Spätestens seit dem Aufstand vom 19./20. Dezember 2001 in Buenos Aires (1) sind die Piqueteros auch hierzulande ein Begriff. Dabei zeichnen die Bilder von Massendemonstrationen und Straßenblockaden, mit denen sie meistens in Verbindung gebracht werden, ein recht einseitiges Bild von dieser weitaus vielschichtigeren sozialen Bewegung in Argentinien.
Hervorzuheben sind vor allem die Versuche von Teilen der Bewegung, weitestgehend unabhängige, eigene gesellschaftliche Strukturen aufzubauen. Daß diese trotz allem nicht losgelöst vom kapitalistischen System und der sich stabilisierenden staatlichen Ordnung zu sehen sind, bleibt unbestritten. Dennoch zeigen sie eine Perspektive auf, wie obligatorische Appelle an die Adresse des Staates endlich aufgegeben werden und an deren Stelle eine umfassende Selbstorganisierung in allen Lebensbereichen treten kann.
Die Situation der Erwerbslosen
Fast 60 % der 37 Millionen EinwohnerInnen Argentiniens leben derzeit in Armut, die Hälfte davon in extremer Armut.
Jedes fünfte Kind stirbt an den Folgen von Unterernährung. Die Arbeitslosenquote liegt bei 21,4%; rund 6 Millionen Menschen sind erwerbslos bzw. unterbeschäftigt (ungefähr die Hälfte davon schlägt sich mit informellen Tätigkeiten durch oder arbeitet weniger als die normale Wochenarbeitszeit von 35 Stunden). Nur ein Bruchteil der Erwerbslosen erhält Unterstützung aus den staatlichen Sozialprogrammen in Höhe von monatlich 150 Peso (ca. 45 Euro), die in Argentinien an sogenannte „Familienoberhäupter“ (i.d.R. Männer) ausgezahlt werden. Die Mindestlebenshaltungskosten einer Familie liegen nach Angaben des argentinischen Nationalen Instituts für Statistik und Zensus INDEC dagegen bei monatlich 716,17 Peso.
Jedes Jahr aufs Neue legt die Regierung fest, wie viele Menschen diese Unterstützung noch erhalten. Waren es im Jahre 2002/03 noch rund 2,2 Millionen, sind es derzeit nur noch knapp 1,8 Millionen. Die Regierung Kirchner ließ seit Juli 2003 rund 252.000 Familien die Hilfen zum Lebensunterhalt streichen; bei zusätzlich 130.000 kam es zu „Unregelmäßigkeiten“ bei der Auszahlung, 120.000 seien durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wieder herausgefallen. Rund 80 % dieser Hilfsgelder werden von den traditionellen Stellen der Gemeinden und Provinzregierungen individuell ausgegeben; nur 20 % der Finanzmittel werden den Erwerbslosenorganisationen direkt zugeteilt. Die Kommunen können für diese Leistungen von den EmpfängerInnen tägliche Arbeitsdienste von vier Stunden verlangen (2).
Die Piqueteros
Nur ein kleiner Teil der Erwerbslosen, ca. 150.000 Familien, sind derzeit in der Piquetero-Bewegung organisiert. Der Name leitet sich von ihrer Aktionsform, den Straßenblockaden, ab. Eigentlich sind Piquetes Streikposten; die die Erwerbslosen auf die Landstraßen „verlegt“ haben. Dabei handelt es sich nicht um kurzzeitige Blockaden, sondern Hunderte von Menschen lassen sich, teilweise für Wochen, auf der Straße nieder und bauen dort regelrechte Camps auf. Die Blockaden gelten als höchst effizient, weil Güter und Arbeitskräfte so nicht mehr in die Städte gelangen können. Die politischen Instanzen geraten damit unter Zugzwang. Erstmals in Erscheinung getreten sind sie Mitte der neunziger Jahre, damals noch unter der Regierung Carlos Menem (3).
