Im ausgehenden 20. Jahrhundert entbrannte in den USA unter großem medialen und politischen Interesse ein Historikerstreit um die These, dass der Irokesenbund die Entstehung und die Entwicklung der amerikanischen Verfassung beeinflusst habe. Thomas Wagner hat in seinem Buch "Irokesen und Demokratie. Ein Beitrag zu Soziologie interkultureller Kommunikation" (Münster 2004) die Validität der Einflussthese und den Kontext der Debatte untersucht.
In jüngerer Zeit sind mit der Dissertation Ralf Burnickis und der Textsammlung der Werkstatt für gewaltfreie Aktion Baden gleich zwei Bücher erschienen, die sich auf eine kritische und konstruktive Weise mit dem Konsensprinzip auseinandersetzen. (2)
Ihre Stärke ist, dass sie beide im hohen Maße an der Praxis und Theorie von Konsensverfahren in den aktuellen sozialen Bewegungen orientiert sind. Was bislang noch zu kurz kommt, ist eine genaue Kenntnis konsensdemokratischer Verfahren, die für viele politische Verbände staatsloser Gesellschaften charakteristisch sind und vielerorts bis in die Gegenwart hinein praktiziert werden.
Im Zuge der Arbeit an meinem Buch zur amerikanischen Debatte um den Einfluss des Irokesenbundes auf die Entwicklung der US-Verfassung habe ich eine interessante Variante des Konsensprinzips kennen gelernt. Im ersten Teil meines Artikels skizziere ich die Grundzüge der irokesischen Politik, wie sie den europäischen Kolonisten begegnete. Im zweiten Teil zeige ich, dass das Konsensprinzip auch in der nun schon 200 Jahre dauernden Reservationsperiode nicht an politischer Bedeutung verloren hat.
Im Juni 1998 portraitierte der Journalist Frank Nienhuysen in der Süddeutschen Zeitung die dem Irokesenbund angehörenden Mohawks der Akwesasne-Reservation in der kanadischen Provinz Québec (3) als rückwärtsgewandte Träumer, die vergeblich versuchten, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und die kanadische Herrschaft zugunsten ihrer konsensorientierten politischen Traditionen abzuschütteln. Ich meine dagegen, dass gerade ihr Festhalten an überlieferten Formen egalitärer Selbstregierung und konsensdemokratischer Entscheidungsprinzipien wesentlich zum Überleben der Mohawks und anderer „First Nations“ (4) als eigenständige politische Gemeinschaften beigetragen hat. (5)
Nachdem die gewaltsame Landnahme durch Siedlerkolonisten, die Expansion von Handelsgesellschaften, die US-Armee, die systematische Vernichtung von Nahrungsgrundlagen und eingeschleppte Krankheiten die Gesellschaften der „ersten Amerikaner“ bis zum Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend dezimiert hatten, wurden die übriggebliebenen Menschen als Angehörige einer „verschwindenden“ oder „aussterbenden Rasse“ angesehen, die auf Resten ihrer ehemaligen Territorien dahinvegetierten und bei Strafe des Untergangs zur vollständigen Assimilation an die moderne amerikanische Gesellschaft gezwungen waren.
Die politischen Organisationsformen der „Native Americans“ galten nun entweder als bereits zerstört oder als anachronistische Relikte einer archaischen Frühzeit, denen keine Überlebenschance mehr eingeräumt wurde. Einige dieser „befriedeten“ Ersten Nationen haben sich jedoch immer wieder dem Zugriff staatlicher Behörden verweigert und beharren seit Jahrhunderten auf ihrer fortbestehenden politischen Souveränität. Den militantesten Widerstand haben neben den Lakota nicht zuletzt immer wieder Angehörige des Irokesenbundes gezeigt. Dabei handelt es sich um eine Konföderation, die die politisch souveränen Stämme oder Nationen der Mohawks, Oneidas, Cayugas, Onondagas, Senecas und Tuscaroras miteinander verbindet.
