolution (GWR): Am 26. März 2004 wurde der Edition Nautilus auf der Leipziger Buchmesse der Kurt-Wolff-Preis überreicht. Ihr wurdet damit für Euer anspruchsvolles literarisches Verlagsprogramm, für die bei Euch herausgekommenen Künstlerbiographien, wie z.B. über Billie Holiday und Vincent van Gogh, und für die Herausgabe der Franz Jung-Werke geehrt. Ich zitiere aus der Laudatio von Dr. Christina Weiss, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Euch den Preis überreicht hat: „(…) der Kurt-Wolff-Preis (…) bleibt (…) ein Tropfen auf den heißen Stein als Anerkennung vom Staat. (…) eigentlich müßte die Kulturnation selbst sich die Förderung solcher Verlage zur Aufgabe machen.“ Das ist Dialektik: Anarchisten, die vom Staat gefördert werden.

Hanna Mittelstädt: So kannst Du das sehen.

Wenn man bedenkt, dass wir in 30 Jahren über 400 Bücher herausgebracht haben, dann haben wir diesen Scheck über 26.000 Euro vom Kultusministerium verdient. Im Januar/Februar hatten wir noch keine Ahnung, wie wir die Druckereirechnung für das vorliegende Programm in Höhe von 60.000 Euro bezahlen sollten. Mindestens 80% unserer Bücher werden nicht kostendeckend verkauft. Bücher wie der Durruti-Band von Abel Paz oder die Bakunin-Biographie von Madeleine Grawitz sind Zuschussgeschäfte, die uns ausbluten und die wir durch andere Bücher quer finanzieren müssen. Wenn die dann nicht kommen, dann sieht das nach ein, zwei Produktionen, die schief gegangen sind, einfach scheiße aus. Selbst nach 30 Jahren wissen wir nicht, welche Bücher etwas abwerfen. Es sind in den letzten Jahren immer wieder Wunder passiert, dass wir so in der Größenordnung Geld bekommen haben, mit dem wir nicht gerechnet haben. Diesmal war es dieser Preis.

Lutz Schulenburg: Wir haben uns im Kern nie als „anarchistischer Verlag“ verstanden, sind aber seit unserer Jugend libertär geblieben, auch in unserer Haltung als Verleger.

In unserem Verlag veröffentlichen wir literarische Titel, die unabhängig sind von der Einstellung des Autors, die literarische Qualität haben.

Bei den politischen Texten versuchen wir, Tendenzen zur sozialen Emanzipation zum Ausdruck zu bringen.

Wir sind gezwungen, als professionell-kommerzielles Unternehmen zu agieren. Das führt zu Schwierigkeiten.

Hanna: Der Kurt-Wolff-Preis, um noch mal darauf zurück zu kommen, ist dazu da, dass diese Vielzahl an Verlagen oder auch an Kultur gestützt wird.

Die Tendenz zur Monopolisierung, Bertelsmann und Co., die soll dadurch ein bisschen abgefedert werden, weil die Kultur unheimlich verarmt dadurch, dass es nur noch ein, zwei, drei Monopole gibt, die sie bestimmen.

Diese Entleerung der Kultur, das merken einige, auch Christina Weiss. Ich glaube, dass es relativ ehrlich war, dass sie sich darüber gefreut hat, dass wir diesen Preis bekommen haben. Zumal sie auch eine spezielle Beziehung zu Franz Jung hat.

Wir sind Teil dieser Gesellschaft und Teil dieser Kultur, und da kann man auch einen solchen Preis entgegen nehmen.

Lutz: Man muss öffentlich darum kämpfen, dass der Anspruch der Gesellschaft im Bewusstsein bleibt. Es ist nicht so, dass die Gesellschaft nur aus dem Staat besteht.

Es ist zunächst mal die Gesellschaft da und der Staat, der die Gesellschaft zerstört oder eingrenzt und okkupiert. Der Staat zieht seine Subsistenzmittel aus der Gesellschaft. Man muss dies umkehren, versuchen, die Politiker in die Defensive zu bringen. Im Moment sind sie noch in der Offensive.