Die Piqueteros sind keine homogene Bewegung; vor allem an der Frage um die Forderung nach Sozialprogrammen und Arbeitsplätzen vom Staat und den Unternehmen entbrennt immer wieder Streit und kommt es zu Spaltungen. Ein Teil der Bewegung sieht darin eine Sackgasse und setzt auf den Aufbau eigener Strukturen bis hin zu einer „alternativen“ Wirtschaft. Im wesentlichen existieren drei Strömungen: von linken Parteien gegründete oder ihnen nahestehende Bewegungen (sogenannte „revolutionäre“), eine „reformistische“, die auf Verhandlungen mit der Regierung eingeht, und eine autonome.
Letztere bildet nur eine Minderheit (2 bis 3 %) unter den organisierten Erwerbslosen, repräsentiert aber zugleich ihren radikalsten Teil, der eine gesellschaftliche Entwicklung jenseits von Staat und Kapitalismus vorantreiben will.
Allen Strömungen gleichermaßen wird seitens linker Medien ein hohes Maß an Selbstorganisation, Unabhängigkeit und basisdemokratischer Entscheidungsfindung zugeschrieben.
Ob das jedoch für die parteinahe und reformistische Piquetero-Bewegung tatsächlich auch zutrifft, kann getrost angezweifelt werden. Hierarchische Strukturen schließen derartiges eigentlich schon vornherein aus. Bis auf die autonomen Piqueteros stehen alle Strömungen unter einer „Führung“.
Reformistisch – „revolutionär“
Die an Mitgliedern stärksten Organisationen sind der Bloque Piquetero Nacional, MIJD, CCC und FTV (4).
Im Bloque Piquetero Nacional (BPN, Nationaler Piquetero-Block) haben sich die linken Parteien nahestehenden Erwerbslosenorganisationen zusammengeschlossen. Maßgeblichen Einfluß im BPN hat die trotzkistische Polo Obrero (PO) unter Nestor Pitrolo, die die Piqueteros als „Avantgarde der Arbeiterklasse“ bezeichnet. Zu den Gründerinnen des BPN gehörte auch die marxistisch-leninistische Bewegung Teresa Rodriguez (MTR) mit derzeit 5.000 Mitgliedern, die den Block wegen unüberbrückbarer Differenzen im Frühjahr 2003 verließ (5).
Die Organisationen, die auf Verhandlungen mit der Regierung setzen, sind die Klassenkämpferische Strömung (CCC, Corriente Clasista y Combativa) unter Juan Carlos Alderete, die der maoistischen PCR (Revolutionäre Kommunistische Partei) nahe steht, und die Vereinigung Land und Wohnraum (FTV, Federacion Tierra y Vivienda) unter Luis D’Elia, die dem Gewerkschaftsdachverband CTA (Central de Trabajadores Argentinos) unter Victor De Gennaro angehört. Die CTA unterstützte bisher die Parteien UCR (Union Civica Radical; sog. Radikale) und FREPASO (Frente Pais Solidario). Deshalb wirkt es wohl nicht weiter verwunderlich, daß sowohl CTA als auch FTV Abgeordnete stellen. Der CTA-Vorsitzende Gennaro gilt als Verfechter eines Zusammenschlusses der sozialen und politischen Bewegungen – natürlich unter einer „bewußten Führung“ nach dem Vorbild der brasilianischen PT des Präsidenten Lula de Silva. Und der FTV-Führer D’Elia schwor bereits, den Präsidenten Kirchner bis „zum letzten Hemd zu verteidigen“ (6).
Die MIJD (Bewegung unabhängiger Rentner und Arbeitsloser) unter Raul Castells, der von der CCC ausgeschlossen wurde, mit 30.000 Mitgliedern positionierte sich zwischen den VerhandlerInnen der CCC/ FTV-CTA und den Piqueteros, die jegliche Kompromisse mit der Regierung ablehnen (7).