Seit Jahrhunderten bewohnen die Angehörigen des Irokesenbundes Gebiete, die heute zum Hoheitsgebiet des US-Bundesstaates New York sowie der kanadischen Provinzen Quebec und Ontario gezählt werden. Den englischen Kolonisten waren die Irokesen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts als Confederation oder League of the Iroquois bekannt. Gebräuchlich war die Bezeichnung Five Nations, und als im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts die Tuscaroras als sechste Nation durch Adoption in den Bund aufgenommen worden waren, wurden daraus: die Six Nations. Die Irokesen selbst rufen sich nach ihrem bevorzugten Haustyp auch Haudenosaunee: das Langhausvolk.
Die im Irokesenbund bereits vor Jahrhunderten praktizierten Konsensverfahren gehören auf vielen Reservationen nach wie vor wie selbstverständlich zum politischen Leben. Konservative AnhängerInnen der Langhausreligion und Mitglieder der militanten Warrior-Organisationen haben große Teile der Reservationsbevölkerung auf ihrer Seite, wenn sie gegenüber den mehrheitsdemokratischen Verfahren der US-amerikanischen und kanadischen Autoritäten die Überlegenheit eines irokesischen Politikmodells behaupten, dass weder Befehle erlaubt noch Gehorsam verlangt und kollektive Entscheidungen nur dann als legitim und bindend anerkennt, wenn sie vom allgemeinem Konsens getragen werden. Die komplizierten Verfahren der irokesischen Konsensdemokratie möchte ich nun in den Grundzügen darstellen. Dass die Übergänge zwischen „Innen“- und „Außenpolitik“ fließend sind, stellt sich heraus, betrachtet man die Formen der irokesischen Diplomatie im 18. und 19. Jahrhundert genauer. Das Konsensprinzip blieb dann in der Reservationszeit ein Orientierungsmaßstab der oft genug in den Untergrund gedrängten traditionellen Stammesräte und gehört zum ideologischen Kernbestand eines militanten Ethnonationalismus, der seit den 1970er Jahren insbesondere unter den Mohawks großen Zuspruch erfuhr.
Die Konföderation der Haudenosaunee im 17. und 18. Jahrhundert
Wie lange der Irokesenbund bereits existiert, wurde bislang nicht endgültig geklärt. Konservative Schätzungen führen seine Entstehung auf einen Zeitraum in der Mitte des 16. Jahrhunderts zurück.
Der irokesische Gründungsmythos beschreibt das Ereignis als Ergebnis eines schwierigen Verhandlungsprozesses. Deganawidah und Hiawatha sind in dieser Erzählung die legendären Gründerheroen, denen es nur durch mühsame und langdauernde Überzeugungsarbeit gelingt, die sich in Blutfehden bekriegenden Stämme zu einer Konföderation zu vereinen und ihnen Regeln für das friedliche Zusammenleben zu geben: das Great Law of Peace (Kaienerekowa). Aus diesem Friedensgesetz werden die bis heute geltenden Entscheidungsverfahren und politischen Titel hergeleitet. Auch die ethnohistorische Forschung sieht in der Beendigung langdauernder Fehden einen wichtigen Grund für den Zusammenschluss der Stämme.
Der Konföderation gehörten wohl nie mehr als 15.000 Menschen an, die verschiedene Dialekte sprachen.
Ökonomische Grundlage war die Landwirtschaft, ergänzt durch Sammeln von Waldfrüchten, Jagd und Fischfang. Anfallende Arbeiten auf den Mais-, Bohnen- und Kürbisfeldern, auf der Jagd oder beim Hausbau wurden von Frauen- oder Männergruppen geleistet. Die Männer kümmerten sich um den Hausbau, schlugen Holz, errichteten Palisaden, bauten Kanus, Werkzeuge, Sportgeräte, Pfeifen und Waffen. Die Frauen wiederum kultivierten in ihren Gärten Sonnenblumen zur Ölgewinnung, Melonen und Obstbäume. Die Erträge der von den Männern durchgeführten Jagd- und Fischzüge sowie der gemeinschaftlichen Herbstjagden ergänzten die landwirtschaftliche Produktion.
