"Den tiefsten Sinn in der Unbestimmtheit der Rechtsdrohung wird erst die spätere Betrachtung der Sphäre des Schicksals, aus der sie stammt, erschließen. Ein wertvoller Hinweis auf sie liegt im Bereich der Strafen. Unter ihnen hat, seitdem die Geltung des positiven Rechts in Frage gezogen wurde, die Todesstrafe mehr als andere die Kritik herausgefordert. So wenig grundsätzlich auch in den meistens Fällen deren Argumente gewesen sind, so prinzipiell waren und sind ihre Motive. Ihre Kritiker fühlten, vielleicht ohne es begründen zu können, ja wahrscheinlich ohne es fühlen zu wollen, daß eine Anfechtung der Todesstrafe nicht ein Strafmaß, nicht Gesetze, sondern das Recht selbst in seinem Ursprung angreift. Ist nämlich Gewalt, schicksalhaft gekrönte Gewalt, dessen Ursprung, so liegt die Vermutung nicht fern, daß in der höchsten Gewalt, in der über Leben und Tod, wo sie in der Rechtsordnung auftritt, deren Ursprünge repräsentativ in das Bestehende hineinragen und in ihm sich furchtbar manifestieren. Hiermit stimmt überein, daß die Todesstrafe in primitiven Rechtsverhältnissen auch auf Delikte wie Eigentumsvergehen gesetzt ist, zu denen sie ganz außer 'Verhältnis' zu stehen scheint. Ihr Sinn ist denn auch nicht, den Rechtsbruch zu strafen, sondern das neue Recht zu statuieren. Denn in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod bekräftigt mehr als in irgendeinem anderen Rechtsvollzug das Recht sich selbst. Eben in ihr aber kündigt zugleich sich irgend etwas Morsches im Recht am vernehmlichsten dem feineren Gefühl sich an, weil dieses sich von Verhältnissen, in welchen das Schicksal in eigner Majestät in einem solchen Vollzug sich gezeigt hätte, unendlich fern weiß. Der Verstand aber muß diesen Verhältnissen sich um so entschiedener zu nähern suchen, wenn er die Kritik der rechtsetzenden wie der rechtserhaltenden Gewalt zum Abschluß bringen will." (Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt, 1921)
Einschneidend war in der Geschichte staatlicher Souveränität und der der Todesstrafe ein Ereignis, das am 21. Januar 1793 stattfand: der Regizid (Königsmord) oder, wie es in der Revolution hieß, die Hinrichtung des "Bürgers Louis Capet".
Kein Zweifel, dass das Ereignis stattfand – aber hat es im Zuge der seitherigen Transformationen der Souveränität, die heute einigen Turbulenzen ausgesetzt ist, seinen Ort gefunden? Und seine Interpretation? Ist das Ereignis angekommen? Wie wirkt es fort? Oder sind politische Philosophie und Theorie, politisches Denken sowohl der Fachleute und Deutungsexperten wie der citoyen(ne)s vielleicht noch gar nicht im Januar 1793 angelangt, geschweige denn im dritten Jahrtausend?
Bei der Eröffnung der Generalstände der Psychoanalyse im Juli 2000 mahnte Jacques Derrida die dort Versammelten, die Psychoanalyse habe die Französische Revolution insbesondere „mit Blick auf das, was in besagter Französischer Revolution und ihrer Nachkommenschaft die obskuren Begriffe Souveränität und Grausamkeit betroffen haben wird“, noch nicht gedacht, obwohl sie doch „etwas unbedingt Notwendiges und Wesentliches zu diesem Thema sagen, aber auch zu tun haben müsste. (1)
Und eine bekannte und gewichtige machtkritische Stimme im 20. Jahrhundert meinte, dass im politischen Denken der ‚Kopf des Königs noch nicht gefallen‘ sei. „Man muß dem König den Kopf abschlagen: das hat man in der politischen Theorie noch nicht getan“ (2), heißt es bei Michel Foucault. Dessen historische Machtanalytik muss uns im Zuge der Dekonstruktion der Souveränität später noch beschäftigen (3) – nicht zuletzt, da sie eine wichtige theoretische Grundlage für verschiedene aktuelle Reflexionen zur Souveränität in der globalisierten Welt ist. Dies gilt (um so zugleich einige jüngere Titel zu nennen, die auf dem Programm dieser losen Artikelfolge stehen oder stehen müssten) nicht nur für Empire, das als Kultbuch bei vielen wohl ungelesen im Regal schlummert. (4)
Es gilt auch für Giorgio Agambens Buch Homo sacer, seine an Walter Benjamins Begriff „bloßes Leben“ (5) anschließenden Reflexionen über das „nackte Leben“ und seine sowohl rechtshistorischen wie aktuellen Thesen über den Ausnahmezustand, dessen Verstetigung (nicht zu verwechseln mit Normalität) die zentrale politische Drohung in unserer Zeit des TerrorKrieges ist. (6)
Die politische Dringlichkeit darf indes nicht in Übereilen umschlagen, die Fülle des in Betracht zu ziehenden Materials nicht aufstecken lassen.
