"Zur Rettung des Lebens des entführten Kindes habe ich angeordnet, dass Gaefgen nach vorheriger Androhung, unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von Schmerzen - keine Verletzungen - erneut zu befragen ist." Dies war der Kernsatz der Aktennotiz, die Wolfgang Daschner, damals Vizepräsident der Frankfurter Polizei, am 1. Oktober 2002 verfasste.
Die Androhung reichte. Magnus Gaefgen gab preis, wo die Leiche des von ihm entführten elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler zu finden war.
Dies war sicherlich nicht der erste Fall, dass Polizeibeamte in einer Vernehmung Gewalt androhten oder anwendeten, um den Willen einer Person zu brechen. Sicher war es jedoch das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass eine Folterandrohung schriftlich in den Akten festgehalten und von dem verantwortlichen Beamten öffentlich politisch und juristisch gerechtfertigt wurde.
Am 20. Dezember 2004, über zwei Jahre nach dem eigentlichen Vorfall, hat das Frankfurter Landgericht mit seinem Urteil im Fall Daschner einen juristischen Eiertanz sonder gleichen vorgeführt. Wolfgang Daschner habe sich der „Verleitung zur Nötigung in einem schweren Fall“ schuldig gemacht, der Kriminalbeamte Ortwin Ennigkeit habe diese Nötigung ausgeführt. Bestraft wurden die beiden hingegen nicht. Das Gericht fand wie schon zuvor die Staatsanwaltschaft „massive Milderungsgründe“. Eine Geldstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. „Verwarnung mit Strafvorbehalt“ nennt sich diese mildeste aller denkbaren strafrechtlichen Sanktionen.
Das Urteil belegt zunächst die alte Erkenntnis, dass vor dem Gesetz einige gleicher sind als andere. Einer südamerikanischen Drogenkurierin beispielsweise, die mit dem Transport von einigen Kilos Koks ihre Familie vor dem Absturz in die Armut retten will, würde das Landgericht wohl kaum „ehrenwerte Motive“ zubilligen.
Selbst wenn es – ein unwahrscheinlicher Fall – am unteren Ende des Strafrahmens bliebe, müsste die Frau ins Gefängnis. Bei einer Mindeststrafe von zwei Jahren kann sie nicht auf Bewährung hoffen. Im Falle Daschner/Ennigkeit wagte das Gericht nicht einmal, die Mindeststrafe – hier: ein halbes Jahr, immer zur Bewährung – auszusprechen. Und das, obwohl die Beamten keine disziplinarischen Konsequenzen hätten befürchten müssen.
Die ungleiche Verteilung von Milde und entschlossener „Verteidigung der Rechtsordnung“ ist aber längst nicht alles: Das ganze Verfahren demonstriert, dass die Strafjustiz nicht in der Lage war, mit diesem Fall und d.h. mit der politischen und juristischen Verharmlosung der Folter umzugehen. Das zeigte sich bereits an der Langsamkeit, mit der sie das Verfahren anging: Erst am 15. Januar 2003, mehr als ein Vierteljahr nach den Ereignissen, nahm die Staatsanwaltschaft von Daschners Aktennotiz förmlich Kenntnis. Sie begründete diese Verspätung mit der ferien- und krankheitsbedingten Abwesenheit der zuständigen Herren. Am 27. Januar eröffnete sie die Ermittlungen – noch wegen Aussageerpressung. (1)
Als die Folterdrohung öffentlich wurde, erntete Daschner nur bei den notorisch linken und linksliberalen Kreisen Entsetzen. In den Leserbriefspalten wurde er jedoch zum Helden, zum „beherzten Polizisten“, der das Leben des entführten Kindes retten wollte. Der Held durfte sich in einer Vielzahl von Interviews rechtfertigen und darlegen, dass die „Zufügung von Schmerz“ eben keine Folter gewesen sei: Verletzungen seien ausgeschlossen gewesen, ärztliche Kontrolle und professionelle Ausführung – nicht durch einen Folterspezialisten, sondern durch einen „Polizeibeamten mit Übungslizenz des deutschen Sportbundes“ – seien gewährleistet gewesen. Und schließlich sei es nicht um ein Geständnis, sondern nur um die Rettung des Jungen gegangen – keine strafprozessuale Angelegenheit, sondern „unmittelbarer Zwang“ zur Abwehr einer unmittelbaren Gefahr für Leib und Leben.
