antifaschismus

8. Mai 1945 – ein Tag der Befreiung?

Ein subjektiver Rückblick

| Arno Klönne

Inzwischen hat sich die politische Klasse in der Bundesrepublik auf die Sprachregelung geeinigt, die Richard von Weizsäcker längst schon vorgegeben hatte: Das Datum der Kapitulation Hitler-Deutschlands ist historisch zu deuten als "Tag der Befreiung". Nur gelegentlich fällt heute noch ein deutscher Politiker aus der Rolle und spricht, wenn es um das Frühjahr 1945 und das Ende des "Dritten Reiches" geht, von "Niederlage" oder "Zusammenbruch". Volkstümlicher freilich ist, wie der Erfolg des gleichnamigen Filmes zeigt, der Begriff vom "Untergang"; er lässt vielerlei Gefühlsregungen zu, auch raunendes Bedauern.

Der 8. Mai 1945 als „Tag der Befreiung“?

Die Länder, die der deutsche Faschismus mit seiner Kriegsmaschinerie und seinen brutalen Zugriffen überzogen hatte, waren nun, sozusagen in aller Form, von diesem expansiven Herrschaftsanspruch befreit. Und befreit war das europäische Judentum, soweit es noch die systematischen Mordtaten des hitlerdeutschen Staates hatte überleben können, vom Vernichtungswillen der „Herrenrasse“. Befreit waren die Überlebenden in den Gefangenenlagern, in den KZs und Todesfabriken, die politischen Häftlinge in Zuchthäusern. Aber was war mit der großen Mehrheit der Deutschen? Objektiv, mit dem Blick auf die Geschichte politischer Systeme, lässt sich der 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung auch für die deutsche Gesellschaft kennzeichnen – sie war von ihrem faschistischen und rassistischen Staatswesen befreit.

Aber wenn man an die Subjekte denkt, die damals lebenden und agierenden Deutschen in ihrer Majorität, dann lenkt der Begriff „Befreiung“ von der historischen Realität ab, verdeckt die unangenehme Wirklichkeit, wirkt auf sehr fragwürdige Weise selbstentlastend. Vermutlich hat dies dazu beigetragen, dass die Formulierung von der „Befreiung“ hierzulande an Akzeptanz gewonnen hat.

Mit ihrer Hilfe lässt sich eine Legende am Leben erhalten, die gleich aber 1945 – quer durch die politischen Gruppierungen – im deutschen Diskurs hochbeliebt war: Es sei eine „kleine Clique von Politkriminellen“ gewesen, die sich ab 1933 „das deutsche Volk unterworfen“ und „im deutschen Namen“ Unheil über die Welt und dann über Deutschland selbst gebracht habe.

Ganz gewiss ist diese Lesart der Geschichte des „Dritten Reiches“ und des Zweiten Weltkrieges längst durch vielerlei historische Forschungen und Dokumentationen widerlegt, aber dennoch hält sie sich zäh im Geschichtsbewusstsein, und die derzeit modische Erzählung von den „deutschen Opfern“, den Bombardierten und Vertriebenen, gibt dem neue Nahrung; sie tritt ja nicht nur in ihrer neonazistischen Version auf, sondern auch in einer, die als verfassungskonform gilt. Da erscheint dann das „deutsche Schicksal“ von 1933 bis 1945 als Werk von „Gewalthabern“ und „Verführern“ – eine Deutung, die mit dem neuen deutschen Patriotismus gut vereinbar ist.

Die Deutschen 1945 – fühlten sie sich befreit, hatten sie die Befreiung erhofft? Oder gar selbst etwas für diese Befreiung getan?