Daneben gibt es noch eine Anzahl weiterer, kleinerer Piquetero-Organisationen. Zwischen den verschiedenen Strömungen kommt es immer wieder zu punktueller Zusammenarbeit, bei Mobilisierungen etwa, um gemeinsame Forderungen durchzusetzen. CCC und FTV-CTA, die 2001 mit den anderen noch „Alle sollen abhauen“ riefen und Straßen blockierten, bleiben dabei zumeist außen vor. Das gleiche gilt für die Unterstützung der besetzten Fabriken. Bis heute mobilisieren die Piqueteros immer noch mehr Menschen als linke Parteien und Gewerkschaften zusammen. Dabei ist der Adressat der Forderungen der meisten Piquetero-Organisationen der Staat geblieben, dem ein Mehr an Sozialprogrammen, staatlichen Subventionen für Kleinstunternehmen und Beschäftigungsprogrammen sowie die Einführung von Sozialpreisen auf Lebensmittel und kostenlose Abgabe von Medikamenten, um nur einige zu nennen, abgerungen werden sollen. Andere wollen die Unternehmen verstaatlichen und die Macht erobern, um eine „Arbeiterregierung“ zu errichten.
Aufbau gesellschaftlicher Gegenstrukturen
Viele dieser Erwerbslosenorganisationen unterhalten eigene Großküchen, um die Versorgung mit Lebensmitteln überhaupt gewährleisten zu können. Allein vom Einkommen oder den Sozialgeldern würden viele Familien nicht überleben. Die Versorgung mit Lebensmitteln wird aus eigenem Anbau, den von Piqueteros gemeinsam erkämpften Lieferungen des Ministeriums für soziale Entwicklung oder auch den Unternehmen mittels Blockaden abgetrotzten Sachen bestritten. Ein Teil, v.a. Fleisch, muß dazu gekauft werden. Finanziert wird letzteres über einen geringen Prozentsatz, den die Piqueteros von ihren Unterstützungsgeldern abgeben. Anfangs war, neben der Durchführung von Blockaden und Demonstrationen, die Lebensmittelbeschaffung und das Betreiben der Küchen der Hauptschwerpunkt vieler Erwerbslosenorganisationen. Mittlerweile hat sich dieser verschoben bzw. ist erweitert worden. Es wird nach mehr Verankerung in den Orts- oder Stadtteilen gesucht, die Schaffung sozialer Zentren angestrebt, wo sich organisierte Erwerbslose und „Außenstehende“ aus der Nachbarschaft treffen können. Zudem setzen die Piqueteros verstärkt auf Kultur- und Bildungsarbeit (Workshops, Kurse, Konferenzen, Betreiben freier Radiosender); vor allem die Alphabetisierung soll vorangetrieben werden.
Was zunächst aus der Not geboren wurde, hat mittlerweile aber noch eine ganz andere Dynamik bekommen: Insbesondere die in der autonomen MTD Anibal Veron zusammengeschlossenen Piquetero-Organisationen mit mehreren Tausend Mitgliedern gehen weit darüber hinaus. Ihr Ziel ist es, eine alternative Wirtschaft aufzubauen. Dazu soll ein Netzwerk von Produktion und Vertrieb entstehen, das die Lebensmittelversorgung garantiert und es den Erwerbslosen ermöglicht, die Abhängigkeit vom Staat (über Unterstützungsleistungen) zu mindern und letztendlich gänzlich aufzulösen. Ihnen ist es aufgrund der großen Beteiligung bisher gelungen, eigene soziale Systeme zu installieren, die auf Nachbarschaftshilfe beruhen. Die Erwerbslosen der MTD arbeiten ohne Chefs, die Arbeitsgeräte befinden sich im Kollektivbesitz. Sie bewirtschaften kleine Landstriche, unterhalten eigene Gärten (Gemüseanbau), betreiben z.T. Tierhaltung. Sie zahlen ihre Unterstützungsgelder in Gemeinschaftskassen ein, womit sie u.a. den Aufbau von Werkstätten finanzieren. Frauen haben Schneidereien ins Leben gerufen, wo sie gebrauchte Kleidung aufarbeiten, die sie zu geringen Preisen in der Nachbarschaft verkaufen, bzw. Stoffpuppen und Taschen anfertigen, um sie auf Märkten anzubieten. Die Einnahmen daraus fließen in die Großküchen. Auch eigene Bäckereien gehören mittlerweile zum Versorgungsnetz. Die MTD Solano unterhält eine eigene Bibliothek und ist bereits dazu übergegangen, eine Schule aufzubauen. Auch die medizinische Versorgung soll zunehmend selbst gewährleistet werden.