GWR: Die Edition Nautilus ist jetzt 30 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch! Wie fing alles an?

Lutz: Es fing sehr lustig an. Wir hatten Sehnsüchte und Fragen. Die mussten wir beantworten. Dazu, dachten wir, helfen uns auch bestimmte, ausgewählte internationale Texte, die wir verbreiten wollten. Wir hatten auch eigene Texte, wir wollten eingreifen. So hat alles angefangen. Eigentlich in gewisser Weise als Selbsthilfeprojekt.

Da wir als Libertäre immer eine extreme Minderheitenposition innerhalb der Linken vertreten haben, war das nicht einfach.

Hanna: Wir waren drei Leute: Lutz und ich und Pierre Gallissaires, ein Franzose, der zehn Jahre älter ist als wir. Der kam frustriert aus dem Mai 1968 zurück. Er war niedergeschlagen, sozusagen geschlagen, und er hat gesagt, dass er es gehasst hat, weiter in Paris zu sein. Er wollte nach der Niederlage dieser Bewegung dort nicht weiter leben. So ist er nach Deutschland gekommen. Er war Anarchist, ein Freund von Jean Barrué, der am selben Gymnasium in Bordeaux unterrichtete, das Pierre besuchte. Wir waren auch bei der anarchistischen Bewegung, und da haben wir uns kennen gelernt. Er kam mit einem Kopf voller Projekte und einem Koffer voller Bücher, u.a. mit der gerade erschienenen Sammlung der Situationistischen Internationale. Wir haben dann angefangen, politische Texte zu übersetzen, z.B. Berneris Analysen zum Spanischen Bürgerkrieg.

Pierre hatte jede Menge Übersetzungsvorschläge aus dem Französischen, und besonders Lutz hatte genaue Vorstellungen, auch andere Sachen zu veröffentlichen. Ich konnte „10-Finger-blind-Schreibmaschine“ und Französisch. So haben Pierre und ich jahrelang zusammen Übersetzungen gemacht, so kamen wir zusammen.

GWR: Ihr habt ab September 1971 die anarchistische „MAD“ herausgegeben, bis 1973 das gleichnamige „Satire“-Blatt gerichtlich gegen Euch vorging.

Lutz: Wir hatten die Zeitschrift „MAD“ zunächst mit dem Untertitel „Materialien, Analysen, Dokumente“ herausgebracht.

Man konnte das natürlich auch als „Määd“ aussprechen, also wie die satirische Zeitschrift.

Es war ein sachlicher Titel und hatte Untertitel wie „Anarchistische Hefte“. Mit diesem Zeitungsprojekt haben wir angefangen, und daraus hat sich dann der Verlag entwickelt. Eines Tages haben wir das verbotene Bommi Baumann-Buch „Wie alles anfing“ neu herausgegeben, gemeinsam mit 150 Verlagen, Buchhandlungen und namhaften Persönlichkeiten. Damals hat Otto Schily das noch verteidigt. Wir hatten mit unterschrieben. Dann hatte wahrscheinlich ein Geschäftspartner dieser „lustigen Zeitschrift“ gesagt: „Ihr seid auch dafür, dass das Buch von Bommi Baumann wieder erscheint?“

Dann sagten die: „Nein, nein, nein!“ Die haben sofort eine einstweilige Verfügung gegen uns erwirkt, wegen Namensgleichheit und pipapo.

Wir haben daraufhin den MAD-Verlag endgültig in der Edition Nautilus aufgehen lassen, ein viel schönerer Name.

GWR: Die Zeitschrift „MAD“ habt Ihr aber schon 1973 in „Revolte“ umbenannt.

Lutz: Genau. Und seit 1981 erscheint jetzt „Die Aktion“ als „Zeitschrift für Politik, Literatur, Kunst“ (1). Das sind die knappen Veränderungen in den letzten 30 Jahren, sind nicht so viele, aber es ändert sich etwas, manchmal. Der Verlag ist gewachsen und wir mit ihm.

