anarchismus

„Anarchismus – eine Philosophie des Friedens“

Ein Interview mit dem Filmemacher Peter Lilienthal

| Interview: Bernd Drücke

Der Regisseur und Autor Peter Lilienthal lebt in München. Geboren am 27.11.1929 in Berlin, Vater Bühnenbildner, verwandt mit dem Flugpionier Otto Lilienthal. 1939 Emigration der Familie nach Montevideo (Uruguay), um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Seine Mutter betrieb ein Hotel, in dem viele europäische EmigrantInnen wohnten, die er als seine ersten Lehrer bezeichnet. Abitur. Drei Jahre als Bankangestellter tätig. Erste Filmversuche als Mitglied eines Filmclubs. 1954 dreimonatiger Aufenthalt in Berlin. 1956 Stipendium an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin. 1959 bis 1961 Regie- und Produktionsassistenz, 1961 bis 1964 Regisseur beim Südwestfunk in Baden-Baden.1966 bis 1968 Dozent an der DFFB/Berlin.1967 erhielt er den Grimme-Preis für "Der Beginn", 1979 den 'Goldenen Bär' der Berliner Filmfestspiele für "David". Bundesfilmpreise: 1970 für die Regie von "Malatesta" (Filmband in Gold), 1976 für "Es herrscht Ruhe im Land" (Goldene Schale), 1979 für "David" (Filmband in Silber), 1980 für "Der Aufstand" (Filmband in Silber), 1983 für "Dear Mr. Wonderful" (Filmband in Gold), 1985 für "Das Autogramm" (Filmband in Silber), 1987 für "Das Schweigen des Dichters" (Filmband in Gold).

Seit 1974 eigene Produktionsgesellschaft (zus. mit Norbert Kückelmann, FFAT / Film-Fernseh-Autoren-Team). Seit 1985 Direktor der Abteilung Film- und Medienkunst der Akademie der Künste in Berlin. (Biografische Informationen aus: Hans G. Pflaum / Helmut H. Prinzler: "Film in der Bundesrepublik Deutschland", Inter Nationes Bonn, 1992)

Zwei Jahre nach dem faschistischen Putsch in Chile wurde Lilienthals Film "Es herrscht Ruhe im Land" 1975 in Hof uraufgeführt. Er handelt von den Ereignissen nach der Niederschlagung der sozialistischen Allende-Regierung, der Schauplatz bleibt unbenannt. Er beschreibt das stumme Entsetzen, mit dem die BewohnerInnen einer Kleinstadt zunächst auf den Terror des Militärs reagieren, bevor sie ihre Kräfte zum Widerstand sammeln. Lateinamerikanische Politik wurde auch aufgegriffen in "La Victoria", 1973 in Chile gedreht. Da der Film dokumentarisches Material enthält und die DarstellerInnen zum Teil Laien sind, verfügt er über einen hohen Grad an Authentizität. Genauso wie "Der Aufstand" (1980) über die Revolution in Nicaragua und "Das Autogramm" (1984), der in einer fiktiven lateinamerikanischen Diktatur spielt - und Argentinien meint.

Zur Zeit plant Peter Lilienthal einen Dokumentarfilm über Camilo Mejía, den "ersten Deserteur des 3. Golfkriegs".

Lilienthals 75. Geburtstag wurde im Dezember 2004 und Januar 2005 in Münster zum Anlass genommen, ihn mit einer Gala und einer Präsentation einiger seiner Filme zu würdigen. Im Vorfeld entstand am 11. Dezember 2004 das folgende, z.T. von Volker Pade (Filmwerkstatt Münster) gefilmte Gespräch zwischen Peter Lilienthal und GWR-Redakteur Bernd Drücke.

Graswurzelrevolution (GWR): Ich habe Dir ein paar Ausgaben der Graswurzelrevolution mitgebracht.

