Seit der Gründung 1957 ist in dem in der französischen Schweiz ansässigen CENTRE INTERNATIONAL DE RECHERCHES SUR L'ANARCHISME (CIRA) eine der schönsten und weltweit größten Sammlungen von Texten über den Anarchismus entstanden. Im CIRA findet sich alles, was das bibliophile AnarchistInnenherz höher schlagen lässt: Bücher, Flugblätter, Zeitschriften, akademische Forschungsarbeiten, Fotos, Postkarten, Kunstwerke, Videofilme, Kassetten und CDs, Material aus 150 Jahren Anarchismus, aus aller Welt und in allen Sprachen. Das CIRA ist Mitglied der Internationalen Föderation libertärer Studien- und Dokumentationszentren (FICEDL), sowie der International Association of Labour History Institutions (IALHI). Es veröffentlicht einmal im Jahr ein Bulletin mit einer Liste von Neueingängen, Berichten über Werke und Informationen über Nachforschungen, Bibliotheken und Zusammenkünfte. Ausgebaut und geprägt wurde dieses AnArchiv in den letzten vierzig Jahren vor allem von Marianne Enckell (geb. 1944) und ihrer Mutter Marie-Christine Mikhailo (geb. 1916). (1)
Marie-Christine erlitt vor zwei Jahren einen Schlaganfall. Seitdem kann sie nicht mehr sprechen und sitzt im Rollstuhl. Sie wird von ihren Kindern gepflegt.
Marianne Enckell arbeitet als Autorin und Übersetzerin. Sie ist Mitherausgeberin des anarchistischen Magazins "Réfractions" (2). Mit ihr sprach in Lausanne GWR-Koordinationsredakteur Bernd Drücke.
Graswurzelrevolution (GWR): Wie ist das CIRA entstanden? Kannst Du bitte die Gründungs- und Entwicklungsgeschichte erzählen ?
Marianne Enckell: Ich habe das CIRA 1962 hauptsächlich als anarchistische Bibliothek beziehungsweise als Bibliothek über Anarchismus kennen gelernt.
Da existierte es schon seit fünf Jahren als kleine Sammlung.
Der Gründer Pietro Ferrua lebte als italienischer Kriegsdienstverweigerer in der Schweiz. Da er sich als anerkannter Flüchtling in der Schweiz nicht direkt politisch betätigen durfte, hatte er die Idee, die Bücher und Publikationen, die irgendwo bei älteren Genossinnen und Genossen lagen, zu sammeln und in der Schweiz eine libertäre Bibliothek zu organisieren. Dahinter steckte auch der Gedanke, dass es in der Schweiz vielleicht etwas sicherer als im Ausland sein könnte, ein solches anarchistisches Dokumentationszentrum aufzubauen. Er hat ganz klein angefangen mit Hilfe von ein paar älteren Genossinnen und Genossen in Genf. Die waren in der Gruppe le Réveil-Il Risveglio [der Weckruf] gewesen mit und um Luigi Bertoni herum. Bertoni hatte ab 1900 eine zweisprachige italienisch/französische Zeitschrift herausgegeben, zweimal im Monat oder wöchentlich und auch im Untergrund während des Zweiten Weltkriegs.
Er ist 1947 gestorben, und die Genossinnen und Genossen hatten einmal im Monat ein Treffen oder ein Picknick, etwas um die Flamme am Leben zu halten. Aber die waren nicht mehr aktiv. Sie waren relativ alt, und die anarcho-syndikalistische Bewegung war eigentlich gestorben.
Dann kamen jüngere Genossen, Antimilitaristen aus Frankreich, aus dem Krieg in Algerien und aus Italien. Sie haben wieder angefangen. Ich habe sie kennen gelernt durch meine Großtante, die Schwester meiner Großmutter, die hieß Lise Ceresole. Sie war mit Pierre Ceresole verheiratet, dem Gründer des Service Civil International, des Internationalen Zivildienstes. Der war gestorben, aber Lise war weiterhin sehr aktiv. Sie wohnte auf dem Lande in einem kleinen Haus und hat viele Leute versteckt.