Hanna: Die ersten Broschüren haben wir noch persönlich geheftet, in DIN A4 gedruckt, auch den Umschlag. Dann haben wir alles zusammen gelegt und gesehen, dass wir vergessen hatten, den Rücken einzuberechnen. So kamen unsere ersten Broschüren zustande.

Lutz: Also richtig dilettantisch.

Hanna: Und wir hatten kein Geld.

Lutz: Aber Tipp-Ex, die große Errungenschaft.

Hanna: Ich habe das auf einer halbelektrischen Schreibmaschine abgetippt. Pierre hatte eine manuelle Schreibmaschine mit vielen schiefen Buchstaben, und ich habe gesagt: „Na, so geht’s aber nicht.“

Lutz: Wir sind mit den Produktionsmitteln gewachsen, mussten sie uns erobern. Das erste Heft der MAD, da war nur der Umschlag Offset, das Andere haben wir noch abgenudelt. Wir haben also alle diese Stadien der Aneignung der Produktionsmittel und der Fähigkeiten durchgemacht, bis hin zur Umstellung auf Computer. Insofern sind wir mit den Mitteln gewachsen. Vieles hat sich dadurch verquickt. Deswegen sind wir leidenschaftliche Anhänger der Selbstorganisation. (…) Die erste Broschüre in der Reihe „Flugschriften“ war eine Sammlung über den Betriebskampf mit vielen Stimmen aus Frankreich, England … Das war eine Zusammenstellung, mit internationalem Blick, weil der Schwerpunkt der autonomen und radikalen Klassenkämpfe nicht in Deutschland lag. Sie hieß „Dranbleiben, einmal klappts bestimmt“. Das sollte auch ein Beispiel dafür sein, welche Formen auf einer internationalen Ebene schon von der Klasse eingesetzt werden. Und das stand konfrontativ zu den Leuten, die sich heute in Regierung oder sonst wo rumtummeln, die doch eine andere Meinung hatten, wie der Arbeiterkampf, der Kampf der Jugend, oder anderer sozialer Schichten zu führen wären. Deswegen waren wir zwar nach allen Seiten hin offen, aber eingekesselt. Diesen Kessel Buntes gab es immer schon: Ob das nun diese Dilettanten in Frankfurt um Fischer und Cohn-Bendit, das Großmaul, waren, oder der Joscha Schmierer aus Heidelberg. Die sind sich konsequent treu geblieben.

Das waren starke Bataillone, die die aufbringen konnten, auch der Kommunistische Bund (KB) Hamburg, mit denen mussten wir uns auseinandersetzen und manchmal mit ihren schlagkräftigen Ordnern herumprügeln.

Wir haben als Teil der Aktivisten viel mitorganisiert: Aktionen gegen Fahrpreise, im Jugendzentrumsbereich, gegen die Repression im Zuge der RAF-Fahndungen, usw.

Da waren die Libertären immer ein störender Faktor.

Im Rückblick muss man sagen, dass wir leider nicht fähig waren, eine dauerhafte Vermittlung unserer Vorstellungen zu organisieren. Wir dachten alle mehr oder weniger, es geht nur voran. Dass es auch zurück geht, hatten wir im Überschwang unserer Leidenschaften nicht beachtet. Es sind dann viele gegangen, und das hatte auch viel damit zu tun, dass die Erwartung vom stetigen Vorwärts stark verbreitet war. Da haben wir, als MAD-Kollektiv, einen vorsichtigeren, mittleren Kurs gefahren: Theorie ist wichtig, das Denken, das Wissen, die Erfahrungen müssen bewahrt und eingebracht werden.

GWR: Wie seid Ihr mit anarchistischen Ideen in Berührung gekommen? Die marxistischen Strömungen waren damals ja wesentlich größer als die libertären. Ihr wart aber schon Ende der 60er Jahre aktiv in einer anarchistischen Jugendgruppe?