Peter Lilienthal: Das ist eure Zeitung? Wenn ich das richtig verstanden habe, gibt es hier auch Anarchisten?

GWR: Ja. Und die Graswurzelrevolution ist eine anarchistische Zeitung.

Peter Lilienthal: Dadurch, dass ich mal einen Film über einen Anarchisten …

GWR: … Malatesta …

Peter Lilienthal: … gemacht habe, gibt es immer wieder kuriose Situationen. Wenn ich in Städten bin, wo ich niemanden kenne, dann taucht immer jemand auf, meistens nicht unter 95, der mich anspricht als Veteran der Anarchisten und der mich aus irgend einem Grund für einen Spezialisten hält.

Dabei habe ich mich natürlich damit beschäftigt, auch für den Film „Malatesta“. Die Leute, die ich dann auf dem Weg treffe, die sich mit Anarchismus beschäftigen, haben so etwas jenseits von der realen Welt, ihre Ideologie ist so befreiend und gleichzeitig so wenig effizient, was ja auch schön ist. Ich weiß dann gar nicht, was ich sagen soll. Aber es sind die reinen Seelen und deswegen ein Vorbild natürlich. (…)

Der Anarchismus ist eine Philosophie der friedlichen Auseinandersetzung und Ideen, eine Philosophie des Friedens.

Das wurde ständig missbraucht, nicht nur der Name, du weißt, was „Anarchisten“ für die Polizei bedeutet oder für manche Leute. Es ist schwer, das richtig zu stellen.

Dazu kommt die Nähe des Anarchismus zum Wahnsinn. Das heißt: Leute wie der italienische Anarchist Carlo Cafiero z.B., die waren in der Irrenanstalt, weil es irgend einen Moment gab in ihrem Leben, wo sie – eigentlich auch wie der russische Anarchist Michail Bakunin – jenseits von Rationalität waren und von der Erkenntnis überhaupt, was sie selbst sind und was die Welt ist. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als ins Irrenhaus zu gehen, das ein Ort sein konnte, der sie beschützt hat.

Das hat mich immer interessiert: Die Nähe einer großen politischen Philosophie zum Irrsinn.

GWR: Oder zum vermeintlichen „Irrsinn“. Ernst Friedrich z.B., ein gewaltfreier Anarchist, wurde während des 1. Weltkriegs für verrückt erklärt und in die „Irrenanstalt“ gesperrt, weil er sich geweigert hat, Soldat zu werden und in den Krieg zu ziehen.

Danach hat er in den Zwanziger Jahren das Anti-Kriegsmuseum in Berlin aufgebaut, das hervorragende Buch „Krieg dem Kriege“ geschrieben und anarchistische Zeitungen wie „Die schwarze Fahne“ und „Junge Anarchisten“ herausgegeben. (…)

Wie bist Du 1969 auf die Idee gekommen, einen Film über das Londoner Exil des italienischen Anarchisten Errico Malatesta zu drehen?

Peter Lilienthal: Wir hatten in Montevideo im Gymnasium einen Geschichtslehrer, der kam aus Spanien, war Anarchist.

Das Erste, was wir von ihm lernten, war, dass er am Montag entweder phantastische Laune hatte und der beste Geschichtsprofessor der Welt war oder der wütendste, den man sich vorstellen konnte.

Aus einem einfachen Grund: Am Sonntag ging er zum Pferderennen; wenn er gewann, dann betrachtete er uns als Sympathisanten seiner Idee, des Anarchismus, und wenn er verlor, wurden wir als der „letzte Dreck der Bourgeoisie“ beschimpft, den man noch nicht mal anschauen durfte. Diese Art von Pathos gefiel mir, jenseits von seinen politischen Ideen. Er erzählte uns etwas von Bakunin, von der Auseinandersetzung zwischen Bakunin und Marx.

