Im September 2004 wurde die Bildungs-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veröffentlicht. Angesichts des miserablen Abschneidens der Bundesrepublik haben Öffentlichkeit und Politik ähnlich reagiert wie nach Veröffentlichung der PISA-Studie: Auf ein kurzes Aufheulen folgte "business as usual". Der folgende Artikel beleuchtet Ursachen der "Bildungskatastrophe" und zeigt Lösungswege auf (GWR-Red.).
Ausgangspunkt der Überlegungen (*) ist die These, dass sich die BRD seit vierzig Jahren deshalb mit einer Bildungsreform so schwer tut, weil Schule in einem zu starren Legitimationskontext gedacht wird, der gleichsam universelle und überzeitliche Gültigkeit zu besitzen scheint und damit strukturelle Gewalt ausübt.
Schulmythen
Vier Schulmythen sehe ich in diesem Zusammenhang, die eine grundsätzliche Bildungsreform hemmen:
- Nur ein staatlich kontrolliertes Schulwesen garantiert ein effektives und ausreichendes Bildungsniveau, d.h. Schule sichert Wissen.
- Nur eine allgemeine Schulpflicht garantiert Chancengleichheit und Bildung für alle Kinder, d.h. Schule schützt Kinder.
- Nur über schulisches Lernen erfolgt der zentrale Zugang zur kulturellen Identität, d.h. Schule garantiert kulturellen Fortbestand.
- Die Bildungsreformen der letzten vierzig Jahre haben die Schulkultur positiv verändert – z.B. waren 1960 ca. 15% eines Jahrgangs GymnasiastInnen, heute sind es ca. 30% eines Jahrgangs, d.h. Schulreformen sind wirkungsvoll.
Schule als Ort struktureller Gewalt
Wenn wir heute über die staatliche Regelschule sprechen, dann passiert dies in den meisten Fällen vor dem Hintergrund der oben erwähnten vier Mythen, mit der Konsequenz, dass wir zwar Mängel sehen und auch willens sind, diese über Reformen zu verbessern, jedoch nur selten zu einer systematischen und historischen Gesamteinschätzung der aktuellen staatlichen Bildungskultur gelangen.
Obgleich die Schulkritik zu einem konstituierenden Element der Bildungskultur insgesamt geworden ist, umgibt Schule immer noch etwas Unangreifbares, das sie gesellschaftlich heilig spricht. Andere zentrale Institutionen wie die Kirche, das Militär oder die Familie, die ebenfalls zu den Garanten abendländischer Kultur zählen und für den Fortbestand nationaler und kultureller Identität genannt werden, sind dagegen stärker entlegitimiert worden und wurden im Zuge emanzipatorischer gesellschaftlicher Entwicklungen der letzten 100 Jahre in ihrer Bedeutung relativiert: der „Dienst an der Waffe“ als Bürgerpflicht kann verweigert werden; die Demonstration des christlichen Glaubens über die Mitgliedschaft in einer Kirche ist nicht mehr zwingend notwendig und die Zugehörigkeit kann verweigert werden und schließlich ist es heute legitim, sich der Familie zu verweigern, d.h. nicht zu heiraten und nicht Elternteil von Kindern zu werden. Hier fand ein wichtiger Emanzipationsprozess in den letzten 100 Jahren statt, der gesellschaftlichen Fortschritt und Entwicklung voran brachte und Wege für ein neues Lebensgefühl bereitete. Nicht so passierte es allerdings bezüglich der Schule, die als staatlich kontrollierte Regelschule seit etwa 200 Jahren zu einem wesentlichen Bestandteil kultureller Evolution geworden und bis heute in ihrer Grundstruktur unantastbar geblieben ist.
Dies erstaunt nicht nur vor dem Hintergrund der emanzipatorischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte, sondern auch angesichts der empirischen Realität von Regelschule in den letzten vierzig Jahren. Nicht erst seit PISA – jedoch seitdem mit aller Mediendeutlichkeit – sind die desolaten Schulverhältnisse und ihre Konsequenzen bekannt, die vor allem – und dies ist meine zentrale These – auf Grund struktureller Verhältnisse manifest werden.