Ökonomie und Politik basierten auf dem Prinzip der Machtteilung. Oft wurden zwei Ämter zur gegenseitigen Kontrolle gegenübergestellt. Man war streng darauf bedacht, dass die in beiden sozialen Sphären temporär entstehende Ungleichheit immer wieder auf ein erträgliches Maß nivelliert wurde. Alle Führungspositionen kamen ohne Erzwingungsstab aus und blieben grundlegend von der Zustimmung von Gefolgschaften abhängig, als deren bloßes Sprachrohr sie sich zu verstehen verpflichtet waren. Das Prinzip der Versammlung strukturierte die formalen und informalen politischen Zusammenkünfte in der Ohwachira, die Beratungen von Frauen- und Männergruppen, die Besprechungen der Arbeits- oder Kriegskollektive, die Clanversammlungen, den Siedlungsratschlag, den jeweiligen Stammesrat sowie den Häuptlingsrat der Konföderation.
Schon die Ebene der weiblichen Abstammungsgruppe, der Ohwachira, war fundamental für eine bemerkenswerte Machtbalance zwischen den Geschlechtergruppen. Wortführerinnen der frühen Frauenbewegung in den USA sprachen im 19. Jahrhundert vom Matriarchat der Irokesen. (6) Die Zurechnung zur ökonomischen, sozialen und politischen Solidargemeinschaft einer Verwandtschaftsgruppe erfolgte über die weibliche Abstammungslinie. Die Ethnologie nennt das Matrilinearität.
Die Kinder einer Frau gehörten ihr ganzes Leben lang, also auch nach der Heirat, dem Langhaus der Mutter an. Der ethnologische Terminus dafür ist Matrilokalität. Die verheirateten Frauen bildeten mit ihren jeweiligen Partnern, die formell weiter dem Langhaus ihrer weiblichen Vorfahren angehörten, und ihren Kindern separate Wohngemeinschaften innerhalb eines Langhauses mit einer eigenen Kammer und Feuerstelle. Weil jedes Individuum sein ganzes Leben lang ein und derselben Verwandtschaftsgruppe angehörte, war eine Verbesserung der sozialen Stellung durch berechnende Heirat ausgeschlossen. Die Eheleute behielten jeweils ihr angestammtes Eigentum, das sie im Falle einer Trennung wieder mit sich nahmen und das im Todesfall an ihren jeweiligen Herkunfts-Clan ging. Frauen hatten bei einer Trennung von ihrem Ehemann oder im Falle der unehelichen Geburt keine soziale Unsicherheit zu fürchten. Die verwandtschaftliche Zurechnung des Kindes zur mütterlichen Linie stand fest, für seine materielle und emotionale Versorgung stand die Familiengruppe solidarisch ein. Alles Land war Gemeineigentum und wurde ebenso von den Frauen verwaltet wie die Nahrungsmittel aus Feldarbeit, Jagd oder Sammeltätigkeit.
Eine Älteste der Ohwachira besorgte die Verteilung des gemeinsam zubereiteten Essens an die einzelnen „Familien“ des Langhauses. Das Amt war erblich. Doch musste die Älteste von einer Versammlung der Frauen bestätigt werden und wurde bei Missfallen abgesetzt.
Einer der tüchtigsten Männer des Langhauses stand der Ältesten zur Seite. Sie war die Treuhänderin des im Besitz der Ohwachira befindlichen „symbolischen Kapitals“ an Titeln, Ämtern und Ritualgegenständen, koordinierte die Arbeit der Frauen und verlautbarte das Schicksal von Kriegsgefangenen.
In manchen Familienlinien war einer der fünfzig Häuptlingstitel des Bundesrates erblich. In diesem Falle hieß die Älteste Go Yani, gehörte zu den weiblichen Vorsteherinnen ihres Clans und hatte dort eine zusätzliche politische Aufgabe: Nach Beratungen mit den Frauen- und Männergruppen ihrer Ohwachira schlug sie den männlichen und weiblichen „Häuptlingen“ des Clans, der nächsthöheren Integrationsstufe des Irokesenbundes, einen aus ihrer eigenen Verwandtschaftslinie stammenden Kandidaten für das Häuptlingsamt im Bundesrat vor. In ihrer Rolle als Clan-Vorsteherin bereitete eine Go Yani Feste und Ratssitzungen vor.