Die Kriegsdienstverweigerer kamen zu ihr, und bald kamen sie auch zu meiner Mutter. Dann konnten sie studieren oder eine Arbeit finden. So haben wir persönliche Kontakte gehabt.
Dadurch haben wir den Anarchismus entdeckt.
GWR: Standet Ihr damals schon in Kontakt mit den War Resisters‘ International, mit der Londoner oder anderen WRI-Gruppen?
Marianne: Ja, aber wenig. Die Internationale der KriegsgegnerInnen (IDK/WRI) war zu der Zeit nicht aktiv in der Schweiz.
Wir hatten Kontakte zu Quäkern und zu alten Pazifisten. Es gab auch die neue Anti-Atom-Bewegung, die Anti-Atomtod-Bewegung, die Ur-Bewegung.
Wir waren zu der Zeit gegen die Atomwaffen, aber noch für die „friedliche Nutzung“ der Atomenergie für Licht und Strom.
GWR: Das war ja durchaus typisch für die damalige Zeit. Im Vorwort der 1958 erschienenen Neuauflage von Rudolf Rockers Standardwerk „Nationalismus und Kultur“ drückt Rocker ja auch noch die absurde Hoffnung aus, die Atomkraft könne „ein Werkzeug für die Zwecke des Friedens und der allgemeinen Wohlfahrt werden“.
Marianne: Ja. Es gab in dieser Zeit auch viele politische Diskussionen zum Krieg in Algerien, zur Spaltung der kommunistischen Parteien in China und der Sowjetunion, zu den Atomkraftproblemen usw.
Ich war Studentin und habe immer mit den Leuten diskutiert. So habe ich langsam meine politische, anarchistische Ideenwelt entwickelt.
Die anarchistischen Genossen waren Antimilitaristen, aber keine Pazifisten. Die Idee der Kriegsdienstverweigerung und antimilitaristische Aktionen spielten eine große Rolle.
Es gab auch Aktivitäten rund um Spanien herum, große Kampagnen von jungen, spanischen Anarchisten im Exil gegen das faschistische Franco-Regime, Protest gegen den spanischen Botschafter und den Klerus, Solidaritätsarbeit, Informationen über die Situation der politischen Gefangenen in Spanien… Das hat uns sehr mobilisiert. Der ganze Zusammenhang war günstig, um politische Ideen zu entwickeln, zu analysieren.
Das CIRA war zu dieser Zeit in Genf. Pietro Ferrua hatte damals Kontakte zu einer Gruppe von jungen Leuten, die 1961 ein kleines Attentat gegen das spanische Konsulat in Genf gemacht haben. „BUMM BUMM“ einfach. Es gab ein paar zerstörte Türen und Klos… Das machte natürlich einen großen Krach, und die Beteiligten hatten später einen Prozess. Sie mussten nicht lange ins Gefängnis, aber mehrere Leute aus ihrem Umfeld, alle Ausländer, wurden aus der Schweiz wegen „politischer Aktivitäten“ ausgewiesen. Auch Pietro Ferrua musste das Land schnell verlassen.
Wir hatten deshalb ein Treffen mit älteren Genossen, die waren alle Arbeiter.
Meine Mutter und ich, wir hatten Bücher ganz gern, wir haben gesagt: „Ja, wir nehmen das, und wir machen weiter mit dem CIRA.“
GWR: Das war Anfang der 60er?
Marianne: Das war 1963.
GWR: Dann habt Ihr 1964 die gewaltfrei-anarchistische Zeitung „Anarchisme et Nonviolence“ (3) mitgegründet.
Sie war – ebenso wie die seit 1936 erscheinende „Peace News“ aus London und die von 1965 bis 1966 in Hannover herausgekommene „Direkte Aktion“ (Blätter für Anarchismus und Gewaltfreiheit) – eine wichtige Inspirationsquelle für die Gründungsmitglieder der GWR (4).
