Vom 26. bis 31. Januar 2005 fand das Weltsozialforum (WSF) zum vierten Mal in der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre statt. Nachdem im vergangenen Jahr Mumbai (Indien) Ziel des Treffens Tausender Menschen aus sozialen, ökologischen und feministischen Bewegungen gewesen war, kehrte das WSF in diesem Jahr noch einmal an seinen Ursprungsort zurück. Im folgenden der Versuch eines Fazits, was unvollständig und bruchstückhaft bleiben muss.
Neue Rekorde
Wenn die Bedeutung eines solchen Treffens aus der Anzahl der TeilnehmerInnen zu ermessen ist, so war Porto Alegre 2005 ein absolutes Highlight. Offiziell beteiligten sich mehr als 150.000 Menschen aus 135 Ländern an über 2.000 Veranstaltungen. Dabei wollte das vorbereitende International Council das Ausufern in immer mehr Veranstaltungen vermeiden.
Dazu wurde die Organisation der thematischen Veranstaltungen in die Hände der anmeldenden Gruppen gelegt, in der Hoffnung dadurch mehr Verknüpfungen zu erreichen. Diese flachere Struktur wurde zwar begierig aufgenommen, hatte jedoch ein konträres Resultat: 300 Veranstaltungen mehr als in Mumbai.
Die Veranstaltungen konzentrierten sich in diesem Jahr entlang des Rio Guaiba und den ehemaligen Kaianlagen des Hafens.
Teil dieses Komplexes war das selbstorganisierte Zeltlager für ca. 30.000 Jugendliche. Hier verstärkte sich der Eindruck eines riesigen Polit-Happenings, was beides zu bieten habe: ernsthafte Auseinandersetzung um anstehende Kämpfe und riesige Party. Das solch ein Massenauflauf auch seine üblen Auswüchse zeigen kann, wurde am Ende des Forums deutlich. Insgesamt mussten 15 Millionen Reales (1) aufgebracht werden, eine Summe, die an die Grenzen der Möglichkeiten des WSF stößt.
Fast folgerichtig mussten Sponsoren ins Boot geholt werden: Petrobras (staatlicher Energiekonzern) und die Banco do Brasil, um zwei der Bedeutendsten zu nennen. Dieses Problem wurde vom Council klar benannt.
Machtvoller Auftakt
Als am 26. Januar über 200.000 Menschen in einer Demonstration durch Porto Alegre zogen, war der Eindruck nicht zu vermeiden, einer unendlich breiten Bewegung anzugehören, die nur noch ein wenig Zeit und Organisation benötige, um die „Andere Welt“ möglich zu machen.
Sollte über deutsche Medien der Eindruck vermittelt worden sein, es habe sich um eine Demonstration gegen den Irak-Krieg gehandelt, hier ein Dementi: es war ein fröhlicher, bunter, lauter und hitziger Zug von vielen Menschen, die vieles bewegte. Auch der Krieg im Irak. Es war genau die Mischung, die Stärke und Schwäche zugleich sein kann. Friedensbewegung, Ökos, GlobalisierungskritikerInnen und natürlich auch die bekannte Spezies der linksradikalen Splitterparteien, die ihre Bedeutung weniger der Zahl von Mitgliedern, als ihrer Lautstärke und ihrem Pathos verdanken.
Selbst der alte, immer verhallte Ruf deutscher Revoluzzer „Leute lasst das Glotzen sein…“, fand ein Stück Erfüllung. Ein großer Teil der DemonstrantInnen kam aus Porto Alegre und die Resonanz auf den Straßen und in den Häusern war enorm.
Themenvielfalt
Die verschiedenen Veranstaltungen waren zu insgesamt elf Themenschwerpunkten zusammengefasst. Dazu gehörten u.a.: Soziale Kämpfe und Demokratie; Wissen und Wiederaneignung von Technologien; Kunst und Kultur; Gemeingüter als Alternative zur Privatisierung; Frieden und Entmilitarisierung; Diversität, Pluralität, Identität.
Diesen Schwerpunkten wurden auf dem Gelände Bereiche zugeordnet. Die meisten Veranstaltungen fanden in Zelten statt. Deren Belüftung war keinesfalls immer optimal – bei Außentemperaturen von z.T. 40° C kein zu vernachlässigendes Problem.
Soweit überhaupt zu beobachten, waren die meisten Veranstaltungen gut besucht, selbst jene die bereits um 8.30 Uhr begannen.