Mit der Geschwindigkeit eines Fallbeils können Lektüre und Reflexion nicht mithalten, auch ist ihnen die schneidende Logik der Grenzziehung (‚genau hier zwischen Deinem Kopf und Deinem Körper‘) und des entweder/oder (‚Kopf/Kopf ab‘) fremd – darin liegt ihr pazifizierendes Moment, wenngleich diverse Interpretenschlachten bewaffneter Deutungs- und Sinnkrieger, insbesondere konkurrierende X-isten oder Y-ianer, häufig auf das Gegenteil hindeuten. Lektüre und Reflexion müssen allerdings ihr eigenes Verhältnis zwischen Beschleunigung (sowie Mut zur Lücke) und geduldiger Verlangsamung, Ausflügen in Geschichte und Hineinspringen in die Aktualität finden.
Entsprechend werden heutige Entwicklungen in Sachen Todesstrafe separat skizziert, während im Folgenden jenes Ereignis vom Januar 1793 betrachtet und Momentaufnahmen seines Fortwirkens gezeigt werden.
Chiasmus: Robespierre und Kant
Jacques Derrida weist beim Rückblick auf Beurteilungen der Hinrichtung Ludwig XVI. auf einen bemerkenswerten Chiasmus hin. (7) Robespierre war ein Gegner der Todesstrafe und befürwortete die Hinrichtung des Bürgers Louis Capet.
Bei Kant hingegen, der die Französische Revolution sehr wohl als „Geschichtszeichen“ für die „moralische Tendenz des Menschengeschlechts“ ansah (8) und der bis heute theoretischer Bezugspunkt des Kosmopolitismus und der internationalen Pazifizierung durch Rechtsinstitutionen, also für Infragestellungen ungeteilter Souveränität, geblieben ist (9), verhält es sich genau umgekehrt. Kant argumentierte mit großem Eifer für die Todesstrafe (10), er erhob die Todesstrafe in strenger Argumentation zur Bedingung der Möglichkeit des (Straf)Rechts – (auch) bei ihm bekräftigt „in der Ausübung der Gewalt über Leben und Tod […] mehr als in irgendeinem anderen Rechtsvollzug das Recht sich selbst“. (11)
Eine Ausnahme machte Kant allerdings – Souverän ist, wer von der Todesstrafe ausgenommen ist, ließe sich hier in Anspielung auf Carl Schmitts berühmte Definition der Souveränität sagen. (12) Im Fall der „förmlichen Hinrichtung des Monarchen durch sein Volk“ war er entsetzt, von „Schaudern“ ergriffen.