Das interessierte mich, auch, weil er Bakunin so lebendig beschrieb, als einen Nicht-Bourgeoisen – da hatte ich eine Vorstellung, was das ist -, und Marx als den letzten Spießer. Jetzt war es so, dass er in seiner Theatralik auf den Tisch stieg und alle Rollen spielte. Er sprach wie Marx oder erzählte, übernahm die Thesen von Marx und von Bakunin. Bei dieser Geschichte saßen wir gebannt vor ihm, entweder als die Beschimpften und Verachteten oder als die größten Anhänger des Anarchismus.

Irgendwann musste ich mich entscheiden, ob ich in meiner Rolle als verachteter Bourgeois weiterleben wollte – oder als Anarchist. Also habe ich mich für den Anarchismus entschieden und auf dem Weg bis heute mich immer mit dieser Philosophie beschäftigt. Mich hat zudem interessiert, dass es immer auch eine missbrauchte Philosophie war. Das habe ich selbst erkannt in den 68er-Zeiten, mit den Studenten der Filmakademie. Missbraucht z.B. für den bewaffneten Kampf, für jede Art von Reaktion, die man heute vielleicht als Terrorismus bezeichnen würde.

Ich habe durch die großen philosophischen Gedanken von einem Mann wie Malatesta, die pazifistisch waren, die überzeugen wollten, erkannt, wie wichtig es ist, sich einer Autorität des Staates zu verweigern, um eigene Wege zu gehen, um jeden Tag zu wählen, um die Bedeutung der Entscheidungen des Kollektivs im kleinsten Rahmen zu erkennen, usw.

Das hat mich begleitet und ist in irgendeiner Form Teil meiner Auseinandersetzungen mit anderen politischen Ideen, weil gerade so eine Utopie immer ein Licht wirft auf die Dressur einer politischen Idee, der die Menschen unterworfen werden.

(…) Es gibt eigentlich keinen immanenten „Anarchismus der Familie“. Der Anarchismus akzeptiert überhaupt keine Autorität, der Papa ist nicht der Papa, die Mama ist nicht die Mama, der Sohn ist nicht der Sohn, sondern jeder wählt jeden Tag sozusagen. Deswegen ist die Familie eigentlich eine Zelle der Autorität.

Das Schreckliche dabei ist, dass wir uns immer berufen auf eine Identität, die Distanz nimmt von den anderen.

Ich kämpfe immer, nicht für die Differenz, sondern für die Ähnlichkeit.

Das ist interessant bei Derrida, bei seiner „Politik der Freundschaft“, dass er sagt, die eigentliche Freundschaft entsteht da, wo wir uns nicht berufen auf zum Beispiel: „Ich bin Anarchist, du bist Sozialist“, „Ich bin Jude, du bist Christ“, „Ich bin in Münster aufgewachsen und du in Chile“, sondern: „Wo sind unsere Gemeinsamkeiten? Wo ist die Fähigkeit, den anderen anzunehmen in seiner Andersartigkeit?“

Das ist den meisten Menschen so fremd, weil jeder sagt: „Ich grenze mich ab! Du verstehst mich nicht, wenn ich Anarchist bin, und du bist Kommunist.“

Nein, da müssen wir eine andere Art von Verbindung suchen.

GWR: Im Moment arbeitest Du an einem Film über den Irak-Kriegs-Deserteur Camilo Mejía. Was hat Dich dazu bewegt?

Peter Lilienthal: Es gab eine Nachricht in der New York Times über den 1. Deserteur der amerikanischen Armee und seine Herkunft. Das war Camilo Mejía, der aus Nicaragua stammt, der ein Sohn von einem Komponisten der sandinistischen Bewegung ist und der sich, nachdem er acht Monate im Irak war, versteckt hat. Er bekam zwei Wochen Urlaub, um nach Miami zu fahren, ist nicht wieder zurückgekehrt in den Irak, sondern hat sich in New York versteckt, wo eine Organisation ihm half. Dann wurde er von einer katholischen Organisation aufgenommen. Nachdem er mehrere Interviews gab in der Öffentlichkeit, hat er sich entschieden, sich zu stellen.