Ein gewichtiges Thema war die Privatisierung von Wasserressourcen und -versorgung. Speziell in Lateinamerika hat sich dagegen eine starke Bewegung gebildet, die dem Wirken der Konzerne (darunter RWE, Suez, Vivendi u.a.) Einhalt gebieten will. Nicht ohne Erfolg. So gelang es z.B. die Privatisierung der Wasserversorgung der bolivianischen Städte Cochabamba und El Alto rückgängig zu machen. Sprengkraft erhalten diese Konflikte vor allem durch Vertragsbedingungen, die es den Konzernen ermöglichten, entgangene Gewinne einzuklagen. Wie die anstehenden Klagen ausgehen werden, ist noch ungewiss, heftige Konflikte dürften vorprogrammiert sein.
Dementsprechend emotional aufgeladen war die Stimmung auf den Seminaren zu diesem Thema. Und dementsprechend frenetisch gefeiert wurden Intellektuelle wie Eduardo Galeano (2), die sich dieses Themas annahmen.
Forum von Promis und Basis
Obwohl bereits im Vorfeld kritisiert, scheint der Abschied vom bedeutenden Referenten auch innerhalb des WSF ein schwieriger und langwieriger Prozess zu sein.
Viele Workshops und Seminare verliefen wie gehabt: unabhängig vom Thema saßen mehrere Personen auf einem Podium, meist Männer. Diese referierten und diskutierten mehr oder wenig spannend. Das Publikum durfte sich eher sporadisch an der Diskussion beteiligen.
Eine andere Stimmung bei den Veranstaltungen mit John Holloway: Obwohl auch er den üblichen Tross von „Gläubigen“ hinter sich herzieht, ist das Bemühen um eine neue Atmosphäre in den Workshops unverkennbar.
Holloways Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ (3) hatte für einen erheblichen Teil der lateinamerikanischen und westeuropäischen Linken Signalwirkung und seine Spuren hinterlassen. In allen Veranstaltungen dieser Art traten die ProtagonistInnen der argentinischen Revolte von 2001/2002 auf: Piqueteros, Frauen aus besetzten Betrieben und Stadtteilorganisationen der Arbeitslosenbewegungen. Das Bemühen war unverkennbar, der Theorie die Praxis folgen zu lassen: miteinander reden, arbeiten in Gruppen, keine ewigen Eingangsvorträge, Zusammenfassung der Ergebnisse durch Freiwillige aus der Gruppe. Wie sympathisch wirkte das Eingeständnis, eine neue Praxis versucht zu haben, aber damit nicht durchgehend erfolgreich zu sein. Wie gegensätzlich zu einer Haltung, wie der Emir Saders (4), der während eines Workshops völlig ungerührt gegenüber der Bitten um Übersetzung in’s Englische, seine Rede in Portugiesisch an das brasilianische Publikum hielt, obwohl zwei DolmetscherInnen vor Ort waren.
Wiederum völlig anders im Zelt von Intergalaktica (5): Dort wurde für 4 oder 5 (von ca. 70) Personen fast 45 Minuten getüftelt, bis die Übersetzung funktionierte. Was bei großen Veranstaltungen oft verloren ging, war hier möglich – das Wahrnehmen jeder einzelnen Person als wichtig.
Konflikt um die Frage der Macht
Holloway vertrat auf den Veranstaltungen die Position eines konsequenten „Nein“ zu den herrschenden Formen von Politik, Wirtschaft und Staat. Dieses „Nein“ wolle er jedoch nicht als bockiges Verweigern verstanden wissen, sondern als ersten Schritt hin zu anderen Formen von Gesellschaft. Mit seinem „Nein“ (andere nennen es „positives Nein“) verbinde sich die utopische Vorstellung von etwas anderem, was sich in Ansätzen bei den Zapatistas und den sozialen Bewegungen in Argentinien und Bolivien äußert.
Dass dieser Anspruch auf Widerspruch stoßen würde, war klar. Michael Brie von der Rosa – Luxemburg – Stiftung stellte dagegen ein klares „Ja“ zum Agieren im „Politischen Raum“. Seine Begründung: ansonsten besetzen jene das „Ja“, die wir alle nicht wollen. 1989 war das Helmut Kohl, z.Zt. versuchen es die Neonazis.
An dieser Diskussion wird ein Problem des WSF deutlich: viele Akteure sprechen eine Sprache, die z.T. das gleiche zu meinen scheint, aber aneinander vorbei geht.