Die Irokesen kannten neun Clans, die sich auf die verschiedenen Nationen verteilten. Ein Clan bestand aus mehreren Verwandtschaftslinien (Ohwachiras). In jedem Clan hielten Frauen- und Männerversammlungen voneinander unabhängige Beratungen ab. Der Frauenrat teilte den landwirtschaftlich nutzbaren Boden unter den Ohwachiras auf und organisierte die gemeinsame Feldarbeit. Im Männerrat wurden entsprechende Pläne für Jagd- und Handelsaktivitäten gemacht. Frauen und Männer arbeiteten zusammen, wenn es darum ging, gemeinsame Feste und Zeremonien vorzubereiten, Streitigkeiten zwischen Clanmitgliedern zu schlichten und Verhandlungen mit anderen Clans zu führen.
Die nächste politische Integrationsebene, die Langhaussiedlung, ist nicht verwandtschaftlich, sondern territorial bestimmt. Einige hundert, aber selten mehr als 1.500 Angehörige verschiedener Clans lebten in den palisadengeschützten Ortschaften zusammen. Diese Höchstgrenze hat sicher auch damit zu tun, dass die Verfahren der Konsensgründung mit zunehmender Größe immer schwieriger wurden. (7) Die lokale Politik gestaltete sich plural. Das heißt, hier organisierten und verhandelten eine Vielzahl von Frauen- und Männerräten der Ohwachiras, der Clans und davon wiederum gesonderte Dorfversammlungen und Ältestenräte die öffentlichen Angelegenheiten.
In den häufigen Ratsversammlungen der einzelnen Stämme oder Nationen konnten sich neben den männlichen und weiblichen Clan-Vorstehern und den von den Männern gewählten Kriegshäuptlingen (Pine Tree Chiefs) auch einfache Männer und Frauen Gehör verschaffen. Falls sie ein besonderes Interesse an den Diskussionsthemen entwickelten, hielten Frauen einer oder mehrerer Ohwachiras eigene Ratsversammlungen ab, deren Ergebnisse durch Sprecher weitergeleitet wurden. Wenn die Frauen es verlangten, wurde ein vom Stammesrat behandelter Gegenstand der Zustimmung aller Stammesmitglieder überantwortet. Auf diese Weise blieb der Nationalrat an die „Basis“ angebunden.
Im Häuptlingsrat des Irokesenbundes hatten die von den Go Yani ausgewählten fünfzig Häuptlinge mit erblichem Titel ihren ständigen Sitz. Jeder Häuptling konnte durch sein Veto eine gemeinsame Entscheidung verhindern. Wenn auch nach mehreren Anläufen ein gemeinsamer Entschluss nicht gelang, wurde der strittige Punkt beiseite gelegt. Ein offener Streit wurde als Gefahr für den Zusammenhalt des Bundes gewertet. Grundlegend für die Versammlungen war daher ein gemeinsames Friedensritual: die Kondolenzzeremonie für einen verstorbenen Häuptling.
Die Kondolenzzeremonie ist bis heute ein wichtiger Bestandteil der irokesischen Politik. Sie hat ihr Vorbild im mythischen Gründungsakt der Konföderation.
Spannungen und Konflikte zwischen den Stämmen sollen auf rituelle Weise eingedämmt, die Fortsetzung des friedlichen Modus politischer Kommunikation auf diese Weise möglich werden. Gemeinsames Trauern stellt mithin den zeremoniellen Rahmen für die Verbindung von zwei potentiell antagonistischen Parteien bereit. Mohawks, Onondagas und Senecas bilden die Hälfte der Älteren Brüder oder der Angehörigen des Vaters, und die Oneidas und Cayugas (sowie die ihnen später zugeordneten Tuscaroras) die Hälfte der Jüngeren Brüder oder Neffen. Die Angehörigen beider Parteien betonen immer wieder ihre Absicht, Konflikte auf gewaltlose Weise zu lösen. Wenn ein Bundeshäuptling stirbt, obliegt es den Stämmen der gegenüberliegenden Hälfte, im Kondolenzritual initiativ zu werden und das Gemüt der trauernden Seite wieder aufzurichten. Dazu wird zunächst der Pfad beschritten: Die Hälfte mit dem klaren Geist (clearminded) geht zum Ratsplatz der trauernden Hälfte und stimmt dabei den Lobgesang (Roll Call) für die Gründer des Irokesenbundes an. An der Waldlichtung wird sie von den Trauernden begrüßt. Dem folgt die Wiederbelebungs-Ansprache (Requickening Address).