Wie kam es zur Gründung der „Anarchisme et Nonviolence“?
Marianne: André Bernard, Mitbegründer von „Anarchisme et Nonviolence“, war auch als Exilant in Genf zur Zeit der Gründung des CIRA.
Dann ist er nach Frankreich zurückgekehrt, als dort die Action civique non-violente (Zivile gewaltfreie Aktion) angefangen hat, eine kollektive Verteidigung für Kriegsdienstverweigerer zu organisieren und auch direkte Aktionen.
Es ging unter anderem um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und Zivildienst. Eine typische Aktion war zum Beispiel, wenn der Angeklagte André Bernard den Militärs und Behörden schrieb: „Sie finden mich dann und dann im Zivildienst-Camp.“
Dann kamen die Bullen dahin und haben gefragt: „Wo ist André Bernard?“
Dann sagten zehn Mann: „Ich bin André Bernard.“
Keiner von denen hatte Papiere. Auf einmal waren sie angekettet, und sie mussten alle verhaften.
Es dauerte relativ lange, bis es dann zur Verhandlung gegen André Bernard oder Pierre Boisgontier kam. Die Presse hat die Geschichte mit Interesse verfolgt.
Aber in dieser Action civique non-violente waren die meisten Leute religiös, christlich oder Amis de l’arche um Lanza del Vasto, eine theistische Gemeinschafts-Bewegung. Und die Anarchistinnen und Anarchisten haben gedacht: „Wir müssen uns selbst definieren.“
Dann haben sie ein eigenes Netzwerk aufgebaut und die Zeitschrift „Anarchisme et Nonviolence“ lanciert.
GWR: Da gibt es eine Parallele zur „Graswurzelrevolution“. Als gewaltfreies, aber eben nicht anarchistisches Organ gab es in der Bundesrepublik die 1971 von Theodor Ebert gegründete „Gewaltfreie Aktion“ (GA). Die GWR wurde im Sommer 1972 auch in Abgrenzung zur GA gegründet, u.a. um libertär-gewaltfreie Positionen herauszustellen und auszuarbeiten.
André Bernard macht heute noch bei „Réfractions“ und bei der seit 50 Jahren in Frankreich erscheinenden anarchistischen Wochenzeitung „le monde libertaire“ (5) mit. Er layoutet beide Zeitschriften?
Marianne: Ja.
GWR: Ein sehr schönes Layout. Die „Réfractions“ erscheint seit 1997. Sie steht in gewisser Weise in der Tradition von „Anarchisme et Nonviolence“? Würdest Du sie als Nachfolgezeitschrift bezeichnen?
Marianne: Nein. Gar nicht, sogar.
Wir hatten schon mehrmals die Idee, eine echte theoretische Zeitschrift zu machen. Das Modell war vielleicht eher „Volonta“ in Italien.
Anfang der 90er Jahre gab es ein paar Treffen in Lyon über libertäre Kultur, dann in Grenoble, in Toulouse,… da hat sich eine kleine Gruppe gefestigt.
Als Ältere hatten wir ein wenig mehr Geld zu investieren und auch technische Mittel fürs Layout usw. Auch mehr Erfahrungen im Bücher machen.
GWR: Du hast sicher einen guten Überblick über die verschiedenen anarchistischen Bewegungen und Strömungen weltweit?
Marianne: Das ist nicht so einfach zu sagen. Wir kriegen ungefähr 150 bis 200 Periodika, jetzt noch mehr durch E-Mail. Natürlich lese ich nicht alles. Was ich bemerke ist, dass es ein paar Zeitschriften gibt, die langlebiger sind als früher.
Es gibt immer diese großen regelmäßigen Zeitschriften, wie „Freedom“ (6) aus London, „Umanita Nova“ aus Italien, „le monde libertaire“, „Graswurzelrevolution“ und ein paar andere. Aber sehr oft, wenn es große soziale Bewegungen gibt, dann macht jede Gruppe eine eigene, kleine Zeitschrift, veröffentlicht Nr. 0 und vielleicht Nr. 1, und dann blubb, das weißt du auch von deiner Arbeit.
