Mehrere hunderttausend Menschen fielen den nationalsozialistischen Psychiatrieverbrechen im Zeichen der "Rassenhygiene" und der "Vernichtung lebensunwerten Lebens" zum Opfer. Paul Brune überlebte die Mordaktionen der NS-Psychiatrie. Der 8. Mai 1945 war für ihn aber noch nicht die Befreiung. Als angeblicher "Psychopath" blieb er auch nach Kriegsende gegen seinen Willen in der Psychiatrie und musste erleben, dass die Misshandlungen an PatientInnen dort weiter gingen. Robert Krieg und Monika Nolte zeichnen am biographischen Beispiel Paul Brunes die Geschichte der NS-Psychiatrie und deren Kontinuitäten nach (GWR-Red.).
„Schau Dir das mal an“, war der knappe Kommentar von Paul Wulf (1), als er mir Anfang der 80er Jahre knapp siebzig eng beschriebene Schreibmaschinenseiten überreichte. Es handelte sich um die Petitionsschrift eines Paul Brune, die dieser 1966 an den Petitionsausschuss des Landtages von Nordrhein-Westfalen gerichtet hatte.
Paul Wulf hatte ich als engagierten Antifaschisten und Verfolgten des Naziregimes während meiner Studienzeit in Münster/Westfalen kennen gelernt.
Im Laufe der Jahre war er ein Freund geworden.
Wie keinem Zweiten gelang es ihm immer wieder, Dokumente aus Archiven ans Tageslicht zu holen, die eigentlich unter Verschluss bleiben sollten. So auch das Petitionsgesuch Paul Brunes. Ich traute meinen Augen nicht und wollte das Gelesene kaum glauben. Zu viel Unrecht war hier einem einzelnen Menschen zugefügt worden. Hätte ich nicht bereits die Geschichte von Paul Wulf vor Augen gehabt, der als „rassisch Minderwertiger“ von den Nazis zwangsweise sterilisiert worden war, hätte ich den Text von Paul Brune als Fantasieprodukt zur Seite gelegt.
Als achtjähriger Schuljunge entging er nur knapp der Ermordung durch Nazi-Ärzte und sollte noch in den 50er Jahren als gefährlicher „Psychopath“ für immer hinter Anstaltmauern verschwinden. Weder Paul Wulf noch mir gelang es damals, Paul Brune ausfindig zu machen, und so geriet sein Bericht allmählich wieder in Vergessenheit.
Ende 2002 fiel der Bericht mir wieder in die Hände. Paul Wulf war inzwischen verstorben.
Mein erneuter Versuch, Paul Brune ausfindig zu machen, verlief ergebnislos. Im Januar 2003 von einer Reise zurückgekehrt, bewog mich ein unbestimmtes Gefühl, den Stapel Zeitungen, der sich während meiner Abwesenheit aufgehäuft hatte, nach wichtigen Artikeln durchzublättern. Ich stieß auf eine lange Reportage über Paul Brune. Der Landtag von Nordrhein-Westfalen hatte ihn offiziell als Verfolgten der Nazi-Psychiatrie anerkannt. Nun war es ein Leichtes, seine Adresse herauszufinden. Paul Brune war bereit, sich mit mir zu treffen. Bei unserer ersten Begegnung stellten wir fest, dass wir uns bereits anlässlich der Gedenkfeier für Paul Wulf 1999 schon einmal kurz gesprochen hatten. Paul Wulf und Paul Brune hatten sich einige Jahre zuvor während einer Veranstaltung für die Ermordeten der Heilanstalt Dortmund-Aplerbeck kennen gelernt. Vor mir saß der Mann, dessen Petitionsschrift mir so ungeheuerlich vorgekommen war.
Mir wurde klar, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, einen Dokumentarfilm über das Schicksal Paul Brunes zu machen. Eine Aufgabe, die mir Paul Wulf viele Jahre zuvor gestellt hatte.