Dann werden die sechs Lieder für die verstorbenen Häuptlinge gesungen. Fünfter und obligatorisch letzter Programmpunkt ist die langdauernde Rezitation des Great Law of Peace.
Die Entscheidungsverfahren in den dann folgenden Ratsversammlungen sind hochformalisiert und darauf ausgerichtet, Konflikte und Spannungen zwischen den Verhandlungspartnern einzudämmen. Die Bundeshäuptlinge bilden dazu aber nicht zwei, sondern drei Parteien.
Die älteren Brüder (Mohawks, Senecas) sitzen östlich des von den Onondagas gehüteten Bundesfeuers und die jüngeren Brüder (Oneidas, Cayugas) ihnen gegenüber westlich davon. Als Hüter des Feuers geben die nördlich vom Feuer platzierten Onondagas die Diskussionsthemen zunächst an die Mohawks und Senecas. Die Mohawks besprechen sich untereinander, treffen eine konsensuale Entscheidung und reichen das Thema an die Senecas weiter, die es nach ihrer Beratschlagung an die Mohawks zurückgeben. Die Mohawks leiten die so erreichte Übereinkunft über das Feuer an die ‚jüngeren Brüder‘ weiter. Dort wird sie zunächst von den Oneidas und dann von den Cayugas erörtert. Die Oneidas geben den Diskussionstand dann zurück an die Mohawks, die schließlich die gemeinsame Ansicht der Onondagas bekannt geben. Wenn die Onondagas zustimmen, gibt der aus der aus ihren Reihen stammende Sprecher des Häuptlingsrates (Tadodaho) den so gefundenen Konsens bekannt.
Waldlanddiplomatie
Elementare Aspekte der irokesischen Konsensdemokratie strukturierten auch die Form der Außenbeziehungen der Konföderation. Die Bündnisse zu anderen indianischen Nationen und den europäischen Kolonien unterschieden sich in irokesischer Sicht nicht grundlegend vom Aufbau und der Zwecksetzung der Konföderation selbst. In beiden Fällen war keine herrschaftliche Zentralinstanz vorhanden, die inneren Frieden durch repressive Maßnahmen herzustellen in der Lage gewesen wäre. Auch in der „Außenpolitik“ gebot das irokesische Protokoll die vorsichtige Annäherung von zwei (oder mehr) Parteien über ein Trauer- und Beileidsritual. (8) In beiden Fällen hatten souverän bleibende Alliierte und Verhandlungspartner miteinander zu tun, die auf konsensuale Entscheidungsverfahren und wiederholte rituelle Friedensstiftung angewiesen blieben. (9)
Die historisch folgenreichste Allianz im Rahmen der sogenannten Forrest Diplomacy war die ca. 100 Jahre dauernde und in diesem Zeitraum ein stabiles Dach für Handel und kulturellem Austausch bietende Covenant Chain (Bundeskette) von Irokesen und englischen Kolonien gegen die in Pelzhandel und um Gebietsansprüche konkurrierende französische Kolonialmacht und deren indianische Verbündete. (10) Die an einem friedlichen Handel und indianischen Verbündeten interessierten Kolonien des 17. und 18. Jahrhundert mussten sich an die in der gesamten Region verbreiteten Spielregeln der indianischen Diplomatie anpassen. Dazu gehörte die kostspielige Verteilung von Geschenken. Die Gesandten ihrer Majestät ärgerten sich aber häufig über das Verhandlungsgebaren ihrer indianischen Alliierten. Nicht selten beklagten sie sich bei ihren Verhandlungspartnern über die Anwesenheit zu vieler Menschen am Ort der Konferenz. Wenn das Thema wichtig war, machte sich eine große Anzahl von Häuptlingen, Kriegsführern, aber auch von gewöhnlichen Männern, Frauen und Kindern noch zum entferntesten Verhandlungsort auf. Im Rahmen ihrer Konsensdemokratie war die Wahrscheinlichkeit, dass die erreichte Übereinkunft für den Irokesenbund schließlich bindend sein würde, desto größer, je mehr Menschen bei einer Verhandlung teilnahmen bzw. deren Vorschläge beratschlagen konnten. Der Verhandlungsprozess selbst hatte einen langen Vorlauf und war aufwändig. An dieser Stelle kann das Verfahren nicht im Detail geschildert werden. (11)
Gleichwohl macht es Sinn, auf einige typische Merkmale einzugehen, die mit der konsensualen Politikverständnis der Irokesen zusammenhängen. So waren die Sprecher der indianischen Seite, im Gegensatz zu dem, was sich die europäischen Verhandlungspartner oft vorstellten, in der Regel keine besonders hervorgehobenen Autoritäten.