Viele MTD-Mitglieder wollen gar nicht mehr auf den kapitalistischen „Arbeitsmarkt“ zurück. Vom Staat bekommen sie derzeit zwar noch Lebensmittelpakete und (individuell) teilweise Unterstützungsgelder. Aber selbst das Band wollen sie noch zerschneiden (8).
Tauschringe
Bereits 1995 entstand im Küstenort Quilmes südlich von Buenos Aires der erste Tauschring „Globales Netz“, der es ermöglichen sollte, bargeldlos Bedarfsgüter bzw. „Dienstleistungen“ zu tauschen. Lediglich beim Eintritt in den Tauschring mußten 50 Einheiten der Gutscheine gekauft werden. Auf dem Höhepunkt der Krise wuchs die Zahl derartiger Tauschringe auf 8.000 an. Im Frühjahr 2003 waren davon nur noch 1.000 übrig. Das schnelle Verschwinden dieser Versorgungsnetze hatte mehrere Ursachen: Der Boom setzte ein, als kaum noch jemand über Bargeld verfügen konnte – die Masse der Armen nicht, weil sie sowieso nichts hatten, und die Angehörigen der Mittelschicht nicht, weil ihre Konten gesperrt waren und sie damit nicht mehr an Geld herankamen. Um überleben zu können, wurden die Dinge getauscht. Durch die geballte Nachfrage von mehreren Millionen Personen wurden aber auch schnell die Grenzen von Tauschringen an sich deutlich: Es gibt ein immenses Angebot an Handwerk, Kleidung, Geräten und Werkzeugen, aber kaum Nahrungsmittel. Tauschringe können deshalb in dieser Form nur vorübergehend funktionieren, es sei denn, es gelingt, die gesamte Palette an Bedarfsgütern darüber zu sichern.
Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Einflußnahme von Außen: Der Tauschring „Globales Netz“ sah sich plötzlich damit konfrontiert, daß 500 Millionen Gutscheine gefälscht wurden – offensichtlich, um ihn gezielt zu zerstören. Die Druckkosten der Gutscheine lagen nämlich weitaus höher als ihr Tauschwert. Das Vertrauen wurde stark erschüttert: Kamen Mitte 2002 noch jeden Samstag über 10.000 Leute, waren es ein Jahr später nur noch ein paar Tausend (9).
Stadtteilversammlungen
Was zunächst oft aufgrund punktueller Anliegen, wie etwa der Organisation von Tauschringen, zustande kam, waren die Stadtteilversammlungen, die Asambleas. Schnell gewannen sie aber einen anderen Charakter: sie wurden der Ort, wo die AnwohnerInnen bestimmter Gebiete zusammenkamen, um über die politische Entwicklung zu diskutieren. Nach relativ kurzer Zeit kristallisierten sich auch hier zwei unterschiedliche Herangehensweisen heraus: Die einen konzentrierten ihre Debatten auf die Veränderungen der Regierungspolitik, auf die sie als Bewegung reagieren sollten.
Diese Linie vertraten vor allem die Mitglieder der zahlreichen linken Splitterparteien und der ihr nahestehenden Erwerbslosenvereinigungen, die zugleich versuchten, die Asambleas stärker an ihre Partei oder Gewerkschaft zu binden. Eine zweite Strömung, setzte dagegen auf eine basisdemokratische Ausrichtung. Sie orientierte sich an den Bedürfnissen der Menschen in den Stadtteilen. Sie bildete schließlich auch die Mehrheit der Asambleas, die sich den Bindungen und Einflüssen der Kader widersetzten. So stellte die Interbarrial, die koordinierte Versammlung in Buenos Aires, in ihrem Beschluß vom 15.12.2002 auch fest: „Die Asambleas sind souverän und unabhängig. Wir besitzen keine Repräsentanten.“.
Im Sommer 2002 zeichnete sich im wesentlichen schon die Entwicklung ab, daß weniger Menschen an den Stadtteilversammlungen teilnehmen als das noch auf dem Höhepunkt der Krise Ende 2001/Frühjahr 2002 der Fall war. Parallel dazu hat sich diese Organisationsform aber weiter ausbreiten können; in allen großen Städten, in Vororten und auf Dörfern gibt es mittlerweile Asambleas. Einige haben Häuser bzw. Bürogebäude besetzt, Kultur- und Sozialzentren geschaffen, auch wenn einige von der Polizei wieder geräumt wurden. Eine Teilschuld am Verschwinden anderer Versammlungen wird den linken Splitterparteien und der Gewerkschaft CTA zugeschrieben, die gezielt AktivistInnen über Einbindung aus den Asambleas rekrutierten und abzogen. Ein weiterer Grund dürfte aber auch die desolate finanzielle Lage sein, da sie nicht über vergleichbare Mittel wie etwa die Piqueteros verfügen, die sich diese erkämpft hatten (10).
Landlosenbewegung
In der Region von Misiones, an der Grenze zu Brasilien, liegt der Schwerpunkt der Bewegung der Landlosen. Nach brasilianischem Vorbild besetzen Erwerbslose und LandarbeiterInnen brachliegende Ländereien von Großgrundbesitzern oder des Staates, um sich eine Lebensgrundlage zu schaffen. Sie schließen sich zu großen Gruppen zusammen, nehmen das Land in Besitz und fangen sogleich damit an, es zu bebauen. Seit dem Herbst 2002 wurden so in Misiones von 6.000 Familien insgesamt 150.000 Hektar Land besetzt. Gleichzeitig treten die LandbesetzerInnen in Verhandlungen mit Regierungsbehörden, um eine Legalisierung zu erreichen. Mit politischer Unterstützung können sie – ähnlich wie in Brasilien – von Teilen der katholischen Kirche rechnen.
Um den nötigen Druck aufzubauen, bedienen sich die Landlosenden der Aktionsformen der Piqueteros, besetzen tagelang Straßenkreuzungen, die sie mit Barrikaden abriegeln, um so den Durchgangsverkehr für Straßentransporte zu blockieren. Interessant sind die Berührungspunkte der Landlosenbewegungen in Brasilien, Argentinien und Paraguay: Scheint eine Landbesetzung erfolgversprechend zu werden, wandern die Menschen – ungeachtet staatlicher Grenzen – einfach dorthin, um sich niederzulassen (11).
Vernetzung
Noch relativ neu sind die Bestrebungen, die sozialen Bewegungen in Argentinien miteinander zu vernetzen. In sogenannten Gebietsbündnissen haben sich Erwerbslosenbewegungen, Asambleas und ArbeiterInnen der besetzten Fabriken zusammengeschlossen. Bei drohenden Räumungen unterstützen Asambleas und Piqueteros die ArbeiterInnen tatkräftig und konnten so schon einige erfolgreich verhindern, beispielsweise die der Keramikfabrik Zanon in der Provinz Neuquen und der Textilfabrik Brukman in Buenos Aires.