Er wurde verurteilt zu einem Jahr Militärgefängnis. Bis zu dem Zeitpunkt gab es ein, zwei Wochen lang eine große Öffentlichkeit, im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen. Ich las das und dachte, das ist eine Figur, die mich interessiert. Nicht nur, weil es der erste Deserteur ist, sondern weil in seinem Fall die ganze Komplexität der Beziehungen von Zentralamerikanern, die in die USA ausgewandert sind und die in die Armee eingetreten sind, um beispielsweise ihr Studium zu finanzieren, die ganze Komplexität dieser Situation vermittelt wird. Und weil er eine Person ist, die sich nicht eignet, um daraus einen Helden zu machen. Er war acht Jahre freiwillig in der National Guard. Er selbst bekennt, dass er sich nicht wie ein Engel benommen hat im Irak, dass er verwickelt war in sehr heftige Situationen. Ein Mann, der eine kleine Tochter hat, der eine Mama hat, die Maricia heißt und jetzt für ihn kämpft, und der, nachdem er diese Entwicklung gemacht hat, angefangen von einem Student der Psychologie, der sich sein Studium finanzieren wollte, indem er in die National Guard eintrat, der dann in den Irak kam. Der sich als erster Deserteur stellte,…

Nachdem er diese Entwicklung gemacht hat, beruft er sich auf sein Gewissen und seinen katholischen Glauben. Da gibt es viele Widersprüche, von denen ich intuitiv annehme, dass sie interessant sein können, weil sie uns auch unsere Naivität vermitteln in der Beurteilung und Annahme von bestimmten Figuren, die im Moment im Gespräch sind, wie amerikanische Soldaten und ihre Untaten, wie die Haltung von den ehemaligen Nicas, den Sandinistas zu Nordamerika.

Da gibt es eine Reihe von Mythen, die sicher durch so eine Person nicht zu korrigieren sind, aber er eignet sich, um unsere Ideen, unsere Gedanken zu vertiefen im Zusammenhang mit den fatalen Beziehungen von jungen Menschen in Mittelamerika, deren einziger Ausweg, um zu studieren, oft eine Auswanderung ist.

Der erste Tote der amerikanischen Armee im Irak war ein Junge aus Guatemala, und der erste Deserteur ein Junge aus Nicaragua.

Diese fatale Beziehung wirft immer wieder ein Licht auf Abhängigkeiten, auf Integration, Assimilation von Lateinamerikanern im Norden, auf unsere eigenen Vorstellungen von Imperialismus. All das schien mir interessant in Verbindung mit der Figur von Camilo, von dem ich viel erfahren habe über die Mama.

Wenn es einen Held gibt, dann ist sie die Heldin. Sie fährt von Florida in das Militärgefängnis nach Texas, besucht ihn dort.

Man weiß, dass es ihm nicht schlecht geht. Aber, das ist ein interessantes Detail, er sollte geimpft werden, und er hat sich verweigert, weil er annahm, dass damit wer weiß was verbunden ist, also Drogen, usw.

Dafür haben sie ihn in eine Einzelzelle gesteckt, also bestraft. Beim Militär wird jede Art von Widerstand bestraft, das schreibt mir seine Mutter.

Sie beschreibt seinen Kampf, damit er nicht erst im Juni rauskommt, und wie kompliziert die Situation ist. Er hat eine Doppelstaatsangehörigkeit: Costa Rica und Nicaragua. Die Regierung von Costa Rica weigert sich, ihn zu unterstützen, weil sie angeblich im Konsulat nicht das Geld aufbringen, um ihn dort zu besuchen, obwohl sie dazu verpflichtet sind.

Das Komplizierte und Interessante an dieser Figur ist die Skepsis, die Antipathie, die man auch für eine solche Figur hat, weil er vieles verraten hat.