Lutz: Die Trennung war ja nicht so klar. 1968/69 gab es einen Schwung, z.B. bei den Schülern, Lehrlingen und jungen Arbeitern. Alles war in Bewegung, und die autoritären Differenzierungen in Richtung Maoismus, Leninismus, Trotzkismus, etc. fanden erst statt.

Man war eigentlich mit allen „Politisierten“ befreundet.

In meinem Hamburger Stadtteil, bestand eine lebendige Bewegung, die sich auch aus unterschiedlichen Erfahrungen und Traditionen zusammensetzte.

Viele Genossen kamen aus kommunistischen Familien.

Gerade bei den Schülern und Lehrlingen gab es die „Draufgänger“, die „Molli-Fraktion“, die „aktionistisch Orientierten“, die „Vorsichtigeren“, die Theoriearbeitskreise, … das war alles da und hing 1969 noch zusammen. Dann flog das auseinander. Einige sind in die DKP gegangen oder haben den KB mitgegründet. Da konnte man zwischen die Räder geraten oder sich mit der „Hauptströmung“ mitreißen lassen. Aber wenn die einen nicht mitnahmen, … also, die trennten sich ja von Leuten, die sie nicht ausstehen konnten.

Als 1969 die DKP gegründet wurde, hatte das für viele etwas Verführerisches, da viele Gruppen und Zusammenhänge, auch international, keinen Bestand hatten. Viele sind umgeschwenkt, die schlimmsten Aktionisten der Schülerbewegung aus Hamburg waren auf einmal in der Partei.

Man ist weggefahren, kam am Montag wieder, und dann sagten die: „Mensch, wir sind gestern in die DKP eingetreten.“

Ich stand dann da an der Kreuzung: „Was?! Und ich?!“ Mich hat natürlich keiner gefragt. Die anderen sind dann zu den Maoisten, bzw. zum KB, und ich bin in eine Anarchozelle in Hamburg gegangen und habe in meinem Stadtteil eine kleine Gruppe mitorganisiert.

Hanna: Ich kam dann dazu.

GWR: Wer hat die anarchistische Zelle in Hamburg gegründet?

Lutz: Die gab es schon. Es gab sogar ein paar Rudimente aus den 20er Jahren. Es gab hier in Hamburg starke Gruppen und einen sympathisierenden Anhang, der dazu gekommen ist. Dazu gehörte z.B. auch Uwe Timm, der sich allerdings immer etwas bedeckt hielt.

Das ganze libertäre Spektrum versammelte sich regelmäßig. Es gab einen großen Anhang unter Schülern und Jugendlichen und ein altes Anarchosyndikat, das schon 1967/68 im Umfeld des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) war: Bauarbeiter, Zimmerleute, … Das war ein breites Feld.

Nochmal einen Schritt zurück, zum Ausgangspunkt. Auf der lokalen Ebene gab es hier in Hamburg als dominierende linke Kraft den KB. Die wollten kommunistische Kaderpolitik betreiben, besonders in den Gewerkschaften.

Die Radikaleren, also Antiautoritären, dagegen wollten keine „leninistische Taktik“. Sie sagten: „Wir tarnen uns nicht über gewerkschaftliche Forderungen. Wir greifen voll an.“

Dazu gehörte ich, ich war damals Ultra-Radikalist. Damit war kein Blumentopf zu gewinnen.

So sind wir Ultras bei den Anarchisten gelandet oder abgedriftet. Außerdem waren für radikale Jugendliche wie mich wichtige Themen: Basisdemokratie, Räte, Selbstorganisation, Spanischer Bürgerkrieg, … Das spielte eine Rolle, auch wenn das noch auf einer kleinen theoretischen Basis gelagert war.

Hanna: Nach unserem Verständnis gehörten wir zum guten Haufen, der tatsächlich aus 68 herübergerettet wurde und der aus völlig verschiedenen Leuten bestand.