Jetzt gibt es immer wieder neue Flugschriften, aber es gibt mehrere Zeitschriften, die schon seit mehr als zwanzig Jahren erscheinen.
GWR: Das heißt, dass die Kontinuität zugenommen hat.
Marianne: Ja, und auch, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Sache treu bleiben und nicht nach ein paar Jahren dem Anarchismus den Rücken kehren.
Zum anderen gibt es heute viel mehr Länder und Regionen, wo es anarchistische Aktivitäten gibt. Natürlich nach 1989 in den Ländern des ehemaligen „Ostblocks“ und auch nach 1994, nach dem Beginn des zapatistischen Aufstands in Mexiko, Seattle 1999 (7) usw.
Diese neuen Gruppen wissen oft nicht genau, was Anarchismus ist, die haben keine Geschichte, die haben wenig Bücher, Referenzen, Texte,…
Da lohnt sich die Zusammenarbeit. Wir haben sehr viele Bücher nach Moskau geschickt, auch nach Südamerika, nach dem Fall der Diktaturen. Wir versuchen, diese Texte zu verbreiten. Dafür ist das Internet wichtig. Im englischsprachigen Raum gibt es Uni-Professoren, die ein Seminar veranstalten, wo die Studentinnen und Studenten anarchistische Texte ins Internet stellen. Das ist natürlich bequem.
In mehreren Sprachen kann man meist die klassischen Autorinnen und Autoren lesen.
Aber es gibt auch junge Leute, die vielleicht Schwierigkeiten haben, die klassischen Texte zu lesen, weil es nicht so spannend ist.
Es ist Zeit für neue „Agitationsbemühungen“, neue Erklärungen, neue Geschichten, etwas Eigenes, Neues zu schreiben, das den Leuten auch Lust macht, mehr zu recherchieren.
GWR: Zum Beispiel in der Türkei lassen sich in Sachen Anarchismus positive Entwicklungen beobachten (8). Dort gibt es sozusagen einen Aufschwung neu entstehender anarchistischer Bewegungen.
Das zeigt sich auch anhand libertärer Verlage wie KAOS sowie an öffentlichwirksamen schwarz/roten Aktionen etwa zum 1. Mai oder im Sommer 2004 bei den Demonstrationen gegen die NATO-Tagung in Istanbul. Kannst Du Beispiele für Aktionen oder Bewegungen aus den letzten Jahren nennen, die Dich besonders beeindruckt haben?
Marianne: Ja, die Entwicklung in der Türkei ist wirklich bemerkenswert. Vor ungefähr 20 Jahren habe ich junge Türken kennen gelernt, die sagten, sie seien als Schüler in marxistischen Gruppen, und sie wurden ausgeschlossen wegen „Anarchismus“. Und die hatten keine Ahnung, was Anarchismus wäre. Die haben überhaupt keine Texte auf Türkisch gefunden. Die haben französische und deutsche Texte gelesen. Dann haben sie angefangen zu übersetzen und kleine Zeitschriften herauszugeben.
Zu dieser Zeit war das Wort Anarchismus sozusagen verboten in der Türkei, weil alle „Terroristen“ als „Anarchisten“ beschimpft wurden. Dann haben sie die Zeitschrift „KARA“ (SCHWARZ) gemacht, relativ viele klassische und andere Bücher übersetzt und Zeitschriften produziert: „KAOS“,…
GWR: … „efendisiz“ (herrschaftsfrei), „ates hirsizi“ (Feuerdiebe), „Kara mecmuA (9) (Schwarze Zeitschrift), …
Marianne: Genau. Das ist schön.