Davon zeugt eine lange Fußnote in der Rechtslehre seiner Metaphysik der Sitten, in der er erklärt, dass und warum die „formale Hinrichtung“ „ärger“ sei als der bloße Mord: „Unter allen Greueln einer Staatsumwälzung durch Aufruhr ist selbst die Ermordung des Monarchen noch nicht das Ärgste; denn noch kann man sich vorstellen, sie geschehe vom Volk aus Furcht, er könne, wenn er am Leben bleibt, sich wieder ermannen, und jenes die verdiente Strafe fühlen lassen, und solle also nicht eine Verfügung der Strafgerechtigkeit, sondern bloß der Straferhaltung sein. Die formale Hinrichtung ist es, was die mit den Ideen des Menschenrechts erfüllete Seele mit einem Schaudern ergreift, das man wiederholentlich fühlt, so bald und so oft man sich diesen Auftritt denkt, wie das Schicksal Karls I. oder Ludwig XVI. Wie erklärt man sich aber dieses Gefühl, was hier nicht ästhetisch (ein Mitgefühl, Wirkung der Einbildungskraft, die sich an die Stelle des Leidenden versetzt), sondern moralisch, der gänzlichen Umkehrung aller Rechtsbegriffe ist? Es wird als ein Verbrechen, was ewig bleibt und nie ausgetilgt werden kann (crimen immortale, inexpiabile), angesehen, und scheint demjenigen ähnlich zu sein, was die Theologen diejenige Sünde nennen, welche weder in dieser noch in jener Welt vergeben werden kann. […]
Der Grund des Schauderhaften, bei dem Gedanken von der förmlichen Hinrichtung eines Monarchen durch sein Volk, ist also der, daß der Mord nur als Ausnahme von der Regel, welche dieses sich zur Maxime machte, die Hinrichtung aber als eine völlige Umkehrung der Prinzipien des Verhältnisses zwischen Souverän und Volk (dieses, was sein Dasein nur der Gesetzgebung des ersteren zu verdanken hat, zum Herrscher über jenen zu machen) gedacht werden muß, und so die Gewalttätigkeit mit dreuster [sic] Stirn und nach Grundsätzen über das heiligste Recht [Hrvh. v. AS] erhoben wird; welches, wie ein alles ohne Wiederkehr verschlingender Abgrund, als ein vom Staate an ihm verübter Selbstmord [Hrvh. v. AS], ein keiner Entsündigung fähiges Verbrechen zu sein scheint. Man hat also Ursache anzunehmen, daß die Zustimmung zu solchen Hinrichtungen wirklich nicht aus einem vermeint-rechtlichen Prinzip, sondern aus Furcht vor Rache des vielleicht dereinst wiederauflebenden Staats am Volk herrührte, und jene Förmlichkeit nur vorgenommen worden, um jener Tat den Anstrich von Bestrafung, mithin eines rechtlichen Verfahrens (dergleichen der Mord nicht sein würde) zu geben, welche Bemäntelung aber verunglückt, weil eine solche Anmaßung des Volks noch ärger ist, als selbst der Mord, da diese einen Grundsatz enthält, der selbst die Wiedererzeugung eines umgestürzten Staats unmöglich machen müßte.“ (13)
Grausamkeit vs. Guillotine als „Nullpunkt der Marter“?
In seiner den Revolutionären in den alles restlos und irreparabel verschlingenden „Abgrund“ folgenden Anmerkung am Fuße der Seite kümmert sich Kant keine Sekunde um die Technik der Hinrichtung Ludwig XVI. Die technische Innovation der Guillotine, die unter den Zeitgenossen die Phantasie anregte, Angst und Schrecken verbreitete und für viele zum Symbol der Revolution wurde, ist ihm keine Zeile wert. Joseph Ignace Guillotin (1738-1814), dessen Name bis heute mit dem Apparat zum Abschlagen von Köpfen verbunden ist, war nicht der Erfinder des Mechanismus. Aber er brachte die Gesetzesvorlage ein, in deren sechsten Artikel es hieß: „In allen Fällen, in denen das Gesetz die Todesstrafe für eine angeklagte Person vorsieht, soll die Strafart die gleiche sein, welches Verbrechens sie sich auch immer schuldig gemacht hat; der Verurteilte soll enthauptet werden; dies geschieht mit Hilfe einer einfachen Mechanik.“ (14)
Gegenüber den bis dahin praktizierten Hinrichtungsarten, Martern wie Rädern und Vierteilen (15), ist Guillotins Vorschlag eine Milderung. Qualen und Schmerz, die Grausamkeit der Strafe werden verringert; die Enthauptung reduziert „alle Schmerzen auf eine einzige Geste und einen einzigen Augenblick“ und bildet so den „Nullpunkt der Marter“. (16)
Von ‚Humanisierung der Hinrichtung‘ kann gewiss nicht die Rede sein – eine Hinrichtung ist nicht ‚humanisierbar‘, der bloße Gedanke, der Humanisierung und Hinrichtung in einen Zusammenhang rückt, ist abscheulich. Dennoch muss der Stellenwert der Grausamkeit der jeweiligen Hinrichtungsarten reflektiert werden, denn der Begriff Grausamkeit, „ein verworrener und rätselhafter Begriff, ein Herd des Obskurantismus“ (17), spielt in der Geschichte der Todesstrafe und ihrer Abschaffung eine wichtige Rolle. Man denke nur daran, dass der Oberste Gerichtshof der USA 1972 die Todesstrafe als unvereinbar mit zwei Zusatzartikeln der Verfassung verurteilte, da er sie als a cruel and unusual punishment betrachtete. Fünf Jahre später wurden die Hinrichtungen wieder aufgenommen, als einige Bundesstaaten in Übereinstimmung mit dem Obersten Gerichtshof die Todesspritze als nicht grausam einschätzen. (18)
Auch bemerke ich, dass die soeben, beim Schreiben dieses Textes, eingetroffene Nachricht aus dem Iran über die einer Frau wegen Ehebruch in den nächsten Tagen drohende Steinigung auf mich besonders befremdend und abscheulich wirkt. Nicht primär wegen des angeblichen Vergehens (das für mich keines ist), auch nicht, weil die Verurteilte eine Frau ist, sondern vorrangig wegen der aus hiesiger Sicht ‚archaisch‘ wirkenden Hinrichtungsart.