Folgende Zahlen seien dazu genannt:
- 2000 verließen 86.601 SchülerInnen die Schule ohne einen Schulabschluss, d.h. ohne einen Hauptschulabschluss (vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) 2002, S. 62);
- 2000 beendeten 16,1 % aller ausländischen SchülerInnen ihre Schulpflicht ohne einen Abschluss; bei deutschstämmigen SchülerInnen sind es 9% aller Schulabgänger (Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2002);
- ca. 70.000 SchülerInnen gelten als Schulverweigerer bzw. Schulschwänzer (vgl. Schwäbische Zeitung 1999);
- ca. 10 bis 15 % der SchülerInnen werden als „schulmüde“ eingestuft (Schreiber-Kittl 2000, S. 13);
- nach einer UNESCO-Schätzung können 500.000 bis 3 Millionen Menschen über 15 Jahren in der Bundesrepublik als funktionale Analphabeten bezeichnet werden, das sind 0,75 bis 3 % der erwachsenen Bevölkerung (Döbert/Hubertus 2000, S. 27);
- ca. 4,5 Milliarden DM werden jährlich für Nachhilfeunterricht in der BRD an finanziellem und zeitlichem Aufwand ausgegeben (Kramer/Werner 1998).
Thesen zur Entschulung und Entstaatlichung von Bildung: Lernen ohne Schule?
1. These: Die staatliche Regelschule ist ein Relikt und Herrschaftsinstrument aus dem 19. Jahrhundert und widerspricht einer freiheitlich demokratischen Grundhaltung und -ordnung.
Schule ist historisch eine Funktion der Nationalstaatenbildung, d.h. die schulische Institutionalisierung von Bildung und Lernen geht einher mit der Herausbildung von Nationalstaaten.
Der Schulpflicht- und Staatsschulgedanke entstand parallel zur Wehrpflicht: Volksheer und Volksbildung wurden im 19. Jahrhundert zu den zentralen politischen Instrumenten moderner Staaten.
Verschulung und Verstaatlichung von Bildung sind seit dem 19. Jahrhundert zwei herausragende Pfeiler deutscher Bildungskultur. Verschulung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass Schulpolitik zur Verwaltungspolitik und Unterricht als Verwaltungsakt gesehen wird. Die staatliche Vormundschaft führte entsprechend auch bald zu einem Widerspruch zwischen Lernorganisation und Verwaltungsorganisation, d.h. die Zwänge bürokratischer Organisation widersprechen dem Anspruch von Bildung und Emanzipation. Diese Verfasstheit von Bildung und Lernen, – gekennzeichnet durch Verstaatlichung und Verschulung und durch eine Antinomie von Freiheit und Zwang – die bis heute das deutsche Schulwesen bestimmt, führte zu folgenden (pädagogischen) Konsequenzen:
SchülerInnen und LehrerInnen handeln nach vor- und fremdbestimmten Ordnungsschemata und stehen in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ zueinander. Lehr-Lernprozesse werden zum Vollzug bürokratischer und ministerieller Verordnungen.
Die Aufrechterhaltung der Schulorganisation hat Vorrang vor pädagogischen Zielen.
Als Beamte sind LehrerInnen vor allem ihrem Dienstherren, dem Staat, verpflichtet und erst in zweiter Linie den SchülerInnen.
Diese Legitimation von Schule und Staat, die in dieser Form bis heute in Deutschland Gültigkeit hat, bedarf einer grundsätzlichen Veränderung, die über inhaltliche und curriculare Reformen hinausgeht. Es geht um einen grundsätzlichen politischen, strukturellen und mentalitätsorientierten Wandel der Bildungskultur. Es geht um eine Demokratisierung von Lehren und Lernen. Eine zentrale Begründung dafür liegt in der politischen Forderung nach einer Bürger- und Zivilgesellschaft.