Was sagen die Nicas gegenüber einem Jungen, der nach Miami ging, der acht Jahre in der US-Armee war, und plötzlich taucht sein Gewissen auf?

Wenn ich an Camilo so sehr interessiert bin, dann ist es jenseits von der Tatsache, dass er Deserteur ist, sondern weil er ein sehr ambivalentes Wesen ist. Wir können ihn nicht ohne weiteres als Held sehen, als Pazifist, als idealen Antiimperialisten oder sonst was, sondern er ist „von allem ein bisschen, UND“.

Er beruft sich in letzter Instanz nicht nur auf sein Gewissen, sondern auf Gott. Aber warum gerade jetzt, nach acht Jahren? Warum ist er in die Armee eingetreten?

Da sehe ich eine Diskrepanz, zwischen jemanden, der an Gott glaubt, an die Gebote, und trotzdem acht Jahre in der National Guard dient.

Jetzt wird er von seinen eigenen Leuten als Verräter gesehen, die kleine Gruppe von acht Soldaten, die er kommandiert hat, die betrachten ihn auch als jemanden, der sie verlassen hat, die Regierung sowieso.

Von einer Gruppe von Katholiken ist er jemand, der seinem Gewissen gehorcht, der etwas gemacht hat, nach einer langen Entwicklung, was im Sinne von einer christlichen Moral richtig ist, man hat gesündigt, und danach bekommt man das Bewusstsein, was man gemacht hat. Er ist ein taffer Typ, durchtrainiert, ein Soldat. Ich kann mir schon vorstellen, wie er randaliert hat im Irak.

Trotzdem: Es ist eine Entscheidung gewesen, die nicht einfach gewesen ist, die viel Opferbereitschaft gefordert hat. Er wird unehrenhaft entlassen, er bekommt nichts, im Gegensatz zu den anderen Soldaten. Er ist angewiesen auf das Verständnis von Menschen, aber so, wie ich das verfolge, liegt das Verständnis in erster Linie bei seiner Mama und bei mir, nicht bei irgendwelchen Solidaritätsgruppen. Das kann gar nicht sein. Diese konfliktive Person setzt eine andere Art von Verständnis von unten voraus. Wie kommen wir damit zurecht, mit einer solch widersprüchlichen Person?

Es wäre schöner, wenn man von einem Heiligen sprechen könnte.

GWR: Ein „Heiliger“, das ist immer nur ein Klischee. In der Wirklichkeit ist es dagegen oft so, dass Menschen Brüche erleben und sich wandeln. Da gibt es auch im Zusammenhang mit der Graswurzelrevolution interessante Geschichten. Osman Murat Ülke (Ossi) ist ein Kriegsdienstverweigerer. (1) Er hat die ersten 15 Lebensjahre in Deutschland gelebt, ohne deutschen Pass. Dann haben seine Eltern ihn, der zu diesem Zeitpunkt kaum Türkisch sprechen konnte, zwangsweise in die Türkei geschickt, auf ein Internat. Das war für ihn die Hölle. Das Internat wurde von Islamisten geleitet, Misshandlungen waren an der Tagesordnung. Ossi ist ein Graswurzelrevolutionär, ein gewaltfreier Anarchist, er hat eine Kommune und anarchistische Zeitungen mitgegründet. 1996 hat er den Kriegsdienst verweigert und öffentlich seinen Wehrpass verbrannt.

Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt es in der Türkei nicht. Verweigerer werden inhaftiert.

Ossi lebt heute immer noch illegal, mit der ständigen Angst, wieder inhaftiert zu werden. Er saß insgesamt schon über zwei Jahre wegen seiner Kriegsdienstverweigerung im Gefängnis, ist nach einiger Zeit mehrmals wieder entlassen worden, immer mit der Aufforderung, sich „in die Einheit zu begeben“, was er nicht getan hat.