Selbstverständlich gab es „die“ Deutschen nicht. Es gab deutsche KommunistInnen, LinkssozialistInnen, AnarchistInnen, auch manche SozialdemokratInnen und einige Konservative, Liberale oder AnhängerInnen anderer bürgerlicher Po1itikprogrogramme, auch etliche antifaschistische oder pazifistische ChristInnen, die seit jeher GegnerInnen des „Dritten Reiches“ gewesen waren und die Verfolgung durch das Nazi-Regime überstanden hatten. Sie hatten auf Befreiung gehofft, viele von ihnen auch von innen her versucht, zur Niederlage Hitler-Deutschlands beizutragen. Andere von ihnen, die ins Exil hatten gehen müssen, hatten sich von außen an diesem Versuch beteiligt. Der deutsche Widerstand allerdings, in welcher Form auch immer, war nicht imstande gewesen, dem „Dritten Reich“ ein Ende zu machen. Dessen Sturz wurde machtpolitisch allein von außen her bewirkt, durch die militärischen Kräfte der Alliierten.

Ferner gab es einige Angehörige der deutschen Funktionseliten, die zunächst dem „Dritten Reich“ gedient, dann aber dessen Spitze auszuschalten versucht hatten. Einige kamen mit dem Leben davon, und sie konnten sich nach dem Sieg der Alliierten befreit fühlen. Aber diese Art der Befreiung hatten sie mit ihrem Widerstand nicht herbeiführen wollen, die Niederlage Deutschlands hatten sie nicht gewünscht.

Und dann gab es Deutsche, gar nicht so wenige, die ohne dieses oder jenes politische Programm im Laufe des Krieges zu Verweigerern geworden waren, im Extremfall: zu Deserteuren. Es gab auch junge Leute, die sich dem „Dienst für das Volk“ an der „Heimatfront“ verweigerten, sogenannte Edelweißpiraten oder Swing-Jugendliche zum Beispiel, auch solche, die aus der illegalen bündischen Szene kamen. Einige davon hatten sich zum aktiven Widerstand entschlossen.

Soweit solche Menschen Krieg und Verfolgung überstanden hatten, fühlten auch sie sich 1945 befreit.

Aber bei alldem handelte es sich um Minoritäten. Die Mehrheit der Deutschen war bis zum bitteren Ende regimekonform geblieben, aus unterschiedlichen Motiven: weil sie (mitunter bei Vorbehalten in dieser oder jener Frage) das faschistische System und seinen Krieg für erfolgsträchtig hielten, weil sie vom „Dritten Reich“ profitierten, weil sie rassistischen Weltbildern anhingen, weil sie militaristisch geprägt waren, weil sie staatsgläubig waren, weil sie Widerspruch nie gelernt hatten, usw. usf.; da gab es mancherlei Motivbündel.

Diese Mehrheit der Deutschen hatte auch 1945 mit „Befreiung“ nichts im Sinn, viele waren zum Schluss des Systems erleichtert, dass die Strapazen des Krieges vorbei waren, andere – und nicht wenige – hofften bis kurz vor dem Abgang des „Führers“ noch auf eine militärische Wende.

Und selbst in den Tagen vor dem 8. Mai gab es noch zahlreiche Deutsche, die damit rechneten, dass die Koalition wechseln werde – die westlichen Alliierten nun gemeinsam mit den Deutschen gegen den „bolschewistischen Hauptfeind“…

So ergab sich denn, nimmt man „Befreiung“ beim Wort, nach dem 8. Mai 1946 eine höchst eigentümliche historische Situation:

Die „Befreiten“, in ihrer Majorität jedenfalls, mussten durch alliierte Militärverwaltungen, durch Besatzungsmacht also, davon abgehalten werden, ihre wirklichen Gefühle und Ideologien frei zur Geltung zu bringen.

Die „Befreier“ wiederum, auch da ist eine realistische Sicht der Geschichte zu empfehlen, führten den Krieg gegen Hitler-Deutschland nicht etwa (wie neulich in einem Leitartikel der „Frankfurter Rundschau“ zu lesen war) „zur Befreiung Deutschlands“. Sie hatten andere Sorgen, andere Motive.

Erstens waren ihre Länder vom Deutschen Reich angegriffen worden, besonders brutal die UdSSR, in deren Terrain Hitler-Deutschland riesige Eroberungen machen wollte, in riesigem Umfange Bevölkerung zu eliminieren gedachte und dann in der Tat in extremer Weise das Land verheerte und Menschen zu Tode brachte. Der Krieg wurde vom Westen wie vom Osten her gegen das „Dritte Reich“ geführt, um dessen Aggression abzuwehren oder die Aggressoren wieder zu vertreiben. Und zugleich wurde angezielt, durch den militärischen Sieg einen Zustand herbeizuführen, der zukünftige deutsche Aggressionen gegen die Alliierten ausschließen sollte.