Überhaupt wurden Konflikte tunlichst verdrängt. Sie wurden zwar hier und da konstatiert und als eine Stärke des WSF gedeutet. Doch kann sich hinter dieser Vielfalt auch die Angst vor dem Offenlegen und Diskutieren der unterschiedlichen Ansätze verstecken.
Bei mehreren Gelegenheiten trat das Verdrängte dann zu Tage. So z.B., wenn Promis versuchten durch wortreiche und „bedeutende“ Erklärungen der Bewegung Schwung und Richtung zu verpassen. Geschehen am vorletzten Tag mit der „Erklärung der 19“, auch „Manifest von Porto Algere“ benannt. Honorige Intellektuelle, männlich, weiß, nicht mehr sehr jung, veröffentlichten eine Erklärung in der u.a. die Forderung eines Menschenrechts auf Wasser erhoben wurde. Die Reaktionen waren nicht nur positiv. Sofort musste dementiert werden, dass es sich hierbei um die Erklärung des WSF 2005 handelte.
Bereits in der Vergangenheit wurde immer wieder die Neigung prominenter Persönlichkeiten kritisiert, durch ihre Wirkung in den Medien der Bewegung eine bestimmte Richtung zu geben. Der Spagat, auf der einen Seite Intellektuelle als Vordenker zu brauchen, und ihnen auf der anderen Seite damit nicht eine „führende“ Position zu verleihen, ist schwer auszuhalten.
Dies galt auch für Fragen nach der Besetzung des „politischen Raumes“. Hier wurden mindestens zwei unterschiedliche Stränge sichtbar: Zum einen jener Teil der Bewegung, der unter „politischem Raum“ die klassischen Formen von Politik versteht. Genau diesem Herangehen war jedoch ein erheblicher Teil der auf dem WSF vertretenen Gruppen und Organisationen gegenüber skeptisch eingestellt. Aus dieser Richtung kam die Vorstellung, den politischen Raum weiter zu fassen. Deutlich sichtbar wurden die alten Konfliktlinien der Linken: „Verantwortung“, Macht, Parlamente auf der einen, Bewegung von Unten auf der anderen Seite.
Lula, Chavez und die Machtfrage
Deutlich wurde diese Problematik beim Auftauchen der politischen Prominenz. Noch vor zwei Jahren wurde Luis Ignacio da Silva (Lula) als Hoffnungsträger gefeiert und der venezolanische Präsident Hugo Chavez kam mehr oder weniger nur durch die Hintertür auf’s Rednerpult. Auch diesmal bekamen beide wieder die Chance am Rande des WSF aufzutreten.
Doch wie sich die Zeiten ändern. Während Lulas Rolle nach der Hälfte seiner Präsidentschaft von den meisten brasilianischen Organisationen kritisch hinterfragt wurde, mauserte sich Chavez zum neuen Heroen.
Lulas Rede im Stadion Gigantinho war bestens durchorganisiert. Rechtzeitig wurden die meisten Plätze von AnhängerInnen der Arbeiterpartei (PT) besetzt. Kritische Gruppen kamen nur vereinzelt in das Stadion hinein und konnten sich kaum bemerkbar machen.
Als am letzten Tag Chavez redete – was entgegen den Statuten des WSF sogar im offiziellen Programm angekündigt wurde – strömten bereits lange vor Beginn viele Menschen in Richtung Gigantinho. Das überdachte Oval war völlig überfüllt, Tausende blieben außen vor.
Der Auftritt des Präsidenten war eine einzige Inszenierung. Erst ein paar Liedermacher und ein Priester, welche die Menschen in Stimmung brachten, dann Ignacio Ramonet, der Chefredakteur von „Le monde diplomatique“. Wer jetzt eine abwägende, nachdenkliche Rede erwartete, wurde überrascht. Ramonet bezeichnete Chavez in einer wahren Eloge als „einen Präsidenten neuen Typs“ und als „neuen Befreier“.
Viele Menschen setzten auch bei dieser Veranstaltung ihre Hoffnungen in starke Persönlichkeiten, die den von ihnen erhofften demokratischen Umbruch endlich schaffen sollen – aller Erfahrungen zum Trotz.
Und doch: der Eindruck, das WSF hätte seine politische Autonomie verloren trügt. Es ist nach wie vor zu groß, zu demokratisch und zu plural, um irgendeinen hegemonialen Anspruch durchgehen zu lassen.