2. These: Die BürgerInnengesellschaft benötigt politisch und sozialpsychologisch eine partizipatorische Lernkultur und keine fremdbestimmte Belehrungskultur.
Ausgangspunkt für das Konzept einer BürgerInnengesellschaft ist die Modernisierungsdiskussion des Staates vor dem Hintergrund einer neuen Legitimationsdebatte demokratischer Politik. Der Soziologe Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „Demokratie-Dilemma“ (1998) und beschreibt dieses als eine Demokratiekrise, die mit der fortschreitenden Globalisierung zusammenhängt. Er stellt fest:
„Während im Rahmen der demokratisch legitimierten, nationalstaatlichen Politik zunehmend Nicht-Entscheidungen politisch legitimiert werden, werden im transnationalen Rahmen der „Nicht-Politik“ nicht demokratisch legitimierte Entscheidungen von transnationaler Reichweite und Durchschlagskraft getroffen“ (Beck 1998, S. 6).
Dieser Prozess der Deregulierung und Entdemokratisierung bzw. der zunehmenden Handlungsunfähigkeit nationaler und internationaler Politik wird von den Journalisten Hans-Peter Martin und Harald Schumann auch als „Globalisierungsfalle“ (Martin/Schumann 1996) beschrieben und als „Angriff auf Demokratie und Wohlstand“ (ebd.) verstanden.
Neben dieser aktuellen Auseinandersetzung gibt es auch eine systematisch-politiktheoretische Diskussion, die das Dilemma repräsentativer Demokratien schon länger kennt. So warnte bereits 1911 der Soziologe Robert Michels (1876-1936) in seiner Analyse repräsentativ-demokratischer Organisationen vor oligarchischen Tendenzen. Er sprach vom „ehernen Gesetz der Oligarchie“ und der allmählichen Herausbildung von basisfernen Führungseliten in repräsentativen Demokratien.
In dem Maße, wie die Politik das allgemeine Demokratie-Defizit beklagt und als Gegenbewegung auf mehr Bürgerbeteiligung setzt, in dem Maße muss sie auch bereit sein und Sorge dafür tragen, dass die zentrale Bildungsinstitution unserer Gesellschaft, die Schule, zum Ermöglichungsort für Demokratie wird, wo Demokratie praktisch erlebt und gelebt werden kann. Es gibt jedoch kaum eine Instanz in unserer Gesellschaft, die so resistent gegen demokratische Reformen ist wie die Schule. Sie ist eine Institution, in der hoheitliches Handeln vor pädagogischem dominiert. Der in der öffentlichen Verwaltung vollzogene Schritt zu einer Dienstleistungskultur hat die öffentlichen Schulen noch nicht erreicht.
In der jetzigen Verfasstheit ist Schule allerdings überfordert, diese Aufgabe zu übernehmen. Dazu ist sie zu hoheitlich organisiert und orientiert sich an einem Untertanen- und Bürgerverständnis aus dem 19. Jahrhundert. Schule benötigt, um als Humus für eine menschengerchte BürgerInnengesellschaft wirken zu können, eine strukturelle Radikalkur, die die Verwirklichung eines neuen Bildes vom Kind als Lernsubjekt ermöglicht.
3.These: Die staatliche Regelschule war und ist pädagogisch und lernpsychologisch gesehen in erster Linie ein Ort der Belehrung und nicht des Lernens.
Auf die Didaktik bezogen befinden wir uns derzeit in einer Phase des Wandels der Lernkultur. Rolf Arnold und Ingeborg Schüßler sprechen von einem Prozess, der sich von der Erzeugungsdidaktik hin zu einer Ermöglichungsdidaktik bewegt (Arnold/Schüßler 1998). Nicht mehr das Lehren steht im Mittelpunkt, sondern das Lernen. Eine subjektwissenschaftliche Sicht prägt einen neuen Lernbegriff, der zu einer subjektiven Didaktik führt und selbstorganisiertes Lernen bevorzugt, das (neuro)biologisch erklärt wird . Die Rede ist von einem Paradigmenwechsel in der Didaktik.