Unsere Dreiergruppe hatte mit den Schriften eine Orientierung und Impulse für Diskussionen gegeben. Es war toll, was Pierre mit seinem großen Wissen und der größeren Lebenserfahrung aus Frankreich, aus dem Pariser Mai 68 zu erzählen hatte. Das war wichtig, auch wenn es in einem kleinen Keller begann.

Der bewaffnete Kampf, die RAF und die Bewegung 2. Juni, militante Hausbesetzungen, … das hat dann Teile der Linken aufgerieben. Die Verhärtung in den Auseinandersetzungen, als gäbe es nichts mehr zu diskutieren und die Perspektive wäre, sich zu bewaffnen oder Solidarität zu leisten für die Leute im Knast, das hat der ganzen Entwicklung unheimlich geschadet und alles beschwert.

Lutz: Diese Militanz lief natürlich irgendwann ins Leere. Das war das Problem.

Ich würde unsere Basis auch nicht als so klein ansehen. Das Feld war ziemlich groß. Wir konnten viele Leute mobilisieren und hatten Demonstrationen gemacht.

Der KB, der in Hamburg sozusagen das Organisationsmonopol hatte, auch über die K-Gruppen, brauchte immer zwei bis vier Wochen, um „die Massen“ zu mobilisieren.

Wir wollten immer sofort Aktionen machen. Als Petra Schelm erschossen wurde, da z.B. haben wir auch Bündnispolitik gemacht, mit den kleineren Gruppen, die leicht links-kommunistisch oder trotzkistisch waren, Proletarische Front von Karl Heinz Roth, den Sponti-Maoisten … Die haben sich auch radikalisiert. Es gab Absplitterungen bei den Dogmatikern, Leute, die den Kurs nicht für richtig hielten, Lernschritte oder Prozesse, die positiv waren.

Da war es toll, dass Pierre Erfahrungen aus Frankreich mitgebracht hat, aus dem Mai 68, aber auch aus seiner Zeit während des Algerienkriegs – er war nach Nordafrika desertiert. Er hat sehr dabei geholfen, eine Gegenkraft aufzubringen gegen diese damals sehr starken autoritären Auffassungen.

GWR: Was macht Pierre Gallissaires heute?

Hanna: Er lebt als literarischer Übersetzer wieder in Frankreich.

GWR: Vor der Machtübernahme der Nazis 1933 gab es in Hamburg eine rege anarchistische Bewegung und Zeitungen wie „Alarm“ (1919-1930), das Organ des Anarchistischen Freibundes. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es Versuche gegeben, den in 12 Jahren Faschismus zerschlagenen Anarchismus wiederzubeleben. Am 20. Mai 1945 hat Otto Reimers in Hamburg den „Mahnruf“ als erste anarchistische Nachkriegszeitung herausgebracht. Von 1947 bis 1948, zwanzig Jahre vor der „Renaissance“ des Anarchismus, erschien in der Hansestadt „Der Freie Sozialist“, ein gut gemachtes anarchistisches Blatt. 1949 hat Carl Langer die Nachfolgezeitschrift „Die Anarchie“ herausgegeben. Gab es Kontakte zu den Hamburger Altanarchisten?

Lutz: Ja, aber ein Manko von uns jungen Anarchos war, dass wir nicht in der Lage waren, die Erfahrungen, die die Genossen gemacht hatten, wirklich aufzunehmen. Die alten Anarchisten waren, in unseren Augen, sehr pazifistisch und gewaltfrei. Unsereins war viel verbalradikaler. Das war ein wenig reflektierter Überschwang, Revolution ohne Schießen konnte man sich gar nicht vorstellen.

Die alten Anarchisten waren natürlich skeptisch und dachten: „Nee, was für Heißsporne.“

Zum Teil waren sie ein bisschen verbittert und betrachteten uns skeptisch.