Selbstverständlich mahnt die Vernunft sofort, dass Enthauptung, elektrischer Stuhl oder tödliche Injektion nicht ‚besser‘ seien. Aber in solchen Momenten zeigt sich die eigene Verstricktheit in den herrschenden Diskurs von „Zivilisation“ und „Moderne“, dem die moderne Technik der lethal injection, bei der kein Blut fließt, weniger grausam erscheint als die sich hinziehende und quälende ‚archaische‘ Prozedur der Steinigung. Dabei geht es keineswegs nur um einen emotionalen Impuls.
Amnesty International fügt der die Todesstrafe grundsätzlich ablehnenden Erklärung zur Steinigung im Iran an, dass solche Hinrichtungsmethoden, die das Leiden der Opfer steigern, für die Organisation „von besonderer Bedeutung“ seien, nämlich als „die extremste und grausamste Form der Folter“.
Vom geheiligten Henker zum Funktionär
Doch zurück zum Januar 1793. Mit dem Kopf des Königs fiel das göttlich legitimierte Königtum, die Infragestellung des Gottesgnadentum und der dem König zugeschriebenen übernatürlichen Macht durch die Aufklärung fand ihren symbolischen Schlusspunkt. Dieser Prozess der Entheiligung von Herrschaft ist jedoch alles andere als frei von Ambivalenzen und Gegenläufigem.
Indem Ludwig XVI maschinell geköpft wurde, wurde die „Ausnahmestellung des Monarchen demonstrativ negiert“. (19) Dieser stand zuvor in einer öffentlich zur Schau gestellten Allianz mit dem Scharfrichter. Joseph de Maistre (1753-1821), einer der Hauptautoren der Gegenrevolution (20) und einer der historischen Helden der Souveränitätslehre Carl Schmitts (21), hat die Allianz von göttlichem König und Henker deutlich hervorgehoben.
Ihm zufolge „beruht alle Größe, alle Macht, alle Subordination auf dem Scharfrichter; er ist der Schrecken und das Band der menschlichen Gesellschaft. Nehmen Sie der Welt dieses unbegreifliche Mittel; in dem nämlichen Augenblicke weicht die Ordnung dem Chaos; die Thronen sinken, und die Gesellschaft verschwindet.
Gott, der der Urheber der Souveränität ist, ist also auch der Urheber der Strafe; auf diese beiden Pole hat er unsere Erde gegründet.“ (22)
Den Scharfrichter, „Schrecken und das Band der menschlichen Gesellschaft“, durch eine Maschine zu ersetzen, gibt dem Ereignis der Hinrichtung des Bürgers Louis Capet, einen modernisierenden drive (und nimmt den späteren Vollstreckungen der Todesstrafe einen bedeutenden Teil ihrer religiösen Symbolkraft, ohne freilich das theologische Phantasma der Souveränität wirklich anzutasten).