Die Falle der „Rettungsfolter“ war aufgebaut, und die „öffentliche Meinung“ lief bereitwillig hinein: In den Kommentaren eines grossen Teils der Medien – beileibe nicht nur der Boulevardblätter – begann das Abwägen: Wie viel Schmerz darf „zugefügt“ werden, wenn womöglich das Leben eines Kindes gerettet werden könnte? Selbst einer taz-Kommentatorin erschien die „Androhung eines Schmerzes“ in einem solchen Falle „durchaus als das kleinere Übel“. In die Reihe der Relativierer stellte sich nicht nur der stock-reaktionäre Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK), sondern auch Geert Mackenrodt vom Richterbund, der nach heftigen Auseinandersetzungen in seinem Verband zurückkrebsen musste. Daschners Dienstherr, der hessische Innenminister Volker Bouffier, bekundete „menschliches Verständnis“ und sah sich nicht zu disziplinarischen Konsequenzen veranlasst. BundespolitikerInnen begannen darüber nachzudenken, welche rechtlichen Folgen aus der Folterdrohung zu ziehen seien: Bundesjustizministerin Brigitte Zypries hielt den „rechtfertigenden Notstand“ des § 34 Strafgesetzbuch für ausreichend, um Daschner zu entlasten; CSU-Sprecher Norbert Geis empfahl, der Polizei „weitgehende Befugnisse für lebensbedrohende Situationen“ einzuräumen, um den „Täter zwingen zu können, Informationen zu geben, die unmittelbar helfen.“
Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Daschner allenfalls mit einer symbolischen Verurteilung rechnen musste. Den Entführer und Mörder Gaefgen – zur Tatzeit 27 Jahre alt – traf dagegen die volle Härte der Justiz: Lebenslänglich, „besondere Schwere der Schuld“, lautete das Urteil.
Gaefgen wird auch nach fünfzehn Jahren nicht freikommen. Das Gericht hat zwar seine ursprünglichen Geständnisse nicht gewertet, aber ein Verfahrenshindernis wollte es nicht sehen. Damit hatte es die einzige ernstzunehmende Sanktionsmöglichkeit gegen die Polizei verspielt.
Erst im Februar 2004 legte die Staatsanwaltschaft ihre Klage gegen Daschner und Ennigkeit vor – aus der „Aussageerpressung“ war Nötigung bzw. Verleitung zur Nötigung geworden. Bouffier versetzte Daschner zwar nun ins Innenministerium, die Gefahr einer Verurteilung mit beamtenrechtlichen Folgen war durch die Herabstufung des Tatvorwurfs jedoch gebannt. Im Juni ließ das Landgericht die Anklage zu, der Prozess begann am 18. November.
Einen Monat bevor das Landgericht sein Urteil fällte, hatte das Fernsehgericht unter Vorsitz von Richterin Sabine Christiansen bereits seinen Freispruch formuliert. Vier Millionen ZuschauerInnen beobachteten am 21. November, wie die (politische) Minderheit dieses Gerichts kläglich untergebuttert wurde. Der Fraktionsvize der CDU/CSU Wolfgang Bosbach und der BDK-Scharfmacher Rolf Jaeger dominierten die Diskussion. „Hat die Frankfurter Polizei mit der Anordnung von Folter richtig gehandelt, um das Leben des entführten Kindes zu retten?“, lautete die anschliessende QuickVote-Frage: Ja, sagten 53,6 Prozent der 806 Antwortenden.
Das Urteil des Landgerichts war vor diesem Hintergrund nur noch von nachrangiger Bedeutung. In der politischen Diskussion haben Daschner und Komplizen einen Erfolg davon getragen. Sie haben gezeigt, dass das in internationalen Verträgen, im Grundgesetz, in der Strafprozessordnung und in den Polizeigesetzen verankerte „absolute“ Folterverbot auch in der BRD nur relativ ist. „Wir leben nicht mehr im Jahr 1950, wo die europäischen Menschenrechtskonventionen abgeschlossen wurden“, erklärte Fernsehrichter Jaeger. „Wir leben in Zeiten der Bedrohung durch internationalen Terrorismus.“ Da darf auch im Rechtsstaat ein bisschen gefoltert werden.
(1) Siehe auch: Detlev Beutner, Jörg Eichler: Auf dem Weg zur Folternormalität, GWR 279, Mai 2003, S. 1, 13
Anmerkungen
Heiner Busch ist Redakteur von Bürgerrechte & Polizei/CILIP und Vorstandsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie