Marie-Christine Mikhailos Artikel über das Altwerden in der anarchistischen Bewegung wurde vor 18 Jahren geschrieben und erschien im Oktober 1996 in der GWR 212. Wer ihn liest, versteht, welch großartige Persönlichkeit wir mit ihr verloren haben. Zur Erinnerung an diese warmherzige Graswurzelrevolutionärin veröffentlichen wir den Text hier ein zweites Mal.
Langeweile
kommt auf,
wenn die
Flamme stirbt.
(Puschkin)
Als ich heute morgen Brot kaufen ging, trat ich ganz brillant eine schöne Marone weg. Sie rollte übers Trottoir so weit den Abhang hinab, daß ich sie nicht mehr mit Blicken verfolgen konnte. Aber – oder ist es nicht so, ich bin doch schon 70!
Das sind also die Tage des Alters, wo frau wieder zur Göre wird. Und andere…, anderen lastet das Alter plötzlich schwer auf Geist und Körper, der Spiegel reflektiert ein bleiches Gesicht, die Nieren schmerzen, die Knie sind heimtückisch. Es kommt auch vor, daß ich mich intensiv an jene Menschen erinnere, die bejahrter waren, und deren Zerstreutheit mir heute die Gurgel zuschnürt. Diese Erinnerungen sind unentbehrlich für mich.
Die Zeit, Mirabelle, die dir während deiner Jugend so kurz zu sein scheint, diese Zeit, der du nachläufst, und die dir fehlt, um deine Wünsche zu verwirklichen, mit der wirst du eines Tages nichts mehr anzufangen wissen. Ein heißes Bad nehmen und dabei einen Krimi lesen – oder ein Puzzle aus 5 000 Teilen zusammensetzen. Sicher, es werden dir noch genügend andere Vergnügen geboten. So gesehen glaube ich, daß es eine sehr positive Seite des Altseins gibt: wir haben viel Zeit. Erfreue dich daran, alt zu sein! Du wirst sogar die Möglichkeit finden, deine Zeit anderen Menschen zu schenken. Das Alter ist meistens ein Blick nach vorn. Seht euch nur die Alten an, die von den Massenmedien befragt werden!
Aber es gibt auch täglich den Vergleich mit der Vergangenheit. Wir hatten damals einen sehr starken Neid, Hoffnungen jeder Art, brennende Wünsche. Ein Paar neue Schuhe oder einen langen Mantel, ein Fahrrad, eine Reise nach Paris, – einen Liebesbrief, einen Kuß! Vor uns lagen ein langes Sehnen und köstliche Träume.
Manchmal bedauere ich euch, daß ihr beinahe alles habt, und nichts bleibt, was in näherer Zukunft unerreichbar sein wird.
Klares Wasser, eine ruhige Straße zum Spazierengehen, eine „reine“ Natur. Was bleibt euch zu wünschen? Was erwartet ihr – flammenden Herzens?
Ein Teil des Lebensabends vergeht dadurch, daß mensch an die Jugendjahre zurückdenkt. War es eine andre oder ich, die einmal im Monat die große Wäsche in der Waschküche mit den Händen wusch? Wer taute am Wintermorgen die Rohre auf, damit Wasser floß, wer machte Feuer unter dem Kessel, wer zog die Wäsche heraus, um sie zu kochen? Wir mußten zwei Frauen sein. Am Tagesende, abgebrochen, mit feurigen Wangen, nasser Schürze, wrang frau die Wäsche mit der Hand über dem Gras aus. Und Vorsicht vor derjenigen, die beim Auswringen des Bettlakens einen Knoten fabrizierte, die hatte sicherlich einen Schalk im Nacken. Es blieb uns stets genügend Kraft zu lächeln.
Im Alter weichen die Erinnerung als auch das übrige Stück für Stück. Die ersten „Alarme“ werden auf das Konto des Zufalls gebucht. Aber der Zufall wiederholt sich. Eines schönen Morgens machen sich die betreffenden Ausdrücke daran, zu entweichen, das Einmaleins funktioniert nicht mehr. Also habe ich denn überhaupt meine Brille aufgesetzt?
Was mich ärgert, ist, daß sich mein Lebensgefährte, der noch älter als ich ist, an Menschen, Situationen, Geschichten und Texte erinnert, die ich längst vergessen habe. Ich lese zwar dreimal schneller als er, aber ich vergesse eine Menge von dem, was ich gelesen habe. Er aber liest langsam – und erinnert sich, der Räuber! Das ist zum Wütendwerden.
Wir altern zu zweit, ziehen wie geduldige Klepper mal nach hier, mal nach dort, mal traben wir. Selten denken wir an den Tag, an dem eine/r von uns beiden fehlen wird, – und wir sprechen nie davon.
Ihr denkt oft an den Tod, – ihr? Wir nicht.