V. Hentig sprach bereits 1985 in seinem Gutachten für die Freie Schule Frankfurt von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen der Didaktik einer Staatsschulpädagogik und der Mathetik einer Freien Alternativschule (FAS). Er deutete damit eine Diskussion an, die erst zehn Jahre später zu einer allgemeinen in der Pädagogik wurde: Man muss zwischen einer Didaktik als Lehre vom richtigen Lehren und einer Mathetik als Lehre vom richtigen Lernen als zwei unterschiedliche pädagogische Verfahrensweisen differenzieren (v. Hentig 1985).
Am Beispiel der Freien Schule Frankfurt macht von Hentig deutlich, was Mathetik im Unterschied zu Didaktik bedeutet: „Verzicht auf eine systematische, durchrationalisierte und kollektive Belehrung“ (ebd., S. 80).
Selbstgesteuertes Lernen ist aktuell zu einer Leitidee im pädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Diskurs geworden. Gleichsam als Silberstreifen am Bildungshorizont erhält selbstgesteuertes Lernen neue Legitimationen. Der Zweifel an der „Lehre“, an der Möglichkeit etwas lehren zu können, ist jedoch nicht erst seit den Vorstellungen des Pädagogischen Konstruktivismus aktuell. Der Zweifel an der Belehrbarkeit des Menschen hat in der Pädagogik eine lange Tradition (z.B. bei Leo Tolstoi, Maria Montessori, Paul Goodman, Ivan Illich, Jean Piaget, John Holt) und wird aktuell aus unterschiedlichen Richtungen diskutiert.
Der zentrale Irrtum der traditionellen Schulpädagogik liegt darin, dass sie zwar immer vom „Schüler als Mittelpunkt und Subjekt schulischen Lernens“ spricht und ausgeht, dies de facto jedoch nicht realisieren kann. Subjektorientierung in der Schulpädagogik und Lernpsychologie heißt, dass Schule von der alten reformpädagogischen Formel „vom Kinde aus“ gedacht werden muss. Nicht das Kind muss sich an die Schule anpassen, sondern die Schule an kindgemäße Lernmilieus.
Schule ist historisch ein Ort der Belehrung und nicht des Lernens. Wenn die Erkenntnisse der Kognitions- und Lernpsychologie, der Hirnforschung und der Reformpädagogik ernst genommen werden, dann muss sich Schule grundsätzlich ändern, dann muss Schule, damit Kinder dort besser lernen können, aufhören ausschließlich belehren zu wollen.
Die zentrale Botschaft in diesem Kontext ist, dass Bildung, Wissen und Bewusstsein nur bedingt erzeugt werden können; sie müssen ermöglicht werden. Hierzu muss sich Schule jedoch als Institution verändern.
4. These: Aus der Sicht der Menschen- und Kinderrechte haben staatliche Zwangsschulen einen erheblichen Nachbesserungsbedarf.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gilt als Magna Carta der Menschheit und als Leitbild für Menschenwürde.
Obgleich sie völkerrechtlich gesehen keine rechtsverbindliche Gültigkeit im Sinne eines Vertrages besitzt, hat sie dennoch den Status eines Völkergewohnheitsrechts und ist in zahlreiche weiterführende nationale und internationale Verträge eingeflossen. Eine der wichtigsten Folgekonventionen ist das 1989 in 54 Artikeln verabschiedete „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“, die sogenannte Kinderrechtskonvention (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) 6. Aufl. 1999).
Dieser Vertrag über die Rechte der Kinder erhält in der gesamten Menschenrechtsdiskussion einen besonderen Stellenwert und gilt als Meilenstein, der zwischenzeitlich in verschiedene nationale Gesetze und Verfassungen Eingang gefunden hat. Von der BRD wurde die Konvention 1992 ratifiziert und damit als verbindlich für politisches und privates Handeln gemacht. Die drei zentralen Rechtskategorien, die die Leitidee der Konvention definieren, sind für unseren Zusammenhang von Bedeutung und als Folie für die Überprüfung von Schule geeignet:
Das Recht auf Versorgung hinsichtlich Gesundheit, Bildung, Freizeit und Wohnung (= Versorgungsrechte);
das Recht auf Schutz hinsichtlich Gewalt, Ausbeutung und Vernachlässigung (= Schutzrechte);
das Recht auf Beteiligung hinsichtlich einer aktiven Rolle in der Gesellschaft (= Beteiligungsrechte).
Bei der menschenrechtlichen Bewertung von Schule müssen wir den klassischen Blick auf Schule erweitern. Die traditionellen Kritikkategorien an der gegenwärtigen Schule wie die Frage nach der Lehr-Lernkultur, den Bildungsinhalten, der Transferproblematik, der Organisation, den Sanktionsmechanismen oder der Nachhaltigkeit, müssen ergänzt werden. Entsprechend den drei Rechtskategorien der Kinderrechtskonvention, den Versorgungsrechten, den Schutzrechten und den Beteiligungsrechten, ergibt sich eine neue Sicht institutionalisierter Lernprozesse.
Demokratie und Partizipation an Schulen
In der BRD wird hinsichtlich der Schule und Schulpflicht an einem entscheidenden Punkt immer der Schutz des Staates vor den Schutz des Kindes gesetzt. D.h. Partizipation ist in letzter Konsequenz immer zum Wohle des Staates eingeschränkt. Mitbestimmung von SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen findet nicht statt.
Die vorhandenen Instrumente wie z.B. die „Schülermitverwaltung“ sind kinderrechtlich gesehen Makulatur.
Der Bildungsplaner und -politiker Georg Picht machte deutlich, dass die Demokratie in Deutschland vor allem auf dem Gebiet des Schulwesens „durch eine ungebrochene Tradition obrigkeitsstaatlichen Denkens und durch das Übergewicht der Bürokratie ständig bedroht“ (Picht 1971, S. 9) ist. Staatsschule wird damit in einem doppelten Sinne zur Gefahr für Demokratie: Einmal aus der Sicht individueller BürgerInnenrechte, indem diese beschnitten werden und zweitens für die Demokratie selbst, indem durch antidemokratische Institutionen junge Menschen eine politische Sozialisation erleben, die kontraproduktiv zu demokratischen Werten steht.
Menschenrechtlich gesehen wird Schule in diesem Sinne in modernen Gesellschaften zu einem hochsensiblen Prüfstein für Partizipation und Demokratie. Diese Problematik wird in der pädagogischen Diskussion jedoch weitgehend ausgeklammert und durch den demokratischen Mythos von Schule überdeckt, der da lautet, dass die moderne Regelschule hinsichtlich einer Garantie für Chancengleichheit gesellschaftlich funktional ist.
Über das nicht eingelöste Bildungsversprechen der Schulbildung
Der zweite Rechtsbereich der Konvention, der die Versorgungsrechte betrifft, scheint auf den ersten Blick kein Risikobereich zu sein, da die Forderung nach einer flächendeckenden Grundversorgung (Art. 28: Recht auf Bildung; Schule; Berufsausbildung) erfüllt werden kann. In der Summe betrachtet ergibt ein kritischer Blick auf die Schulrealität (siehe oben) jedoch ein bedenklich desolates Bild. Bildungspolitisch bedeutet dies im Klartext, dass die öffentliche Regelschule nur noch bedingt ihren Auftrag erfüllen kann. Die Frage, warum SchülerInnen die Schule ohne Schulabschluss verlassen, warum SchülerInnen „schulmüde“ werden, warum SchülerInnen die Schule verweigern und warum junge Menschen als funktionale AnalphabetInnen die Schule verlassen, kann und darf nicht ausschließlich individualisiert werden. Diese sozialen Konsequenzen eines Schulbesuchs, d.h. ohne Schulabschluss, Verweigerung oder funktionaler Analphabetismus, sind vor allem strukturbedingt. Die derzeit bestehenden staatlichen Regelschulen scheinen außer Stande zu sein, ihren grund- und landesgesetzlichen Auftrag zu erfüllen. Weder Chancengleichheit, noch soziale Gerechtigkeit, noch Förderung der Begabungen können die Schulen derzeit flächendeckend und für alle garantieren. Im Gegenteil: Schule wird zu einem rigiden Selektionsinstrument für Chancenungleichheit (vgl. hierzu auch die PISA-Ergebnisse).