Das haben wir persönlich etwas bedauert, weil man bei ihnen einige Leute kennen lernen konnte, die waren erfahren, hatten reichlich soziale, klassenkämpferische Erfahrungen gemacht. Es gab bei ihnen Genossen, die nicht von Pappe waren, auch nicht für „Heißsporne“, „Grünschnäbel“ und Bakunisten. Sie hatten Erfahrungen, die uns, hätten sie diese uns vermitteln können, wirklich geholfen hätten.

Im Nachhinein gesehen waren wir ziemlich blöd, weil durch unsere Ignoranz der Weg für uns unnötig schwerer war, als er vielleicht hätte sein können.

Sie, die „Alten“, hätten erzählen können, was passiert, wenn eine Bewegung zurückgeht und eine Niederlage verarbeitet werden muss, nicht nur die der steckengebliebenen Revolution von 1918. Wir haben uns zu sehr aufgerieben an den „neuen“ leninistischen Parteien. Die waren ja eine Komödie, die Wiederholung einer Sache, die schon mal gegen den Baum gegangen ist.

GWR: Was waren prägende Erlebnisse, die Euch auf den libertären Weg gebracht und politisiert haben?

Hanna: Ich bin ganz jung, noch auf der Schulbank, von einem Anarchisten, einem genau so alten Menschen wie ich, der schon seinen Bakunin gelesen hatte, vollgequatscht worden. Der hat mich einfach endlos vollgequatscht mit Bakunin und den anarchistischen Traditionen, bis er mich derartig weichgeklopft hat, dass ich mal mitgegangen bin zu diesen anarchistischen Treffen. Dieses Antiautoritäre entsprach meinem Naturell. Ich hab mich nie in irgendeiner Parteigruppe wohlgefühlt, das fand ich immer bescheuert.

Ich kam dann in diese Anarcho-Gruppe, weil mich diese Mischung aus Theorie, Gefühl, Intuition, dieses Lebensgefühl angesprochen hat. Das hat sich dann über lange Jahre hin gefestigt.

Es ist schwer, das an einzelnen Ereignissen fest zu machen.

Der Wert des Individuellen war mir immer wichtig und die Poesie, und das eingebettet in diese politischen Aktivitäten. Ich hätte nie in einer Gruppe mitgemacht, wo nicht Poesie und eigenes, individuelles Glückstreben eine gleichberechtigte Rolle gespielt hätten. Aber das durchzusetzen, das individuelle Glückstreben nicht aufzugeben und den Mut zu haben, das zu sagen, gerade auch in den finsteren Zeiten der RAF, das war wichtig und prägend. In den Zeiten, wo im Anarchokeller mit Waffen rumgefuchtelt wurde, wo alles irgendwie düster war, wo irgendwelche Leute zu einem kamen und sagten: „Der ist im Knast, wir holen ihn raus, und ihr stellt die Infrastruktur!“

Sich mit solchen Sachen auseinander zu setzen als junger Mensch, Anfang 20, da war ich oft überfordert. Für diese Auseinandersetzung war ich noch nicht reif genug. Hätte man mich noch mehr unter (Soli-)Druck gesetzt, hätte ich in eine ganz andere Perspektive rutschen können.

GWR: Wie schätzt Du die Situation der linken und libertären Szenen und die allgemeine politische Entwicklung heute ein?

Hanna: Das kann ich vielleicht nicht mehr so beurteilen, weil ich da nicht mehr so drin bin. Was ich einerseits sehe, dass es viele junge Leute heute leichter haben, dass sie viele Prozesse, sich von den Autoritäten zu lösen, den eigenen Weg zu finden, nicht mehr so durchkämpfen müssen, wie wir das mussten.

Es gibt ein größeres Selbstverständnis, auf die eigene Autonomie zu pochen.

Diese Sektenbildung, diese Identifizierung – „Wir sind die Anarchisten“, „Wir sind die Proletarische Front“, „Das sind die Maoisten“ – dieses Tableau von Identifizierungen ist nicht mehr so da.

GWR: Vielleicht anders? Heute gibt es „Anti-Imps“, „Anti-Deutsche“, …

Hanna: Aber die sind doch bloß marginal.