Als Nebenabsichten wurden dabei aber auch imperiale Ziele im Konflikt der Westmächte und der UdSSR wirksam, das Bündnis gegen Hitler-Deutschland war eine Einigung auf Zeit und auf einen spezifischen Zweck hin, es betraf nicht die Vorgehensweise nach dem Sieg über den deutschen Faschismus. Eben deshalb kam es in den Westzonen nach dem Mai 1945 ziemlich bald dazu, dass die vom Faschismus „befreiten“ Deutschen frei genug wurden, bestimmte ideologische Teilstücke und personelle Bestände aus der faschistischen Zeit weiterzutradieren oder wiederzuverwenden, insbesondere dazu, die Front gegen den „Osten“ im Kalten Krieg zu stärken. Der Antibolschewismus des „Dritten Reiches“ wurde leicht variiert wieder genutzt, teils auch als Antirussismus und als genereller Antisozialismus, und in der Bürokratie, Justiz, Ideologieproduktion und dann im neu gebildeten Militär konnten Leistungsträger aus dem faschistischen System weiter ihre Arbeit tun. Auch die ehemaligen Wehrwirtschaftsführer waren bald wieder im Geschäft. Sie alle waren „befreit“ zur Wiederverwendung, ganz zu schweigen von ehemaligen SD-Leuten, die nun Dienste für die westlichen Geheimapparate verrichteten.

Nicht so, als sei die 1949 errichtete Bundesrepublik ein westlich verkleidetes Nazi-System gewesen – aber es gab viele Linien der Kontinuität zwischen den gesellschaftlichen Strukturen im Deutschen Reich vor 1945 und in Westdeutschland nach 1945, mit Folgen bis in die Gegenwart hinein.

Auch in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR bedienten sich die Militärverwalter und dann die deutschen Führungsgruppen der Nützlichkeit ehemaliger faschistischer Funktionäre, allerdings geschah dies individuell, die Funktionseliten generell wurden ausgewechselt. Viele Leistungsträger aus der Zeit vor 1945 wanderten ab nach Westdeutschland. Und die DDR, deren staatliche Existenz teils der hitlerdeutschen Niederlage, teils der vom Westen betriebenen Verhinderung einer gesamtdeutschen Lösung zuzuschreiben war, definierte sich historisch als Produkt eines deutschen Antifaschismus. Das aber war sie nicht, auch wenn deutsche GegnerInnen des faschistischen Staates beim Aufbau der DDR mitwirkten. Wenn heute in Ostdeutschland neonazistische Gruppierungen ihren Boden finden, so verweist dies auf untergründige Tradierungen auch hier (was nicht heißt, faschistische Mentalitäten seien eine ostdeutsche Besonderheit).

Fazit: In ihrer Mehrheit waren die Deutschen 1945 nicht in einer mentalen politischen Verfassung, die dem Begriff ihrer „Befreiung“ vom Faschismus recht geben könnte, selbst wenn eine solche das Kriegsmotiv der Alliierten gewesen wäre.

Mentalitätsgeschichtlich und in der gesellschaftlichen Realität musste und muss immer noch eine Befreiung von faschistischen Erbschaften nachgeholt werden; auch der Wechsel der Generationen besorgt dies nicht von selbst. Und nach wie vor ist die Anfälligkeit für faschistische Denkweisen und Praktiken kein deutsches Spezifikum, auch wenn die rassistische Ausrichtung und das Ausmaß der Staatsverbrechen im deutschen Faschismus historisch singulär waren.

Anmerkungen

Prof. Dr. Arno Klönne (*1931) lehrte Soziologie an der Universität Paderborn. Er ist Autor u.a. des Standardwerks "Jugend im Dritten Reich" (PapyRossa-Verlag 2003).