Louis Sébastien Mercier (1740-1814) schilderte 1795 die neue Figur des an der Maschine Tätigen. Der Henker als jakobinischer Bürger ist gegenüber seinem Vorgänger jeglicher Sakralität beraubt und ein Anhängsel der banalen Mechanik; so stellt sich für Mercier die Frage nach der Ungeheuerlichkeit des – nunmehr säkularisierten – Henkers neu: „Ich wüßte gerne, was in seinem Kopf vorgeht, und ob er seine schrecklichen Aufgaben nur als einen Beruf ansieht […]. wie schläft er, nachdem er die letzten Worte und die letzten Blicke all dieser abgetrennten Köpfe gehört und gesehen hat […]? Man sagt, er schlafe, und es ist gut möglich, daß er das ruhigste Gewissen hat […]. Er kommt und geht wie jeder andere; manchmal besucht er das Vaudeville-Theater, er lacht, er sieht mich an. Mein Kopf ist ihm nur knapp entkommen, und er hat keine Ahnung davon“. (23) Ohne es explizit zu sagen, legt Mercier nahe, die Ungeheuerlichkeit des modernen Henkers darin zu sehen, dass er seinen Beruf mit der Neutralität und Indifferenz eines Funktionärs ausübt, der der Kontinuität des Staats- und Verwaltungsapparat verpflichtet ist und nicht, wie bei de Maistre, als verlängerter Arm Gottes die göttliche Ordnung garantiert.
Ent/Heiligung von Herrschaft
Allerdings ist die Entzauberung nicht komplett, die Hinrichtung des Königs war ein Vorgang der De- und Resakralisierung. Die „Sakralität des Königs, um die es bei der Urteilsfindung und der Hinrichtung ging, übertrug sich auf die Guillotine.“ (24)
Bedeutsamer und folgenreicher als die Übertragung der Sakralität auf die Hinrichtungsmaschine war die Sakralisierung der Republik, die in diesem Ereignis, in dieser Zeremonie, vollzogen wurde. „Die Desakralisierung des Königs durch seine Hinrichtung bewirkte die Sakralisierung der Republik durch diesen Gründungsakt.“ (25)
Statt dem nun weiter nachzugehen, abschließend nur noch Annäherungen an eine Frage: War der Königsmord unumgänglich? Elisabeth Roudinesco sagt im Dialog mit Derrida: „Mir scheint, der Regizid ist notwendig, damit später die Abschaffung der Todesstrafe komme.“ Derrida hingegen umgeht eine solche Aussage: „Ich weiß nicht, ob man den König hinrichten musste oder nicht. […] Was gewiss ist (und ich unterstelle, dass Sie dies mit dem ‚Gedanken vom notwendigen Regizid‘ unterstreichen), ist, dass so unzulässig der Terror erscheinen mag, er faktisch (en fait) (ich unterstreiche das Rätsel dieser Tatsache) der Preis war für eine große Zahl wichtiger Errungenschaften […], beispielsweise die Erklärung der Menschenrechte in ihrer historischen Entwicklung und das Ensemble revolutionärer Prinzipien, die zum universellen juristisch-politischen Diskurs der Moderne gehören. […]
Aber [,,,] ist der König wirklich (en fait) tot. […] Ein Körper des Königs ist gewiss getötet worden. Einer der zwei Körper des Königs, Louis Capets, ist getötet worden. Aber hat die Restauration je ein Ende genommen? Ist die monarchische Struktur und die Gestalt des Souveräns jemals in der Geschichte der französischen Republiken verschwunden?“ (26)
(1) Jacques Derrida: Seelenstände der Psychoanalyse. Das Unmögliche jenseits einer souveränen Grausamkeit [frz. zuerst 2000]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 22f.
(2) Michel Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978, S. 38.
(3) Unter den zahlreichen Monographien über Foucault sei jetzt schon eine herausragende empfohlen, Ulrich Brieler: Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1998.
(4) Vgl. Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung [amerik. zuerst 2000]. Frankfurt a.M./New York: Campus 2002.
(5) Vgl. Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt [zuerst 1921]. In: ders. Aufsätze, Essays, Vorträge. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser (= Gesammelte Werke Bd. 2). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 179-203.