Während der neue Star redete, gingen zahlreiche Veranstaltungen davon unbeeindruckt weiter. Während vor zwei Jahren die Arbeiterpartei noch den Ton angab, war bei diesem Forum von ihr nicht mehr viel zu sehen und zu hören.
Fazit
Es war ein Forum der Foren. Und das beruhigt. Viele Menschen mit vielen Ideen versammelten sich zum Austausch.
Das WSF erfüllt nach wie vor seine Funktionen: ein symbolischer Gegenpunkt zum Weltwirtschaftsforum in Davos zu sein, den Erfahrungsaustausch der unterschiedlichsten Gruppen und Bewegungen zu organisieren, zur Verständigung über Probleme und mögliche Lösungsversuche beizutragen und schließlich eine riesige Bildungsveranstaltung zu sein.
Das Forum wollte diesmal aktionsorientiert sein. Zahlreiche Absprachen und Verabredungen zu gemeinsamen Aktionen wurden getroffen. Die erste dieser Art soll ein weltweiter Aktionstag gegen den Krieg, am 19. März sein.
Die positiven Wirkungen können auch durch kritische Aspekte nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden.
Natürlich kam die Masse der Teilnehmenden aus Lateinamerika. Davon sicher 80% aus Brasilien. Das hatte nicht nur inhaltliche Konsequenzen. Dagegen waren nur wenige Menschen aus Afrika oder Osteuropa gekommen. Diese Unausgewogenheit wirkte sich besonders auf die Übersetzungsproblematik aus. Menschen, die sich in Landlosenbewegungen im südlichen Afrika organisieren, sprechen in der Regel weder Spanisch noch Portugiesisch. Zeitweilig konnte mensch sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies den OrganisatorInnen ein wenig schnuppe sei.
Ein bitterer Beigeschmack blieb am Ende. Auf dem selbstorganisierten Jugendcamp soll es zu zwei Vergewaltigungen und zahlreichen Diebstählen gekommen sein.
Trotz des Versuchs, dem WSF eine ökologische Komponente zu geben, blieb es häufig bei den Ankündigungen.
So vollbrachten amtliche und ehrenamtliche HelferInnen unglaubliche Leistungen, bei der tagtäglichen Entsorgung der riesigen Mengen Müll.
Die Abschlussdemo
Während die meisten Menschen bereits ihre Sachen packten, trabten 3-4000 Menschen noch einmal durch Porto Alegre. Die meisten von ihnen gehörten zu den bereits erwähnten Splitterparteien, die alle eine ominöse „Einheit“ der Menschen forderten. Unter ihrer jeweiligen Fahne – versteht sich. Geschenkt.
Das Weltsozialforum wird nur dann ein dauerhafter Erfolg sein, wenn es gelingt, die vielen kleinen Ergebnisse auch vor Ort umzusetzen. Schließlich können auch noch so gut gemeinte Verlautbarungen, Absichten und Strategien nicht über die Notwendigkeit des langen Atems hinweg täuschen.
Ohne die Probleme zu verniedlichen oder ein geschöntes Bild vermitteln zu wollen – wenn mensch nur manchmal hierzulande eine derartig offene, fröhliche, nach vorn orientierte Stimmung erleben würde, dann wäre die Suche nach Wegen aus unserem Desaster für viele Menschen sicher ein Stück attraktiver.
Ausblick
In der näheren Zukunft sollen neue Wege beschritten werden. Im nächsten Jahr sind kontinentale Treffen geplant. In zwei Jahren soll das nächste gemeinsame Weltsozialforum in Afrika stattfinden.
Eine Vorhersage über die weitere inhaltliche Entwicklung zu treffen wäre falsch und müßig. Wenigstens in dieser Frage scheinen sich alle Beteiligten einig zu sein: das Weltsozialforum ist ein Prozess des Suchens nach Auswegen aus einer sich in Richtung Barbarei entwickelnden Welt. Solche Prozesse dauern bekanntlich etwas länger.
(1) Das sind ca. 6 Millionen Euro
(2) Uruguayischer Schriftsteller. Bekannt geworden u.a. durch "Die offenen Adern Lateinamerikas"
(3) Verlag Westfälisches Dampfboot, 2002; siehe auch: Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern. Ein Interview mit John Holloway, in: GWR 283, November 2003, S. 1, 6
(4) Brasilianischer Intellektueller. Scharfer Kritiker der gegenwärtigen Regierung
(5) Netzwerk. Gegründet im Anschluss an das "Intergalaktische Treffen im lacandonischen Urwald", Chiapas, 1996