Es gibt in vielen Ländern Lateinamerikas den Versuch, sich die während der Diktaturenzeit verlorengegangene Geschichte wieder anzueignen. Es gibt noch ein paar Bibliotheken, die im Untergrund aufrecht erhalten wurden, junge Leute, die die eigene Geschichte studieren, neue Zentren in Costa Rica, in Paraguay, in Venezuela,…
Ein Vorteil ist auch, dass es zur Zeit Dozenten und Universitätsprofessoren gibt, die Anarchisten sind. Die bleiben vielleicht nicht so lange, wie bei deiner Erfahrung, aber die haben Möglichkeiten zu fotokopieren, die können Material schicken, die Uni bezahlt die Briefmarken, usw.
Das hilft, z.B. in Ländern wie Brasilien, wo eine Briefmarke für einen Brief nach Europa soviel kostet wie eine Stunde Arbeit. Unter solchen Umständen können die Genossen ihre Publikationen einfach nicht schicken.
Eine andere interessante Entwicklung: Es gibt immer noch viele Tendenzen im Anarchismus, aber vielleicht weniger Streitigkeiten. Natürlich gibt es die auch noch, z.B. in Spanien, wo es einen Streit zwischen den anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften um die Frage „Wer ist die historische CNT?“ gibt.
Fast überall gibt es z.B. viele neue anarcho-kommunistische Gruppen, aber die diskutieren meistens auch mit den Gewaltfreien, den Individualisten und den Punks, es gibt weniger Ausgrenzungen. Das ist sehr positiv.
Manchmal sind die Leute in einer klassenkämpferischen Organisation aktiv und zur selben Zeit Hausbesetzer oder Punks.
GWR: Die Leute sind offener?
Marianne: Ja. Wichtig ist auch der feministische Aspekt. Ich finde, in 30 Jahren feministischem Kampf haben wir leider noch nicht soviel erreicht. Die erste neue Women’s Lib, die Frauenbewegung in den 70er Jahren, hatte Begriffe geprägt wie „Das Private ist politisch“, Diskussionen über Separatismus oder gemischte Gruppen, usw.
Ich glaube, die neuen Generationen fangen immer neu an, ganz am Anfang. Vielleicht sind jetzt mehr Männer wirklich feministisch. Ich wasche nie mehr ab, wenn es Männerbesuche gibt. Da hab ich kein Problem mit. Oder auch im CIRA: Die Genossen, die hier mitarbeiten, putzen einmal in der Woche ganz sorgfältig und ohne Probleme. Bei den älteren Generationen ist das schwerer. Der libertäre Feminismus ist heute lebendiger, mehr gelebt – das messe ich nicht nur beim Abwaschen.
Einer der vielleicht wichtigsten Aspekte des Anarchismus heute ist die gelebte Anarchie. Die Leute legen viel Gewicht auf Kollektive, Vegetarismus, Alternativen, Kritik der Arbeit, usw.
Es ist schwer eine Brücke zu bauen zwischen dem alltäglichen Leben und den großen Demos gegen kapitalistische Globalisierung. Das ist so weit weg. Wo kommt die Revolution?
Die Anti-Globalisierungsbewegung hat ein Netz von Kontakten geknüpft, internationalen Austausch, usw. organisiert.
Aber was man viel mehr machen könnte, abgesehen von Widerstand leisten und Demos organisieren, weiß ich nicht genau.
GWR: Ich finde, das CIRA ist auch ein Stück gelebte Utopie, gelebte Anarchie. Kannst Du beschreiben, wie es eingebunden ist, lokal, regional, wie die Kontakte zu anderen Schweizer Gruppen sind, wie es organisiert ist und funktioniert?
Marianne: Das CIRA ist ein Verein, alle Leserinnen und Leser sind praktisch Vereinsmitglieder. Die Leute, die mitarbeiten, tun das meistens ehrenamtlich. Wir haben zeitweise Leute aus dem Ausland, die ein wenig Geld bekommen, um leben, essen und schlafen zu können.