(6) Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [ital. zuerst 1995]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002 u. ders.: Ausnahmezustand (Homo sacer II.1) [ital. zuerst 2003]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Vgl. als aktuelle Kurzfassung einiger seiner Argumente Giorgio Agamben: Der Gewahrsam. Ausnahmezustand als Weltordnung [zuerst in FAZ 19.4.2003]. In: Iris Bünger-Tonks u.a. (Red.) Krieg ohne Ende? Sonderheft Irak-Krieg 2003 von DISS-Journal & kultuRRevolution. Duisburg: DISS 2003, S. 25-26 u. zur Korrektur an Agambens kleinem terminologischen Fehlgriff bzgl. "Normalität" Jürgen Link: "Normaler" Terror? Zu den Thesen von Giorgio Agamben, ebd., S. 24-26 (im Netz zu finden unter www.diss-duisburg.de). Aus der Vielzahl der in der einen oder anderen Weise an Agamben anknüpfenden Reflexionen seien in eher zufälliger Auswahl genannt: Judith Butler: Antigones Verlangen. Verwandtschaft zwischen Leben und Tod [zuerst engl. 2001]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 und Slavoj Zizek: Willkommen in der Wüste des Realen [engl. zuerst 2002]. Wien: Passagen 2004. Derrida merkt zu Agamben an, die Unterscheidung zwischen bios und zoe entspreche keinesfalls "der starren Gegenüberstellung, auf der Agamben fast seine gesamt Argumentation über Souveränität und das Biopolitische in Homo sacer aufbaut" (Jacques Derrida: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft [frz. zuerst 2003]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 46), und er fügt eine Klammer an, die ich mir hier zu Eigen mache: "aber lassen wir das für ein andermal".
(7) Jacques Derrida/Elisabeth Roudinesco: De quoi demain... Dialogue. Paris: Fayard/Galilée 2001, S. 142.
(8) Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten [1798]. In: ders.: Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt: WGB 1983, Bd. 9, S. 261-393, hier S. 356ff.
(9) Vgl. als prominentesten Erben dieser Tradition Jürgen Habermas: Kants Idee des ewigen Friedens - aus dem historischen Abstand von 200 Jahren [zuerst 1995]. In: ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie. Frankfurt a.M.. Suhrkamp 1999, S. 192-236.
(10) Cesare Beccarias Argumentation, historisch der Grundlagentext für die Ablehnung der Todesstrafe, schmetterte Kant ab: "Alles Sophisterei und Rechtsverdrehung" (Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten [1797]. In. ders.: Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt: WGB 1983, Bd. 7, S: 301-634, hier S. 457).
(11) So die nicht explizit auf Kant gemünzte Formulierung in Walter Benjamin: Zur Kritik der Gewalt (Anm. 5), S. 188. Da Volker Weiß im ersten Teil (GWR 294, S. 8-9) zwischen Adorno und Marcuse einen Hinweis auf Benjamin vermisste (und als Appetithappen aus diesem so schwierigen wie lesenswerten Text), wird in einem Kasten Benjamins Gedanke über die konstitutive Bedeutung der Todesstrafe für das Recht (ebd., S. 188) herausgehoben. Merkwürdig, dass Jacques Derrida in seiner Lektüre Benjamins diese Sätze, wenn ich mich recht erinnere, nicht würdigt; vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der "mystische Grund der Autorität" [engl. zuerst 1990]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991 u. zur Debatte Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida - Benjamin. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
(12) "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" (Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [zuerst 1922]. Berlin: Duncker & Humblot 7. Aufl. 1996, S. 13).
(13) Kant: Metaphysik der Sitten (Anm. 10), S. 440-442.
(14) Zit. nach Arasse: Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit [frz. zuerst 1987]. Reinbek: Rowohlt 1988, S. 20f.
(15) Vgl. zur Strafpraxis und den Martern unter den absoluten Königen Robert Muchembled: Le Temps des supplices. De l'obéissance sous les rois absolus. XVe - XVIIIe siècle. Paris: Armand Colin 1992. Vgl. zur Strafpraxis in Deutschland die betreffenden Kapitel in Richard J. Evans: Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte. 1532 - 1987 [engl. zuerst 1996]. Berlin/Hamburg: Kindler/Hamburger Edition 2001. Evans' monumentale historische Studie ist für unser Thema unumgänglich. Was Kritik nicht ausschließt; vgl. die Kontroverse zwischen ihm und Jürgen Martschukat in 1999 - Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts H. 4/1997, S. 121-129 u. 2/1998, S. 249-252.