Die in der Konvention geforderten Standards hinsichtlich der Bildungsversorgung (Art. 28 und 29) sind zunehmend in Gefahr. Vor allem das in Art. 28 b beschriebene Recht, allen Kindern verschiedene Formen weiterführender Schulen verfügbar und zugänglich zu machen und geeignete Maßnahmen sowie finanzielle Unterstützung bei Bedürftigkeit bereitzustellen, ist nicht gesichert – im Gegenteil. Auch die Einhaltung des Art. 28 e der Kinderkonvention, mit dem sich die Vertragspartner verpflichten, Maßnahmen zu treffen, die den regelmäßigen Schulbesuch fördern und den Anteil derjenigen, welche die Schule vorzeitig verlassen, verringern, ist zunehmend in Gefahr (siehe dazu die statistischen Angaben oben).
„Arbeitsplatz Schule“ und seine Lebensqualität
Der dritte Rechtsbereich der Kinderrechtskonvention betrifft die Schutzrechte, die sich gegen jede Form des Missbrauchs, Vernachlässigung und Ausbeutung wenden. Bezüglich der Schule müssen diese Schutzrechte vor allem hinsichtlich des Themenkomplexes Gesundheit untersucht werden, d.h. hinsichtlich der physischen und psychischen Folgen von Schule.
Angst und Zwang sind zwei Elemente die einander in der Schule bedingen und scheinbar mit Staatsschulen und Schulpflichtsystemen gekoppelt sind. Der Lern- und Beurteilungszwang erzeugt Angst und führt zur „Zerstörung der Lernfähigkeit“.
Die Lebensqualität am „Arbeitsplatz Schule“ wird durch diese beiden Elemente geprägt und führt zu einem Gefährdungspotential für Schüler, die Kurt Singer, Schulpädagoge und Psychoanalytiker, provozierend und realistisch zugleich mit „die Würde des Schülers ist antastbar“ (Singer 1998) umschreibt. „Schulangst“ ist in der Sozialpsychologie der Schule zu einem Standardthema geworden. Als Ursache für diese Schulangst wird vor allem das Leistungs- und Konkurrenzprinzip der Schule festgestellt.
Ein weiterer Aspekt, der zu dem Schluss kommen lässt, dass in der Schule die Schutzrechte von Kindern missachtet werden, betrifft den achtungsvollen Umgang von LehrerInnen mit SchülerInnen. Der „seelische Sadismus“ gegenüber SchülerInnen, von dem Kurt Singer spricht (Singer 1998, S. 29), gehört zum Alltag in Schulen. SchülerInnen werden von LehrerInnen vor der Klasse gedemütigt, bloßgestellt und zum Gespött gemacht. In Artikel 16 der Konvention heißt es:
„Kein Kind darf willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung oder seinen Schriftverkehr oder rechtswidrigen Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden.“
Die Folgen dieser Form von Schulpädagogik sind vielfältig. In einer Zusammenstellung der Aktion Humane Schule (Aktion Humane Schule 1996) werden exemplarisch aus verschiedenen Untersuchungen Krankheitsbefunde bei SchülerInnen genannt, die in der Summe als „psychophysisches Überlastungssyndrom“ definiert werden:
Bei 50 % aller Schülerinnen und Schüler kann Schulangst festgestellt werden; fast ein Drittel der Jugendlichen versucht, Schulstress mit Psychopharmaka „wegzuschlucken“;
bei den 13- bis 16jährigen leiden häufig oder manchmal 48 % an Kopfschmerzen, 41 % an Kreuz- und Rückenschmerzen, 30 % an Magenbeschwerden, 25 % an Schlafstörungen und 24 % an starkem Herzklopfen.