Für mich war dieses Vorhaben gleichzeitig eine nachträgliche Verbeugung vor der lebenslangen Anstrengung Paul Wulfs, die Erinnerung an das Schicksal der Opfer von Zwangssterilisation und Euthanasie wach zu halten. Die spürbare Diskriminierung, zum „rassisch Minderwertigen“ gezählt zu werden, der namenlose Schrecken, als „schwachsinnig“ und „erblich untauglich“ eingestuft zu werden, ist den noch lebenden betroffenen Menschen auf die Haut geschrieben und in die Seele eingebrannt. Aus Furcht und Scham sind sie in die Anonymität geflüchtet. Bis heute leben sie in der Angst, erneut den Finger der Denunziation auf sich gerichtet zu sehen. Nur ganz wenige sind aus der Sprachlosigkeit herausgetreten und haben ihr Recht eingeklagt. Zu ihnen gehören Paul Wulf und Paul Brune, dessen Leben und Kampf hier dokumentiert wird. Paul Brune ist es gelungen, in seiner Petitionsschrift das Unvorstellbare in Worte zu fassen.
1935 wird er in Altengeseke am Rande des Sauerlandes geboren. Er ist das Kind einer außerehelichen Beziehung seiner Mutter. Während ihr Mann, ein einfacher Arbeiter, nachts in die Zementwerke in Geseke arbeiten geht, trifft sie sich heimlich mit dem Sohn eines reichen Bauern. Der betrogene Ehemann misshandelt seine Frau wegen ihres Seitensprungs so schwer, dass sie sich und drei ihrer Kinder im Dorfteich zu ertränken versucht. Ein Kind stirbt, und die Verwandten der Mutter erklären sie für geistesgestört, um sie vor dem drohenden Todesurteil wegen Kindesmord zu bewahren. Die Mutter wird in eine „Irrenanstalt“ eingewiesen und zwangssterilisiert, die Kinder werden auf Heime verteilt.
Paul kommt als Einjähriger in das katholische Waisenhaus Lippstadt, das von Vinzentinerinnen geführt wird. Strenge Zucht herrscht dort. Stillsitzen und stillschweigen, tagein, tagaus. Der aufgeweckte kleine Paul aber will spielen, will seine Umgebung erforschen. Für die Nonnen ist er die Frucht der Sünde. In der Horst Wessel-Schule erfährt der Schulrektor Josef Sasse, ein überzeugter Faschist und Anhänger der „Rassenhygiene“, durch die Nonnen von der Vorgeschichte Paul Brunes. Sasse stellt einen Antrag auf Erfassung und Begutachtung nach dem „Euthanasie“-Erlass.
Paul Brune wird dem Gutachter Dr. Heinrich Stolze vorgeführt. Er ist Mitglied der NSDAP und mitverantwortlich für die Transporte der Kranken aus Westfalen in die Vernichtungslager.
Stolze untersucht Paul nicht.
Ihm genügen die Tatsache, dass Pauls Mutter zur „geisteskranken Epileptikerin“ erklärt wurde, und die Angaben des Schuldirektors Sasse, um festzustellen: „Verbleiben in der Schule und dem Kinderheim wegen des ausgesprochen asozialen Verhaltens nicht möglich. Der Untersuchte ist wegen Geisteskrankheit anstaltspflegebedürftig.“ Das bedeutet in dieser Zeit höchste Todesgefahr.
Paul Brune ist acht Jahre alt, als er in die „Kinderfachabteilung“ der Heilanstalt Dortmund-Aplerbeck gebracht wird. Der kleine Junge weiß nicht, dass sich hinter dem Begriff „Kinderfachabteilung“ eine Mordanstalt verbirgt. Hier werden Kinder begutachtet und die zur Tötung ausgewählten Kinder direkt umgebracht.
Der Anstaltsdirektor Dr. Fritz Wernicke ist meist nicht anwesend. Er selektiert für die Vernichtung im Osten. Sein Stellvertreter Dr. Theo Niebel, bekannt als Alkoholiker, leitet die Kinderfachabteilung und das Morden. Wie viele Kinder in der Anstalt Aplerbeck umgebracht worden sind, lässt sich bis heute nicht genau feststellen.
Zu den Methoden der Nazi-Ärzte gehört die Untersuchung des Hirnwassers. Damit wollen sie den „Ballastexistenzen“ einen „Wasserkopf“ nachweisen. Die berüchtigte Lumbalpunktion geht so vor sich: Eine Schwester klemmt Pauls Kopf zwischen ihre Oberschenkel. So ist er gefesselt, wehrlos gemacht. Dann setzt Niebel die Spritze ins Rückenmark an.
