"Die Menschen sterben und die Atomzüge fahren durch." Gilbert Poirot, Anti-AKW-Aktivist aus dem Elsaß, ging gestern zurück an die Stelle, an der Sébastien Briard, 21 Jahre, am Sonntag sein Leben verlor, als er von einem Zug überfahren wurde, der 12 Behälter mit nuklearen Abfällen, eingehüllt in Glaskokillen, in Richtung Gorleben in Norddeutschland transportierte. Um gegen die Gefahren solcher Transporte zu protestieren, hatte sich der Jugendliche an die Gleise angekettet. Der Zug, der aus einer Kurve gefahren kam und mit einer Geschwindigkeit "von 98 Stundenkilometern" fuhr, habe nicht mehr rechtzeitig halten können, präzisierte gestern der Staatsanwalt aus Nancy. Gleichzeitig sei es Sébastien Briard nicht gelungen, sich freizumachen. Warum? Gestern schwieg die Staatsanwaltschaft gänzlich zur Entwicklung ihrer Untersuchung.
Gilbert Poirot hat seinerseits Schlüsse aus seiner eigenen Untersuchung der Örtlichkeiten gezogen: "Mit reduzierter Geschwindigkeit hätte der Zug an einer solchen Stelle durchaus rechtzeitig halten können." "Im Gegensatz zu dem, was der Staatsanwalt sagte, ist die Kurve an dieser Stelle relativ offen ("ouvert", evtl. auch langgezogen, d.Ü.) und die Sichtweite liegt bei mehr als 200 Metern", fügte er hinzu. Seiner Ansicht nach muss die Geschwindigkeit des Zuges hinterfragt werden: "Seit es diese Art Aktionen gibt, wissen wir, dass die Züge ihren Zeitrückstand aufholen, wenn sie von einer Blockade aufgehalten wurden." Am Sonntag war der Zug in Laneuveville-Devant-Nancy von zwei ebenfalls an den Gleisen angeketteten Demonstranten zwei Stunden lang blockiert worden. Er ist dann um 13.20 Uhr weitergefahren und hat Sébastien Briard kurz nach 14.30 Uhr 40 km vor dem Bahnhof von Avricourt überfahren. Konnte er anhalten? Oder ist er im Gegenteil sehr schnell gefahren, um seinen Zeitrückstand aufzuholen? Und weitere Fragen tauchen auf. Nach unseren Informationen hatte der Zug eine Erlaubnis "MA-100", die eine Maximalgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern zuließ. Demnach fuhr der Zug mit einer zugelassenen Geschwindigkeit. Und trotzdem immer noch viel zu schnell, behauptet die Gewerkschaft "Sud Rail". "Die Anweisung hätte lauten müssen, ‚vorsichtig‘ weiterzufahren", erklärt Dominique Malvaux von dieser Gewerkschaft. Eine solche Anweisung hätte der Möglichkeit Rechnung getragen, dass der Zug "dazu fähig sein muss, vor einem Hindernis anzuhalten", und zwar jederzeit. "Das hätte bedeutet, gerade in Kurven maximal 20 oder 30 Stundenkilometer zu fahren", fährt Sud Rail fort. "Es gibt beträchtliche Widersprüche, nicht nur über die Daten, sondern auch bei den staatlichen Behörden und der SNCF (den französischen Staatsbahnen, d.Ü.), die wussten, dass in der gesamten Region Elsaß-Lothringen ein großes Risiko bestand, auf Anti-Atom-Demonstrationen zu treffen. Presseerklärungen über geplante Aktionen waren überall im Umlauf. Trotzdem sind keine besonderen Maßnahmen getroffen worden. Und wenn das Hindernis ein LKW gewesen wäre und kein Demonstrant?", kritisiert Malvaux.
Aber wer war dafür zuständig, dem Zugführer eine Anweisung zu geben, mit "vorsichtiger Geschwindigkeit" zu fahren? Gestern gab jeder den Ball an andere weiter. "Es sind das Ministerium und die Cogema, die solcherart Transporte überwachen, wir selbst sind nur Ausführende", erklärte die SNCF. Die Cogema ihrerseits antwortet: "Cogema Logistics ist für den Zug lediglich bis zur Abfahrt aus dem Bahnhof von Valogne verantwortlich. Die Sicherheit ist Angelegenheit der CRS (Bundespolizei, d.Ü.), der SNCF und den Beamten des Verteidigungsministeriums in Paris-Bercy." Für letzteres erklärte Didier Lallemand gegenüber Libération, "nichts über ein Vorgehen mit ‚vorsichtiger Geschwindigkeit‘ zu wissen. Ich gebe nur die Autorisierung für den Transport. Ich bin zusammen mit dem Innenminister dafür verantwortlich, dass die Schutzbedingungen für nukleare Materialien eingehalten werden. Ich schreibe der SNCF nicht vor, wie der Zug zu fahren hat." Auf Anfrage von Libération hatte das Transportministerium, das der SNCF vorsteht, bis gestern keine Antwort parat. Der Atomtransport erreichte das Ziel seiner Reise in Gorleben/Deutschland am Abend.
Kasten: Transporte "unter Geheimhaltung"
Ein Erlass vom August 2003 bedroht mit einer Gefängnisstrafe ohne Bewährung bis zu fünf Jahren diejenigen, die gegen die Geheimhaltung der "Schutz- und Kontrollmaßnahmen nuklearer Materialien" verstoßen. Nach Regierungsangaben fiel der Transport atomarer Abfälle in Glaskokillen vom Sonntag nicht unter diesen Erlass. Doch im Netzwerk "Sortir du nucléaire" kritisierte man/frau gestern eine widersprüchliche Folgeerscheinung: "Früher konnten wir auf unserer Internet-Seite Zeitangaben, Art der Beladung und Sicherheitsmaßnahmen angeben. Jetzt ist das verboten. Infos zum Streckenverlauf vom Sonntag sind erst am Samstag über deutsche Internetseiten zu uns durchgedrungen." Rührt vielleicht daher eine größere Tendenz zur Improvisation bei den Aktionen?
M.E.
Anmerkungen
Quelle: Libération, Dienstag 9.11.2004, S. 11 (Übersetzung: Lou Marin, Graswurzelrevolution)
Weitere Infos
Sébastien Briat - Todesopfer des Castorzuges (indymedia)
Die Anweisung "Vorsichtige Fahrt" wurde nicht gegeben (telepolis)