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„Erfasst, als er gerade die Schienen verließ“

Atomkraft. Für "Libération" meldeten sich die Gruppenmitglieder ("camarades" heißt eigentlich GenossInnen, MitstreiterInnen, d.Ü.) von Sébastien, der vom Zug mit (atomaren, fehlt im Original, d.Ü.) Abfällen getötet wurde, zu Wort.

"Dieser Text ist weder ein Bekenntnis noch eine Anschuldigung, wir wollen nur die Fakten wahrheitsgetreu darlegen." Fünf Tage nach dem Tod von Sébastien Briat, dem 22-jährigen Anti-Atom-Aktivisten, der am Sonntag nahe Avricourt im Departement Meurthe-et-Moselle während einer Aktion gegen einen Zug mit atomaren Abfällen ums Leben kam, der auf dem Weg zum Zwischenlager Gorleben/Deutschland war, haben sich seine MitstreiterInnen der Aktionsgruppe dazu entschlossen, die Umstände des Unfalls zu erörtern. "Jeder Beteiligte muss seinen Teil der Verantwortung übernehmen, wir eingeschlossen", schreiben sie in einer Erklärung, die an "Libération" übergeben wurde. Ihre Version widerspricht der These des Staatsanwalts von Nancy, Michel Senthille, nach der Sébastien Briat sich an den Gleisen mittels eines unter den Schwellen befestigten Rohres angekettet hätte und sich nicht rechtzeitig habe befreien können, als der Zug ankam, der nach den ersten Ergebnissen der Untersuchung "mit ungefähr 100 Stundenkilometern" unterwegs war. "Sébastien ist erfasst worden, als er gerade die Schienen verließ. Sein Arm war nicht mehr im Innern des Rohrs gesteckt", versichern die AktivistInnen. "Im Gegensatz zu dem, was angesichts dieses Dramas vermutet wird, war unsere Aktion auf keinen Fall unverantwortlich oder ein Akt der Verzweiflung", insistieren sie. "Diese Aktion war gewaltfrei, wohldurchdacht und freiwillig", sowie "sehr gut vorbereitet", indem sie "die bewährten Anhalteprozeduren" befolgt hat.

Training

13 Personen waren an der Aktion beteiligt, davon hatten drei bereits früher einen Zug blockiert, im November 2003, nur wenige Kilometer vom Unfallort entfernt. Die Gruppe hatte zwei Örtlichkeiten ausgekundschaftet (in der Meuse und bei Avricourt). Sie hatten sich für die zweite Örtlichkeit entschieden, nachdem sie die genaue Strecke des Zuges erfuhren, der von der Cogema gemietet wurde, und sie teilten sich in drei Gruppen: 3 "Beobachtungsposten" 15 Kilometer von Avricourt entfernt; 2 "StopperInnen (?,d.Ü.), mit Fackeln ausgerüstet, die sich 1500 Meter vor dem Aktionsort, an dem der Zug zum Stehen kommen sollte, placierten; sowie 8 "BlockiererInnen". Letztere haben sich am Rand eines Waldes versteckt, nachdem sie die Rohre unter dem Schotter verborgen hatten, wodurch sich vier von ihnen anketten konnten. Die Vorrichtung war am Ausgang einer Kurve mit einer auf 250 Meter reduzierten Sichtweite angebracht: "Die Stelle war gefährlicher als andere, aber wir hatten extra trainiert, uns im Notfall innerhalb von wenigen Sekunden loszuschließen."

Wenige Minuten vor dem Unfall hatten die BeobachterInnen den Zug, eskortiert von einem vorausfliegenden Hubschrauber, vorbeifahren sehen. Aber obwohl in diesem Bereich Aktionen von AtomkraftgegnerInnen immer wieder vorkommen, hat der Hubschrauber, der gerade zwei Stunden lang eine erfolgreiche und den Zug aufhaltende Blockade in Laneuveville-devant-Nancy überwacht hatte, seinen Beobachtungsflug abgebrochen, um Treibstoff zu tanken. Die StopperInnen, die jedoch auf den Hubschrauber als Signal für das Nähern des Zuges zählten, wurden überrascht und haben, "wie wir das vorher als Möglichkeit ins Auge gefasst hatten, darauf verzichtet, den Zug anzuhalten, weil er von zwei Fahrzeugen der Gendarmerie begleitet wurde, die mit großer Geschwindigkeit auf dem Weg neben den Gleisen vorausfuhren." Da der Zugführer "weder von den AktivistInnen aufgehalten noch vom Hubschrauber gewarnt wurde", entdeckte er die DemonstrantInnen erst im letzten Moment.

Dementierung

Nach den Angaben seiner Gruppenmitglieder war es Sébastien Briat, der in der Mitte der Gleise gelegen war, gelungen, aufzustehen, bevor er von der Lokomotive erfasst wurde. "Wir hatten uns nicht mit Vorhängeschlössern angekettet und wir hatten die Möglichkeit, uns aus den Rohren schnell zu befreien. Sébastien hat sich losschließen können. Es gibt eine offene Untersuchung, sie wird die Wahrheit ans Licht bringen", sagen die AktivistInnen, die von der Gendarmerie noch einmal verhört werden. Der Staatsanwalt, der am Freitag unerreichbar blieb, hat diese Version am Dienstag dementiert: "Alles deutet darauf hin, dass er sich nicht hat aus der Vorrichtung befreien können."

"Wir haben uns nicht aus Naivität oder Abenteuerlust dazu entschieden, diesen Zug aufzuhalten", schließen die AktivistInnen ihre Erklärung. "Sébastien ist nicht überfahren worden, weil er besoffen von einer Discothek nach Hause wollte, sondern als er seinen Überzeugungen gemäß gehandelt hat. Und deshalb wird für uns sein Sterben ganz ohne Zweifel niemals zur Nebensächlichkeit werden."

Quelle

"Percuté alors qu'il quittait les rails", Libération, Sa, 13.11.04 (Übersetzung: Lou Marin, Graswurzelrevolution):