1996 hat er sich eine Gemeinschaftszelle geteilt, unter anderem mit einem „Grauen Wolf“, Mehmet Bal, der wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden war. Der stand Ossi zunächst feindselig gegenüber, grenzte ihn aus.

Als Ossi dann wegen einer erneuten Verurteilung wieder in die Zelle gebracht wurde, waren Mehmet Bal und die anderen Gefangenen beeindruckt. Sie fingen an, ihn ernst zu nehmen, sich mit ihm, mit seinen Positionen, mit gewaltfrei-libertärer Ethik auseinander zu setzen.

Mit der Zeit hat sich Mehmet Bal total gewandelt. Im Sommer 2002 wurde er aufgrund einer Amnestie entlassen und erhielt den Marschbefehl zu einer Einheit. Dann hat er den Kriegsdienst verweigert. (2)

Er wurde gefoltert, aber trotzdem hat er sich geweigert, ein Gewehr zu tragen und sich den Befehlen des Militärs zu beugen. Mehmet Bal hat sich vom Faschisten zum radikalen Pazifisten gewandelt. Eigentlich unvorstellbar, aber solche „Wunder“ machen den Menschen aus. Ein Mensch kann sich immer ändern.

Peter Lilienthal: Das erinnert mich an ein Experiment von einem französischen Soziologen und Theologen, der mit einer Gruppe von Jugendlichen, faschistoiden, rechten, die er im Café in Paris kennen gelernt hat, und einer Gruppe von Ausländern, Tunesier, Marokkaner, usw., in einen Ferienort gefahren ist. Die sind mit zwei getrennten Bussen gefahren, und sie wussten: „Wir kommen da zusammen“. Sie haben sich freiwillig diesem Experiment gestellt. Der Film über dieses Experiment zeigt das Ankommen der Busse vor einer Berghütte und wie sie alle reingehen in einen großen Saal. Da liegen Liegematten, und die Rechten fragen: „Und wo schlafen wir?“

„Na, hier, alle zusammen“.

Vom ersten Tag an trennt sich das, man spricht nicht zusammen, usw., die müssen für sich kochen, und in der Küche genau dasselbe, völlig getrennt. Aber am zweiten, dritten Tag entstehen kleine Kontakte über häusliche Dinge, es gibt auch Konfrontationen, ziemlich grobe Geschichten …

Das ist interessant bei diesem Experiment: Obwohl niemand seinen „Glauben“ aufgibt, wächst langsam das Verständnis für die anderen, weil man sie nicht einfach verurteilen kann, etwa als „Neger“ oder sonst wie. Am Ende, das ist schön, sagt der Soziologe: „Sie haben sich nicht verbrüdert, sie sind auch keine Freunde geworden, aber sie haben eine Art von Respekt vor dem Wissen und der Haltung der anderen. Respekt, aber nicht Anerkennung. Und das war schon sehr viel.“ Also, von Liebe keine Idee, von Freundschaft auch nicht, aber es gibt noch eine andere Kategorie. Das hat er gut gezeigt.

Wenn Camilo hier wäre, dann würden wir erst mal sagen: „Aha?“ Er betrachtet sich immer noch als Soldat und als Patriot. Das ist für uns eine harte Herausforderung. Wie sollen wir damit zurecht kommen?

Das ist das Interessante an einer politischen Arbeit, dass es darum geht, die Interessen und die Eigenart der anderen zu verstehen.

Ich glaube von mir selbst, dass ich nicht fähig bin zu irgendeiner Form von Gewalt. Ich war nie Soldat, in Uruguay gibt es keinen Militärdienst, danach für mich in Deutschland sowieso nicht, weil ich zwei Staatsangehörigkeiten hatte, und niemand hätte mich als jüdische Person zum Militärdienst aufgerufen. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, ich habe viele Situationen gehabt in meinen Filmen, wo Leute mit Waffen umgingen, die meisten, vor allem das Berliner Team, überhaupt internationale Teams, außer in Israel, wo alle Soldaten waren im Team, alle, Frauen und Männer, ich habe Erfahrungen gemacht mit dieser zivilen und weniger zivilen Haltung der Leute und meinem Verhältnis dazu.