Rund 120 Fabriken werden in Argentinien von 10.000 ArbeiterInnen in Eigenregie geführt, einige exportieren sogar ins Ausland. Dennoch ist die Lage aller prekär. Erst Ende 2002 setzte eine Diskussion über den Aufbau alternativer Produktions- und Vertriebsnetze zwischen besetzten Fabriken, Piqueteros und der Bewegung der Kleinbauern ein. (12)
Die Rolle der Frauen
In der Erwerbslosenbewegung waren es zunächst Frauen, die damit begannen, Straßen zu sperren, weil sie für die Kinder nichts mehr zu essen hatten. Die Männer ließen sich dagegen oft hängen. Die Piquetero-Organisationen wurden deshalb auch anfangs zu 80 Prozent von Frauen getragen. Ein ähnliches Bild bietet sich in den anderen sozialen Bewegungen. Bis heute hat sich daran im Wesentlichen nicht viel geändert. In den Asambleas, den Piquetero-Organisationen, den besetzten Fabriken und der Landlosenbewegung bilden sie nach wie vor die Mehrheit und treiben die geschilderten Entwicklungen aktiv voran (13). Die Küchen der Piqueteros wurden von den Frauen aufgebaut, die Arbeit darin fast ausschließlich von ihnen erbracht. Ähnliches gilt für die Bäckereien, Schneidereien, Kleiderkammern usw. Für viele Frauen bedeutete die Selbstorganisierung deshalb auch den Bruch mit ihrer bisherigen Rolle in den Kleinfamilien. Das lief nicht ohne den Widerstand der Ehemänner ab, die ihnen die Teilnahme an Versammlungen und Demonstrationen verbieten wollten. Es gab und gibt aber auch Initiativen, sich unabhängig von Männern zu organisieren, um für eigene Ziele zu kämpfen, wie z.B. das Sindicato amas de casa (Gewerkschaft der Hausfrauen), das von Frauen aus der Arbeiterklasse gebildet wurde, die mit gewaltfreien Aktionen für ihre Forderungen eintreten. Markant für ihre Demonstrationen ist es zudem, daß sie sämtliche Parteien und Verbände gezielt ausladen. (14)
Ausblick
In Argentinien hat sich eine starke und kämpferische Erwerbslosenbewegung herausgebildet, die in Teilen bereits dazu übergegangen ist, eigene gesellschaftliche Strukturen aufzubauen. Sie hat Kontinuität bewiesen, an Breite gewonnen und Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Menschen, wenn sie ihre Vereinzelung überwinden, ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Was zunächst aus einer Notlage heraus geboren wurde, hat mittlerweile eine eigene Dynamik entwickelt, die weit über das ursprüngliche Ziel, die individuelle Situation zu verbessern, hinausgeht. Genau diese Herangehensweise sollte die Entwicklungen in Argentinien auch für die hiesigen Erwerbslosen und sozialen Bewegungen interessant machen, geben sie doch genug Denkanstöße und Beispiele, an denen sich anknüpfen ließe.
(1) Vgl.: Fang: Ethik der Plünderung und Rebellion der Kochtöpfe. In: GWR 266, Feb. 02, S.2
(2) jW, 27/28.07.02, 26.11.02, 03.02.03, 11.02.04 & 25.05.04. HAZ, 16.11.02.
(3) jW, 16.04.2002, 19.12.02
(4) jW, 03.12.2002
(5) jw-Beilage "faulheit & arbeit", 20./21.03.04, S.4/5
(6) jw-Beilage "faulheit & arbeit", 27./28.07.02, S.4/5. jW, 26.11.02, 19.12.02, 22.12.03 & 25.5.04. Jungle World 1/ 2, 24.12.02 & 47, 12.11.03
(7) jW, 21.10.2002
(8) jW, 16.4.02, 17./18.05.03, 10.9.03. Jungle World 41, 01.10.2003
(9) Jungle World 9, 19.02.2003
(10) Jungle World 1/ 2, 24.12.02. jW, 19.12.02
(11) jW, 29.10.2002
(12) Jungle World 1/ 2, 24.12.02. jW, 29.10.02, 20.11.02, 26.11.02, 20.03.03, Ostern 03, 11.2.04
(13) Vgl.: Argentinien: Die Revolte der Frauen. Erfahrungsbericht einer libertären Feministin über die Dezember-Bewegung und die direkte Demokratie der Stadtviertel. Übersetzung von Lou Marin. In: GWR 269, Mai 2002, S.3
(14) jW, 19.03.02, 10.9.03