Seit ein paar Jahren haben wir Zivis, die regelmäßig im CIRA arbeiten. Eine große Hilfe für mich. Es sind autonome Menschen, sie sind verantwortungsbewusst, sie verstehen schnell, sind geübt im Umgang mit Computern, usw.
Und ich kann ihnen die Bibliothek einfach überlassen, sie wissen, was sie machen können.
Das CIRA ist ein sehr internationales Archiv, das heißt, wir haben Material in vielen verschiedenen Sprachen, und die Leute, die bei uns nach Informationen und Büchern suchen, kommen aus allerlei Ländern. Aber um Mitarbeiter oder Kontakte zu haben, müssen wir natürlich hier in der Schweiz stärker verankert sein. Wir haben gute Kontakte mit der Szene in Lausanne, haben gemeinsame Konferenzen und Debatten organisiert, Filme gezeigt, entweder hier im CIRA oder in einem Lokal in der Stadt. Es gibt die Möglichkeit, Informationen zu verbreiten. Manche junge Leute haben etwas Angst, das CIRA zu besuchen, es ist „zu groß und zu kompliziert“, obwohl wir auch ein paar Comics und Videos haben. Jetzt kommen auch Studentinnen und Studenten aus mehreren Universitäten. Ein paar Professoren haben uns gar nicht gern. Die denken, wir seien eine kleine Gruppe in einem Keller mit zwei, drei Büchern und Propaganda, wir seien nicht seriös. Das ist dumm.
Es kommen mehr Studentinnen und Studenten aus der Schweiz als aus dem Ausland, obwohl die Leute auch ein bis zwei Wochen hier bleiben können. Wenn sie länger bleiben, um zu studieren oder zu recherchieren, dann können sie auch mitarbeiten.
Die Benutzerinnen und Benutzer müssen einen jährlichen Betrag von 30 Euro bezahlen. Das ermöglicht uns, die Portokosten, Licht, Papier, usw. zu bezahlen. Ein paar größere Spenden erlauben es uns, teurere Kopien und gelegentlich Honorare zu zahlen. Wir brauchen immer Be-nutzerinnen, Benutzer und ein wenig Geld. Offen sind wir für Leute, die eine Periode kommen wollen. Dann können wir uns austauschen: Arbeit gegen Kost und Logis.
GWR: Über Zeitungs- und Buchspenden freut Ihr euch ?
Wenn nun libertäre VerlegerInnen und ZeitungsmacherInnen die GWR lesen, dann wäre es schön, wenn die sich durch dieses Interview dazu inspirieren lassen Euch Publikationen zu schicken?
Marianne: Ja. Wir sind eine besondere Bibliothek, weil wir nichts kaufen. Wir kaufen keine Bücher, wir abonnieren keine Zeitschriften. Wir haben einen Austausch, das heißt, wir geben ein Bulletin heraus mit Informationen über die neusten Bücher, Zeitschriften, Seminare, Aktivitäten, mit ein paar historischen Artikeln. Das letzte Bulletin behandelt das Thema Anarchismus im Film, alle möglichen Filme, die über Anarchismus sprechen oder in denen nur zwei Wörter vorkommen, die etwas mit Anarchie zu tun haben: „Viva l’Anarchia!“, aber auch ganz klassische anarchistische Filme.
Die Verlage, Herausgeberinnen und Herausgeber, die uns Material schicken, können kostenfrei Informationen bekommen und die Bibliothek nutzen.
GWR: Wie Du zum Anarchismus gekommen bist, hast Du schon ein bisschen beschrieben. Gab es auch bestimmte Ereignisse oder Erlebnisse, die Dich politisiert haben?
Marianne: Ich war schon ein wenig in Kontakt gekommen mit antimilitaristischen und pazifistischen Bewegungen und mit Anarchisten.
Ich hatte Fragen, und Anarchismus war vielleicht die Antwort.
Besonders die Anarchisten, die ich kennen gelernt habe, die waren kohärent, und das hat mir gefallen.
Das waren Leute, die wirklich gearbeitet und Aktionen gemacht haben, deren Philosophie korrespondierte mit meiner eigenen.