GWR: Wie erklärt Ihr euch die Metamorphose von ehemaligen Libertären, wie z.B. Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit, zu Staatsmännern, die auch beim NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 eine führende Rolle gespielt haben?

Hanna: Man hatte schon ein ungutes Gefühl bei einigen, weil es auch Profilierungsgeschichten gab, Leute, die sich innerhalb der Bewegung profiliert haben.

Lutz: Aber man hätte sich damals nicht vorstellen können, dass Fischer Außenminister wird oder unser Cohn-Bendit nicht Sportreporter, was ja sein bescheidener Wunsch einmal gewesen war, sondern Lautsprecher für die Bombardierung.

Ich glaube, dass es mit der besonderen Situation in Deutschland zu tun hatte. Das war keine normale Situation. Es war eine postfaschistische Gesellschaft. Nicht „normal“ war z.B., dass sich die herrschende Klasse praktisch immer im Schatten der Geschichte bewegte, teilsouverän, geteiltes Land, der Kalte Krieg… das spielte eine große Rolle. Die Lehren aus Auschwitz für Joschka Fischer sind: Bombardieren. Das meint der ernsthaft, das ist zwar eine verkehrte Welt, aber es entspricht der geistigen und psychologischen Entwicklung seit 1968.

Deshalb sind die „Anti-Deutschen“ auch so sehr deutsch: mit ihrer Unbedingtheit, ihrem Absolutheitsanspruch, ihrer provinziellen Blindheit und Rechthaberei. Fischer könnte gut ihren Hausheiligen abgeben, bramarbasiert er doch wie sie.

GWR: Wenn Ihr auf Euer Verlagsprogramm schaut, auf was seid Ihr besonders stolz?

Hanna: Das ist zum Beispiel unser erstes Mammutprojekt, neben der Franz-Jung-Ausgabe: „Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten“ von Abel Paz. (2)

Das war eine unglaubliche Arbeit. Da gab es seit Ewigkeiten diese Übersetzung, getippt auf der Schreibmaschine, ohne dass der Übersetzer Tipp-Ex kannte, mit drei Durchschlägen, es gab nicht einmal eine Kopie, sondern einen Durchschlag, mit vielen durchge-x-ten Worten, … das war die Arbeitsgrundlage.

Es war schon kompliziert genug gewesen, wie wir an diese Übersetzung gekommen sind, und dann solch eine Übersetzung … Viele Freunde haben dann an der Bearbeitung dieser Übersetzung mitgearbeitet. Im Buch findet sich eine lange Liste der Leute, die damit beschäftigt waren.

Das war alles wahnsinnig aufreibend und kostspielig für uns.

Als wir das Buch dann fertig hatten, war es das dickste Buch, das in unserer Verlagsgeschichte bisher herauskam. Wir waren total stolz auf dieses Werk.

Dann war es unheimlich schön, dass viele Rezensenten aus ihren Feuilleton-Winkeln kamen und dieses Buch würdigten.

GWR: Mittlerweile gibt es sogar eine türkische Ausgabe im Istanbuler KAOS-Verlag.

Lutz: Die hatten auch eine gute kritische Textgrundlage, wenn sie unsere Ausgabe hinzugenommen haben.

Hanna: Ich denke, ohne Überheblichkeit sagen zu können, unsere Ausgabe ist die sorgfältigste. Wir haben sehr viel lektoriert, nachgeforscht und überprüft, denn es waren massenhaft Fehler sowohl in der französischen, wie auch in der spanischen Ausgabe enthalten. Es war ein kollektives Produkt.

Das war eine schöne Sache.

GWR: Herzlichen Dank.

(1) Zur Geschichte u.a. der seit 1981 in Hamburg erscheinenden "Aktion" siehe: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998, S. 220 ff.

(2) Zu Abel Paz siehe auch "Kleine Geschichten der großen Revolution" auf Buchseite 5

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Edition Nautilus auf der Frankfurter Buchmesse, 6.-10.10.2004: Standnummer F Halle 3.1 B 165