Es wird von „neuer Sensibilität“ gesprochen, die durchdringender sei und sich in dem Maße entwickle, wie mensch älter wird. Die kleinen Freuden werden zum großen Glück, – wie das Erblicken eines Vogels, der im Becken plätschert, eines Baumes, dessen Spitze im Nebel steckt, eines vertrauensvoll blickendes Babys. Dies ist das tägliche Brot der Seele, von dem sie sich, ohne Langeweile zu bekommen, bewirten läßt. Aber sie kennt auch „Festessen“! Musik, Poesie, Bilder, Begegnung der Gedanken. Schnell, bevor die Tränen kommen, es genügt ein schöner Film oder ein Brief, der Zeit und Raum passiert hat.
Sensibilität – oder lange Erfahrung – entwickeln auch eine verfeinerte Urteilsfähigkeit. Das ist, als ob ich eine Rundreise durch alles machen würde: Tugenden und Untugenden. Geheime Winkel der menschlichen Seelen bewahren heute kaum noch Geheimnisse. Nach 70 Jahren gibt es keine großen Überraschungen mehr. Andererseits ergibt sich eine neue Dimension, eine Art Tiefendimension. Freundschaft vertieft sich, und Freundschaft stellt das größte Glück dar (oder Liebe – das ist in diesem Fall das gleiche). Mit 70 bedeutet es, Sonne im Herzen zu haben, wenn sich Blicke kreuzen, wenn ein Lächeln erwidert wird, wenn ein Händedruck warmherzig ist. Die Gedanken wandern zu anderen, toten oder lebenden, aber mit Zartgefühl. Das Alter wird dann unwichtig.
François Mauriac liebe ich nicht gerade, aber er hat einen schönen Satz geschrieben, den ich zu meinem Motto machen würde: „An dem Tag, an dem ihr nicht mehr vor Liebe brennt, an dem Tag sterben viele andere vor Kälte.“ Das ist etwas Wahres.
Kennt ihr Mitleid? Das ist ein sehr sanftes Gefühl, das dem Herzen seine „Intelligenz“ gibt. Ich fürchte, daß ihr Jungen euch weigert, Mitleid zu erfahren – unter dem Vorwand, daß Mitleid jemanden zum Objekt macht.
Aber im Gegenteil, Mitleid wird euch helfen, die Alten zu verstehen und die Bequemlichkeit ihnen gegenüber zu bemerken.
Wie einige unter euch sich den Alten gegenüber versperren! Ihr versucht, ihnen auszuweichen, eine Unterhaltung „abzukürzen“, die euch schwer fällt, euch zu drücken. Ihre Langsamkeit irritiert euch. Sie haben nicht genug zu sagen, was euch interessiert. Sie klagen über die Welt, die sie umgibt und die ihnen zu eng geworden ist. So ist es – und ebenso macht ihr ihnen etwas Angst mit eurer Schnelligkeit, eurer modernen Sprache, eurem Mangel an Rücksicht. Das ist schade – besonders für euch.
In meiner Stadt gibt es zwei „verrückte“ Alte mit Blumenhüten, kitschig ausstaffiert mit langen Kleidern, falschen Juwelen, gefärbten Haaren und geschminkten Wangen. Das Alter hat sie von den Zwängen der Jugend befreit. Sie promenieren wie Königinnen, mustern das Geschehen – mit ausgefahrenen Segeln. Ihre kleinen Schwestern in nostalgischen Klamotten gehen vielleicht den umgekehrten Weg, wenn sie alt sein werden.
Wenn ich vor 30 Jahren nicht anarchistischen Gedanken „begegnet“ wäre, hätte ich wohl kaum gewagt, das Gesetz bürgerlichen Konformismus, das mich gefangen hielt, zu zerschlagen. Wie ist es wohl, alt zu werden und libertäre Ideen zu ignorieren? Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Wie wäre es gewesen, die ganzen Jahre an der Seite eines Gefährten zu leben, der diese Gedanken nicht geteilt hätte? Das ist für mich ebenso unvorstellbar. Dann könnte ich ja auch einen Blumentopf als Freund haben!
Es bleibt, soweit wie möglich das tägliche Leben mit den eigenen Gedanken in Einklang zu bringen. Dabei ist, alt zu sein, kein Hindernis – im Gegenteil! Denn ich habe nicht viel zu verlieren. Einen Ruf? Wozu könnte der noch dienen? Eine Arbeitsstelle? Die Rente ist gesichert! Zuneigung von Seiten der Familie, der Freunde? Wenn sie bis jetzt noch anhält…!
Also kann es gewagt werden. Gewagt werden, öffentlich als Revoltierende gegen alles, was unsere Freiheit begrenzt, zu erscheinen. Denn ich werde nicht frei sein, wenn nicht auch alle anderen frei sein werden, das hat schon Bakunin gesagt. Überall dort die Macht zurückdrängen, wo sie sich verbirgt, die Ungerechtigkeit offenlegen, ebenso die Lügen, die Gemeinheiten, …
Ich sprach zu euch, um zu sagen, daß Jahre nicht hindern zu kämpfen, den Kampf auch nicht notwendigerweise verlangsamen.
Viele alte Freunde, Frauen wie Männer, kämpfen bis zu ihrem Tode (mit). Dann gehen wir doch nun ein Stück des Weges zusammen, wenn ihr wollt!