GWR: Und Marie-Christine ist zur selben Zeit wie Du zum Anarchismus gekommen?
Marianne: Ja. Vorher war sie alleine mit fünf Kindern. Sie hatte nicht sehr viel Zeit, um politisch zu denken oder zu agitieren.
Wir haben sehr viel diskutiert. Vorher war ich ein, zwei Jahre lang katholisch und Pfadfinderin und so blöde Sachen. Sie war natürlich nicht damit einverstanden, aber sie hat mir die Freiheit gelassen. So haben wir diskutiert, und sie hat mir Bücher geliehen.
Dann sind wir zusammen in diese Grube gefallen.
Wir haben 40 Jahre lang zusammen im CIRA gearbeitet. Das war ein Abenteuer.
Wir sind immer noch gute Freunde, haben sehr viel mitgemacht, nicht ohne Konflikte, nicht ohne Streitereien, aber doch: Es war schön.
GWR: Welche Perspektiven des Anarchismus siehst Du heute, auch vor dem Hintergrund der Anti-Globalisierungs- und Anti-Kriegs-Bewegungen?
Marianne: Ich bin kein Prophet. Die Geschichte des Anarchismus zeigt, dass er immer wieder ein paar Jahre lang relativ stark ist und international vernetzt.
Dann wird es eine zeitlang eher ruhig – woran das liegt, weiß ich nicht – und dann kommt wieder eine neue Generation, die alles neu entdeckt. Die müssen neu anfangen, alles neu lesen.
Man muss die Geschichte wiederholen.
Natürlich gab es in besonderen Zeiten mehr Hoffnungen auf die Revolution. Utopische Hoffnungen Ende des 19. Jahrhunderts, konkretere während der Russischen Revolutionen 1905 und 1917 und in der Spanischen Revolution 1936.
Wer hofft heute noch, dass eine Revolution kommen wird?
Wir sprechen heute viel mehr, wie du sagst, von „gelebter Utopie“, vom Widerstand. Englische Anarchisten wie besonders Colin Ward verzeichnen, dass die anarchistischen Ideen, Prinzipien und Werte sehr viel Einfluss auf verschiedene Domänen der Gesellschaft gehabt haben, auf Schulen, persönliche Verhältnisse, Urbanismus vielleicht… Aber auf Gefängnisse kaum.
Natürlich haben wir alle auch eine reformistische Praxis, zum Beispiel, wenn du sagst „Papiere für alle!“, „Rechte für Flüchtlinge!“.
Es wäre natürlich besser, wenn niemand einen Pass bräuchte, aber wenn es solche Ausgrenzungen gibt, dann muss man zuerst eine Lösung finden, damit die Menschen zumindest gleiche Rechte bekommen. Man sieht die Schwierigkeiten: Wie kann man die tägliche Praxis und die Utopie verbinden?
Ich denke, wir haben zwar eine reformistische Praxis, aber zugleich würde ich nie sagen „Ich bin für die Demokratie“, weil ich weiß, dass die „Demokratie“ keine Lösung ist.
20, 30 Jahre sprach man viel über Selbstverwaltung, jetzt kaum noch, jetzt ist es kein Begriff mehr, jetzt spricht man von Autonomie.
Die Begriffe und die Werte sind für mich wichtig.
GWR: Es ist wichtig, dass Begriffe besetzt werden und man diese auch stärker an die Leute bringt. Ich denke, eine Herausforderung ist, dass viele junge Leute kommen, die sozusagen wieder bei Null anfangen. Die müssen sich solche Begriffe wieder aneignen. Dabei könnten sie von den Erfahrungen der älteren Anarchistinnen und Anarchisten profitieren. Auf der anderen Seite gibt es das Problem, dass viele Alte die Seite gewechselt haben, wie die ehemaligen Libertären Josef Fischer, Daniel Cohn-Bendit und Co.