Beispielsweise: In einem Film sind alle höchst interessiert daran, wenn es ums Ballern geht, irgend eine Explosion, ein Experiment, es geht etwas in die Luft. Sobald eine Liebesszene kommt, denken sie: „Wann geht das endlich vorbei?“

Diese Kinowaffen, diese Filmwaffen, die sind alle präpariert und liegen rum, und alle erwachsenen Typen, was mich auf die Palme bringt, fangen damit an zu spielen, wie Cowboys: PAFF und so. Ich habe dann gesagt: „Hört endlich auf mit diesem Dreck! Was steckt in euch? Seid ihr so infantil, dass ihr diese Kriegsspiele, diese Kinderkriegsspiele immer noch spielt, anstatt genau das Gegenteil zu tun? Ich berühre so was nicht, noch nicht einmal so eine Filmpistole. Ich fass die nicht an, sie ist für mich ein Symbol für Zerstörung, für Gewalt.“

Wenn ich das sage, dann gucken die mich an, als ob ich Chinesisch sprechen würde: „Was redet der da? Wir verstehen so einen Typen nicht.“

Damit müssen wir fertig werden. Ich spreche mit vielen Menschen, die mich überzeugen wollen, dass das, was ich sage, dass ich nicht fähig bin zur Gewalt, nicht sein kann. Ja wie? Ich kann es ja nur von mir behaupten. Zeugen habe ich, zumindest meine Mitarbeiter, die mir sagen können, dass ich, selbst wenn ich laut werde, was ich zum Beispiel in Israel manchmal sein muss, weil das ein ständiges Gerede ist und ein Mangel an Disziplin in gewisser Hinsicht, dann gibt es ein hebräisches Wort, das heißt „Ruhe“: „Chekket“, das ist fast das einzige hebräische Wort, das ich kenne. Und die gucken mich an, das interessiert nicht. Es wird ständig geredet, in der Luft, im Helikopter, die Autos in der Ferne, ich drehe im Wald in Israel und denke, hier ist die totale Stille, und es ist, als ob ich hier draußen auf dem Markt bin.

Um auf dieses Problem der Fähigkeit zur Gewalt, die mich interessiert, auch in diesem Fall von Camilo, zurück zu kommen: wir gehen immer aus von unserer eigenen Phantasie und Vorstellung davon, was wir anderen antun könnten.

Und da habe ich ausnahmsweise mal eine sehr gute Meinung von mir selbst. (…)

GWR: Wie können wir Camilo unterstützen? Hast Du eine Idee?

Peter Lilienthal: Ja, man kann einen Brief schreiben an die Kommandantur, an den General, der Vorstand des Gefängnisses ist. Für ihn ist es wichtig, dass es euch gibt. Vielleicht weiß er überhaupt nicht, dass es hier eine Gruppe von Freunden gibt, die, wenn sie auch vielleicht nicht Geld aufbringt, so doch über ihn spricht, ihn vielleicht später unterstützen, seiner Tochter helfen oder ihm vielleicht zu einem Studium verhelfen kann. Ich komme ohne einen konkreten Vorschlag, weil ich von Euch wissen will, was man für ihn machen kann.

GWR: Briefe schreiben. Auf unserer Internetseite befindet sich die „Ehrenliste der Gefangenen für den Frieden 2005“. (3) Da finden sich seine Anschrift und die Adressen von inhaftierten Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aus vielen Ländern.

Peter Lilienthal: Ja, das sind Sachen, die für ihn schön sind, aber die Briefe werden zensiert.