Alle drei zentralen Rechtsbereiche der internationalen Kinderrechtskonvention, die die BRD 1992 ratifiziert hat, nämlich die Partizipations-, Versorgungs- und Schutzrechte von Kindern, werden derzeit in der Schule nur bedingt umgesetzt. Zweifellos gibt es ein flächendeckendes Schulnetz und die Pflichtschule sorgt für eine nahezu hundertprozentige Einschulungsrate von Kindern ab dem sechsten Lebensjahr, zweifellos gibt es auch keine Prügelstrafen mehr in unseren Schulen und zweifellos ist die Seuchengefahr minimal. Und trotzdem weist unser Schulsystem, gemessen an der Kinderrechtskonvention und den damit verbundenen Menschen- und BürgerInnenrechten, erhebliche Mängel und Lücken auf, die sich auf drei Dimensionen konzentrieren:
Die politische Defizit-Dimension, die die Partizipationsrechte der Konvention betreffen, zeichnet sich durch einen Mangel an demokratischer Organisationskultur in den Schulen aus;
die pädagogische Defizit-Dimension, die die Versorgungsrechte der Konvention betreffen, zeichnet sich durch eine zunehmende Ungleichheit bei den Bildungschancen aus;
die gesundheitliche Defizit-Dimension, die die Schutzrechte der Konvention betreffen, zeichnet sich durch krankmachende Verhältnisse und Beziehungen aus, die ihren Kern in struktureller und direkter Gewalt haben.
Fazit: Schule als Risikozone
Als Fazit soll aus dem oben Gesagten die These abgeleitet werden, dass die staatliche Regelschule eine Reihe von gesellschaftlichen und individuellen Risiken enthält und fördert, die eine destruktive Wirkung auf alle Beteiligten und deren soziale und politische Umwelt haben: Schule als Ort struktureller Gewalt.
Die PISA-Studie und die daran anschließende Beschäftigung mit skandinavischen Schulsystemen macht klar und schnell deutlich, dass Alternativen tiefer und systematischer gedacht und angegangen werden müssen. Es reicht nicht aus, Schulhöfe zu begrünen, Projekttage curricular zu verankern, fächerübergreifenden Unterricht und Freiarbeitsstunden einzuführen. Es reicht auch nicht aus, kleinere Klassen zu organisieren, mehr LehrerInnen einzustellen und die LehrerInnenausbildung noch mehr zu verdichten. Und es reicht auch nicht aus, die LehrerInnen durch die Forderung nach mehr Elternengagement zu entlasten. Diese und viele anderen Reformvorschläge sind nicht neu und werden seit der reformpädagogischen Ära vor etwa hundert Jahren immer wieder eingeklagt, jedoch nur selten realisiert. Was hinzu kommen muss und was viel wichtiger ist, zeigen die skandinavischen Schulreformen: Schule muss neu gedacht werden. Dies ist jedoch ein Ansatzpunkt, der in Deutschland besonders schwer fällt. Mit Blick auf Skandinavien, die Reformpädagogik und die Lernpsychologie heißt dies:
Schule muss sich für das Leben öffnen und nicht für instrumentalisiertes Wissen: Aufsuchende Bildungsarbeit, Lernen im Alltag, Lernen am Modell, gemeinwesenorientierte Bildung.
Schule muss sich für neue Kooperationen öffnen, d.h. für regionale Bildungsnetzwerke zwischen schulischer und außerschulischer Bildung sowie Beruf.
Schule muss eine gesellschaftlich-integrative Funktion bekommen. Sie ist bislang jedoch auf Selektion und Differenz angelegt.