Marianne: Es gibt viele Werte und Begriffe, deren Bedeutungen sich geändert haben, z.B. der Begriff der Arbeit, der Lohnarbeit. Die jungen Leute sagen zum Beispiel:“Selbstverwaltung ist Selbstausbeutung“. Das ist etwas anders. Aber das muss man diskutieren. Oder Föderalismus, ich meine, die Europäische Union, das ist nicht Föderalismus im anarchistischen Sinne, und es ist auch keine Etappe hin zu unserem Föderalismus.
Das selbe gilt für Gewaltfreiheit oder Gewaltlosigkeit, das ist nicht unbedingt ein religiöser oder passiver Begriff. Zugleich kann man auch diskutieren, ob es ein Ideal oder ein Mittel ist.
Wenn wir direkte gewaltfreie Aktionen praktizieren, dann werden wir oft kritisiert: „Widerstand ist gewalttätig“, eine Besetzung oder eine Blockade. Auf der anderen Seite frage ich mich immer, ob es möglich wäre, eine ganz gewaltfreie Revolution zu konzipieren oder zu erleben. Da bin ich überhaupt nicht sicher.
Aber das steht noch offen.
(1) Im Oktober 1996 erschien in der Graswurzelrevolution Nr. 212 Marie-Christine Mikhailos Artikel "Uff - im Alter von 70 ist das schlimmste vorbei! Persönliche Gedanken zum Altwerden in der anarchistischen Bewegung" Siehe: www.graswurzel.net/ 212/ uff-alt.shtml
(2) Kontakt zu Réfractions: les Amis de Réfractions, BP 139, F-75966 Paris cedex 20; E-Mail: refractions@plusloin.org, Internet: http://refractions.plusloin.org/
Zu Réfractions siehe auch: www.graswurzel.net/260/refractions.shtml
(3) Siehe dazu: Anarchisme et Non-Violence (1964-1974). Die Geschichte einer französischen gewaltfrei-anarchistischen Zeitschrift, in: Graswurzelrevolution Nr. 233, November 1998
(4) Zur Geschichte u.a. der Graswurzelrevolution siehe: www.graswurzel.net/ueberuns/ sowie: Bernd Drücke, Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998
(5) "le monde libertaire" ist mit einer wöchentlichen Auflage von 10.000 die auflagenstärkste anarchistische Zeitung in Frankreich. Sie erscheint seit 1954 als Nachfolgeblatt der ab 1885 herausgekommenen anarchistischen Tageszeitung "le libertaire".
Kontakt: le monde libertaire, 145, rue Amelot, 75011 Paris, Frankreich. Tel: 0033/148053408; Fax: 0033/149299859; Internet: www.federation-anarchiste.org
(6) Kontakt/Infos: Freedom, 84b Whitechapel High Street, London E1 7QX, United Kingdom. www.freedompress.org.uk
(7) Siehe Vivian Sharples: Ein wahres Fest des Widerstands. Die Blockade der WTO in Seattle, in: GWR 245, Januar 2000, S. 1, 13
(8) Siehe: Bernd Drücke: Ot Kökü - Graswurzelbewegung in der Türkei. Ein Gespräch mit dem Anarchisten und Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke, in: GWR 253, November 2000, S. 1, 6 f.; Otkökü Nr. 1 ff., türkisch-deutsche Beilage der GWR, ab GWR 257/März 2001, siehe: www.graswurzel.net
(9) Vgl. Genosse Panchuni: Schwarze Zeitschrift: Kara mecmuA, in: Otkökü 6/GWR 271, September 2002, S. 1 (4)
Anmerkungen
Das Gespräch wurde im August 2004 im CIRA geführt.
Kontakt
CENTRE INTERNATIONAL DE RECHERCHES SUR L'ANARCHISME (CIRA)
avenue de Beaumont 24
CH - 1012 Lausanne
Schweiz
Tel./Fax: (+41)216524819
cira@plusloin.org
www.anarca-bolo.ch/cira
Öffnungszeiten: Mo.-Fr., 16 bis 19 Uhr