Vielmehr verlautbarte ein Sprecher, ohne dass er dabei unterbrochen werden durfte, im gepflegten Redestil der Bundesratsversammlungen lediglich eine ihm im genauen Wortlaut aufgetragene Botschaft. Wechselte der Gegenstand der Verhandlung, wurde der Sprecher nicht selten durch einen anderen ersetzt.
Wenn der erste Sprecher der einen Seite des Feuers seine Rede beendet hatte, durften die Zuhörer von der anderen Seite des Feuers Verständnisfragen stellen. Schließlich ergriff ihr eigener Sprecher das Wort, um durch einen Dolmetscher zu verkünden, dass seine Gruppe sich nun zur Beratung einer Antwort zurückziehen werde. Eine solche Besprechung dauerte gewöhnlich den Rest des Verhandlungstages. Unüblich war es, eine Antwort noch am gleichen Tag zu überbringen. Die Herstellung einer konsensualen Antwort gebot vielmehr, eine Nacht über den Sachverhalt zu schlafen, um am nächsten Morgen mit einer Stimme sprechen zu können.
Die Antwort hielt sich dann eng an die Form der ursprünglichen Vorschläge. Jeder einzelne Punkt wurde noch einmal zusammengefasst und dann jeweils einzeln beantwortet. Waren alle Vorschläge der ersten Seite beantwortet, durfte die zweite ihrerseits eigene Vorschläge machen, die wiederum auf die gleiche Weise beantwortet wurden.
Neue Vorschläge konnten während einer laufenden Ratsverhandlung zwar noch unterbreitet werden: Ob sie während der laufenden Konferenz noch beantwortet wurden, stand jedoch auf einem anderen Blatt, denn sie verlangten unter Umständen erst eine lange Phase der Konsensfindung im Häuptlingsrat. Manche Verhandlungen, aus denen die kolonialen Vertreter bindende Verpflichtungen ableiteten, hatten die Irokesen als bloße Vorgespräche angesehen, bei denen die Ansichten der beiden Parteien erstmals zu Gehör gebracht wurden. Wurde auf der irokesischen Seite über einen bestimmten Punkt im Vorfeld einer Vertragsverhandlung keine Einigung erreicht, beauftragte man die Unterhändler damit, zwar an einer bereits verabredeten Konferenz teilzunehmen, vor einer bindenden Vereinbarung aber erst den heimischen Konsens einzuholen. Ein „Vertrag“ galt erst dann als gültig, wenn die Gesandten genau nach ihrer Anweisung gehandelt hatten. Waren sich die Gesandten der Zustimmung der Daheimgebliebenen nicht sicher, wurden die laufenden Verhandlungen unterbrochen, bis deren Meinung eingeholt worden war. Den Gesandten der Kolonialmächte kamen die irokesischen Methoden der Konsensfindung sehr langwierig und umständlich vor. Sie mussten sich an den anderen Zeittakt ihrer indianischen Gegenüber gewöhnen, die für kalendergewohnte europäische Augen ungenaue Zeitangaben machten, sich nicht selten verspäteten und wichtige Angelegenheiten mit einer Bedächtigkeit angingen, die koloniale Politiker nervös machte.