Schule muss sich für lernorientierte Methoden öffnen und nicht für lehrorientierte. Der Schüler/die Schülerin steht im Mittelpunkt, nicht das Thema, d.h. selbstorganisiertes und -bestimmtes Lernen.
Schule muss sich für neue Organisationsmodelle öffnen, z.B. für selbstreflexive Kontrollinstrumente.
Bildungspolitisch konkretisiert kommt dies vor dem Hintergrund der derzeitigen Verfasstheit von Schule einer „Entschulung“ gleich. Es geht in diesem Sinne um die Auflösung des dreigliedrigen Schulsystems in der jetzt bestehenden Form, d.h. es geht
- um einen neuen Weg der Chancengleichheit;
- um die Abschaffung des Notensystems in der jetzt bestehenden Form, d.h. es geht um eine neue Fehler- und Lernkultur;
- um die Ersetzung der Schulpflicht durch eine Bildungspflicht, d.h. es geht um die Förderung von Alternativen und einer vielfältigen Bildungslandschaft. Es geht um das Ende einer bildungspolitischen Planwirtschaft;
- um die Regionalisierung und Pluralisierung der Schulaufsicht – z. B. analog der Jugendhilfe mit den Jugendhilfeausschüssen -, d.h. es geht um eine Demokratisierung und „Entstaatlichung“ der Verantwortung und Kontrolle von Bildung.
Entscheidend und gleichsam der „Goldene Schlüssel“ für alle Reformüberlegungen in Deutschland ist jedoch eine Neudefinition der staatlichen Verantwortung für Bildung. Der Artikel 7 des Grundgesetzes, „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“, bedarf einer Neuorientierung und Neuauslegung: Nicht der Obrigkeitsstaat und der Untertan dürfen länger Leitideen der Schul- und Lernkultur sein, sondern die BürgerInnengesellschaft und der souveräne Mensch.
(*) Der Beitrag ist eine erweiterte und überarbeitete Fassung eines Vortrags, der auf der Jahrestagung 2004 des Internationalen Versöhnungsbundes Deutscher Zweig am 21. Mai 2004 im Haus Venusberg in Bonn gehalten wurde.
Literatur
Aktion Humane Schule (Hrsg.) (1996): Schule und Gesundheit. Baustein-Info-Blätter Nr. 13. Köln
Arnold, R. / Schüßler, I. (1998): Wandel der Lernkulturen. Ideen und Bausteine für ein lebendiges Lernen. Darmstadt
Beck, U. (1998): Das Demokratie-Dilemma im Zeitalter der Globalisierung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 38/98, S. 3-11
Döbert, M. / Hubertus, P. (2000): Ihr Kreuz ist die Schrift. Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland. Münster / Stuttgart
von Hentig, H. (1985): Wie frei sind Freie Schulen? Gutachten für ein Verwaltungsgericht. Stuttgart
von Hentig, H. (1993): Die Schule neu denken. München
Institut der deutschen Wirtschaft Köln (2002): Ausländische Schulabgänger: Häufig ohne Schulabschluss. In: iwd, 28. Jg., S. 2
Kramer, W. / Werner, D. (1998): Familiäre Nachhilfe und bezahlter Nachhilfeunterricht. Ergebnisse einer Elternbefragung in Nordrhein-Westfalen. Köln
Martin, H.-P. / Schumann H. (1996): Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Reinbek
Schreiber-Kittl, M. (2001): Alles Versager? Schulverweigerung im Urteil von Experten. Forschungsbericht. Arbeitspapier 1/2001. Deutsches Jugendinstitut. München
Schwäbische Zeitung (1999): Mittwoch, 24. November 1999, S. 1
Singer, K. (1998): Die Würde des Schülers ist antastbar. Vom Alltag in unseren Schulen - und wie wir ihn verändern können. Reinbek
Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2002): Datenreport 2002. Zahlen und Daten über die Bundesrepublik Deutschland. Bonn
Tönnies, F. (1988): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt (Neudr. d. 8. Aufl. von 1935, 2., unveränd. Aufl.)