Wenn er aus dem Gefängnis herauskommt, dann fängt für ihn ein kompliziertes Leben an. Es ist in Miami nicht einfach für jemanden, der auch noch als der Sohn eines engagierten Helden des Aufstands in Nicaragua empfunden wird.

GWR: Camilo ist an eine breite Öffentlichkeit gegangen. (4) Mittlerweile gibt es viele Deserteure aus dem Irakkrieg. Das ist in den Medien aber nicht präsent. Dabei weigern sich auch in Deutschland immer mehr US-SoldatInnen, in das Kriegsgebiet verlegt zu werden. Das Beratungsbüro »Military Counceling Network« (MCN) hilft ihnen, berät sie über Rechte und Möglichkeiten, sich dem Militärdienst zu entziehen. (5)

Dein Film wird vielleicht dazu beitragen, dass das Thema Desertion öffentlicher wird. Welche Möglichkeiten siehst Du, mit Hilfe von Desertionen den Krieg zu sabotieren oder dazu beizutragen, ihn zu stoppen?

Peter Lilienthal: Da müsste ich entweder ein Magier oder ein Prophet sein, um zu erreichen, dass der Krieg gestoppt wird.

So eine bescheidene Dokumentation kommt immer zu spät. Die Ereignisse überschlagen sich. Vielleicht gibt es tausend Deserteure, die nicht an die Öffentlichkeit gehen, und die Regierung ist froh, dass das nicht passiert. So weiß man nichts von ihnen. Zum Thema Deserteur gab es viele Veröffentlichungen zur Zeit des Vietnamkriegs, gerade in Amerika. Du weißt, wie viele Deserteure es damals gab. (…)

In der Bundesrepublik gibt es eine Wehrpflichtigen- und Berufsarmee, in den USA in den letzten Jahren eine Freiwilligenarmee, was Probleme mit sich bringt. Viele, die die Folterfälle beobachtet und beschrieben haben, sagen, dass so etwas wie Folter bei einer Berufsarmee wie der Bundeswehr nicht vorkommen könne. Jetzt, nach Bekannt werden der Folterfälle in Bundeswehrkasernen, zeigt sich, dass das so nicht stimmt.

Um darauf zurück zu kommen, ob ein Film aufklären und einen Beitrag zum Frieden leisten kann: ich glaube schon. (…) Aber es wird eine Utopie bleiben, dass wir keine Armee mehr haben.

GWR: Aber eine gute Utopie.

Peter Lilienthal: Ja. Sie muss als Ziel formuliert werden, aber man muss den Weg dahin auch finden. (…)

GWR: Herzlichen Dank für dieses Gespräch.

(1) Vgl.: Bernd Drücke: Otkökü - Graswurzelbewegung in der Türkei. Ein Gespräch mit dem Anarchisten und Kriegsdienstverweigerer Osman Murat Ülke, in: GWR 253, November 2000, S. 1, 5, www.graswurzel.net/ 253/ ossi.shtml

(2) Vgl.: Jörg Rohwedder: Türkei: Kriegsdienstverweigerer Mehmet Bal wurde im Militärgefängnis gefoltert. Unterstützung erforderlich, in: GWR 274, Dezember 2002, S. 2

(3) Camilo Mejía sitzt wegen seiner Kriegsdienstverweigerung voraussichtlich noch bis März 2005 im Gefängnis. Über Briefe würde er sich freuen:

Camilo Mejía
Building 1490
Randolph Rd.
Fort Sill, OK 73503

Siehe dazu auch die "Ehrenliste der Gefangenen für den Frieden 2005": www.graswurzel.net/news/zg64-5.shtml

(4) Die Homepage von Camilo Mejía: www.freecamilo.org

(5) Telefon-Hotline für GIs: 06223-47506. Email: mcn@dmfk.de, Internet: www.getting-out.de

Weitere Informationen finden sich auch bei Connection e.V.: www.connection-ev.de