(1) Titel: Das Attribut "egalitär" ist dabei wichtig: erstens, um die Konfusion mit einer in der gegenwärtigen Politikwissenschaft üblichen Bezeichnung A. Lijpharts (consensus democracy) für eine besonders verhandlungsbetonte Ausgestaltung des parlamentarischen Systems zu vermeiden, und zweitens, um den sehr wichtigen Umstand zu betonen, dass eine Voraussetzung für das Funktionieren dieser Konsensdemokratie in der weitgehenden ökonomischen und sozialen Gleichheit ihrer Mitglieder bestand.
(2) Ralf Burnicki: Anarchismus und Konsens. Frankfurt a.M. 2002; Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden (Hrsg.): Konsens. Handbuch zur gewaltfreien Entscheidungsfindung. Karlsruhe 2004.
(3) Nienhuysen, Frank: Ahnenkult als Endstation. Ortstermin im "Land, in dem das Rebhuhn seine Schwingen schlägt", in: Süddeutsche Zeitung, 27./28.6.1998, S. 10.
(4) Die Bezeichnungen "Native Americans" oder "First Nations" für "Indians" haben sich im politisch korrekten Sprachgebrauch der USA und Kanadas mittlerweile durchgesetzt.
(5) Wenn Nienhuysen auf die von den traditionellen Mohawks angeblich nicht genügend gewürdigten Bemühungen der kanadischen Regierung verweist, den Indianern mehr Selbstständigkeit zu gewähren, dann blendet er zugleich aus, dass jenes Interesse der kanadischen Regierung an "ihren" Mohawks mit dem jüngsten Mohawk-Aufstand von 1990 in Oka zusammenhängt. Die Revolte war gerade von jenen traditionalistischen Einstellungen der Akteure genährt worden, die den Mohawk angeblich den Weg in die Moderne versperrten.
(6) Elizabeth C. Stanton , Matilda J. Gage und weitere "Suffragetten" pflegten im Staat New York des 19. Jahrhunderts Freundschaften mit irokesischen NachbarInnen und lernten von ihnen, dass es zur rechtlosen Stellung der Frau in den USA eine reale Alternative gegeben hat. Für die indianischen Menschen auf den Reservationen sahen sie aber nur die Möglichkeit einer Assimilation an die moderne Gesellschaft der USA. Vgl. für eine Analyse dieser paradoxen Beziehung: Thomas Wagner: Irokesen und Demokratie. Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommunikation. Münster 2004, S. 181-92.
(7) Als einfachste Lösung bei fortdauerndem Dissens in wichtigen Fragen bot sich dann eine Spaltung der Siedlung in mehrere unabhängige Dörfer an. Kriegerische Aktivitäten, Veränderungen im Pelzhandel, die besondere Reputation eines Anführers oder Familienstreitigkeiten haben zuweilen den Zu- oder Wegzug von Familiengruppen motiviert und auf diese Weise zur Regulierung der Gruppengröße beigetragen.
(8) Todesfälle drohten die Gemeinsamkeit von Bündnissen oder Verträgen zu untergraben, konnten sie doch der jeweils anderen Seite zur Last gelegt werden und daher aggressive Handlungen motivieren.
(9) Die Covenant Chain galt den indianischen Gesandten als ein Bündnis von gleichgestellten Partnern. Die englischen Kolonien beanspruchten als Vertreter des Königreichs zwar ihrerseits die Vorherrschaft, konnten sie aber bis zum Unabhängigkeitskrieg nicht gegen den Irokesenbund durchsetzen.
(10) Von den aufwändigen Verhandlungsritualen und den Symbolen der Forrest Diplomacy geben Cadwallader Coldens Buch "The History Of The Five Indian Nations" (1727) und die von Benjamin Franklin als "Indian Treaties" publizierten Vertragsprotokolle ein beredtes Zeugnis.
(11) Wagner a.a.O., S. 95-106.
Anmerkungen
Teil 2 dieser Serie erscheint in GWR 298