(16) So im Kontext einer eindringlichen Deskription und Analyse des "Festes der Marter" Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses [frz. zuerst 1975]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 3. Aufl. 1979, S. 46.
(17) Derrida: Seelenstände der Psychoanalyse (Anm. 1), S. 21. Derrida verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass das englische Wort cruelty und das französische cruauté auf das lateinische Wort für das vergossene Blut (cruor, crudus, crudelitas) zurückgehen; vgl. ebd., S. 7f.. Die "Geschichte des Blutes", die Derrida in seinen Seminaren zur Todesstrafe vorgelegt hat (vgl. Derrida/Roudinesco: De quoi demain [Anm. 7], S. 229), ist m.W. bisher leider nicht publiziert worden.
(18) Vgl. Derrida: Seelenstände der Psychoanalyse (Anm. 1), S. 58f. u. Derrida/Roudinesco: De quoi demain (Anm. 7), S. 252f.
(19) Arasse: Die Guillotine (Anm. 14), S. 74.
(20) Vgl. einführend Massimo Boffa: Maistre. In: François Furet/Mona Ozouf (Hg.): Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution. Band II: Institutionen und Neuerungen, Ideen, Deutungen und Darstellungen [frz. zuerst 1988]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 1560-1570 u. ders.: Gegenrevolution. In: ebd., S. 1122-1135.
(21) Vgl. Schmitt: Politische Theologie (Anm. 12), S. 59ff. u. - zu einer aktuellen Einschätzung auf dieser Linie - Günter Maschke: Der Engel der Vernichtung. Angriff gegen den aufklärerischen Optimismus, verdunkelt von Kraftworten. Zum 250. Geburtstag von Joseph de Maistre. In: Junge Freiheit 15/2003, S. 17. Maschke, einer der übelsten 68er-Renegaten, hat einige Schriften de Maistres in deutscher Übersetzung herausgegeben.
(22) Joseph de Maistre: Abendstunden zu St. Petersburg. Frankfurt 1824, S. 40, hier zit. nach Arasse: Die Guillotine (Anm. 14), S. 74f. Da Albert Camus' Verdienste im Kampf gegen die Todesstrafe in ersten Teil kurz gewürdigt wurden, sei an dieser Stelle doch darauf verwiesen, dass mir seine Annäherung von de Maistre und Marx (wie gesehen Kritiker der Todesstrafe und der Gesellschaft, die sie praktiziert), mehr als nur rätselhaft, nämlich abstrus erscheint; vgl. Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Essais [frz. zuerst 1951]. Reinbek: Rowohlt 1979, S. 155ff.
(23) Louis Sébastien Mercier: Nouveau Paris (1795); hier zit. nach Arasse: Die Guillotine (Anm. 14), S. 162.
(24) Arasse: Die Guillotine (Anm. 14), S. 74.
(25) Arasse: Die Guillotine (Anm. 14), S. 74. Arasse betont, seinem Thema "Die Guillotine und das Imaginäre des Terrors" (so der französische Originaltitel) gemäß, an dieser Stelle allerdings die Heiligung der Tötungsmaschine, nicht die politisch-theoretische Folge des - zweischneidigen - Ent/Heiligungs-Vorgangs.
(26) Derrida/Roudinesco: De quoi demain (Anm. 7), S. 147-149. Vgl. zur Vorstellung der "zwei Körper des Königs", auf die Derrida hier anspielt, Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters [amerik. zuerst 1957]. München: dtv 1990. In der jüngeren demokratietheoretischen Diskussion spielte der Rückgriff auf Kantorowicz eine bedeutende Rolle; vgl. Claude Lefort: Permanence du théologico-politique? [zuerst 1981]. In: ders. Essais sur le politique (XiXe-XXe siècles). Paris: Seuil 1986, S. 251-300 u. Ulrich Rödel/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel: Die demokratische Frage. ein Essay. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.
Anmerkungen
Dieser Beitrag ist die Fortsetzung von Alfred Schoberts Artikel "Das spekulative Schafott. Jacques Derrida über die Todesstrafe", Graswurzelrevolution Nr. 294, Dezember 2004, S. 8 f.
Der dritte Teil dieser Serie zur "Zur Dekonstruktion der Souveränität" erscheint voraussichtlich in der nächsten Ausgabe (GWR-Red.).