Paul Brune entgeht nur knapp der Vernichtung. Wahrscheinlich haben seine guten schulischen Leistungen ihn gerettet. In einem Gutachten heißt es: „Er macht den Eindruck eines normal begabten Kindes… Der Junge ist keinesfalls hilfsschulbedürftig.“ Doch das positive Gutachten ändert nichts mehr an dem einmal gefällten ärztlichen Urteil: „Geisteskrank“. Paul Brune wird 1943 in die „Idiotenanstalt“ St. Johannesstift in Marsberg im Sauerland verlegt.
Die nächsten zehn Jahre verbringt er in der ‚Obhut‘ der „Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vincenz von Paul“. Um ihn herum Hunger, Gewalt, Missbrauch und Tod. Nichtigkeiten werden mit Prügel, Kaltwasserbädern, Essensentzug und Zwangsjacke bestraft. Die anstaltseigene Schule ist eine reine Verwahranstalt. Die Nonnen stehen auf dem Standpunkt, dass Wissen schädlich sei, dass es die Kinder verderbe. So wird meist nur gebetet. Auch für Führer, Volk und Vaterland beten die Kinder. Am Morgen begrüßen sie die Nonnen: „Heil Hitler, Grüß Gott, Schwester – mit Jesus und Maria!“ Die Hände an der Hosennaht und stramm gestanden. Paul Brune ist doppelt ausgeliefert: Nach der Ideologie des Nationalsozialismus gilt er als „lebensunwertes“ Leben. Und nach den mittelalterlichen Vorstellungen von Teilen der katholischen Kirche ist er als Geisteskranker vom Teufel besessen. Ein von den Nazis bestelltes Gutachten des Paderborner Moraltheologen Joseph Mayer (2) rechtfertigt die Tötung von Geisteskranken.
Als Paul Brune in das St. Johannes-Stift kommt, ist die erste, zentral organisierte Phase der Euthanasie vorüber. Es entstand zu viel Beunruhigung in der Bevölkerung. In Marsberg verteilen Mitglieder der katholischen Gemeinde Flugblätter mit Predigten des Münsteraner Bischofs von Galen. Der protestiert gegen die Euthanasie-Aktion.
In den Anstalten geht das Morden dennoch weiter: durch Medikamente, Hunger und Gewalt. Paul Brune erlebt, wie die Essensrationen von Tag zu Tag kleiner werden. Viele seiner Leidensgenossen verhungern im wahrsten Sinne des Wortes. Er selbst überlebt, weil er noch kräftig genug ist, sein Essen selbst zu suchen. Die Kinder gehen mit großen Waschkörben die Waldränder und Straßengräben entlang, um Geißfuß zu pflücken. Dieses Unkraut wächst von April bis Oktober. Es wird in großen Kesseln mit etwas Salz gekocht. Das ist dann die Nahrung. Hin und wieder kommen ein paar Kartoffeln dazu. Wer nicht genug arbeitet, dem wird das Butterbrot entzogen.
Daran ändert sich auch nach 1945 nichts. Paul Brune fragt sich bis heute, wie er diese Kinderhölle überlebt hat. Von 1943 bis Anfang der 50er Jahre sind rund 400 Kinder in der Anstalt St.-Johannes-Stift gestorben.
Paul Brune sieht selbst mit an, wie auch nach 1945 Kinder an den von Pflegern und Aufseherinnen zugefügten Verletzungen sterben.
Die Ärzte, unter denen Paul Brune gelitten hat, müssen nach 1945 nicht büßen. Der Gutachter Dr. Stolze wird in einem Prozess freigesprochen. Obwohl er erwiesenermaßen an der Verlegung von Kranken in die Tötungsanstalten beteiligt war, geht man von einer Unschuldsvermutung aus. Er sei sich zum Zeitpunkt des Verbrechens nicht über die „Unrechtmäßigkeit seines Tuns“ im Klaren gewesen. Ein Persilschein, mit dem sich in der Nachkriegszeit zahlreiche Ärzte reinwaschen konnten. Dr. Niebel und Dr. Wernicke, die in Dortmund-Aplerbeck für die Kindermorde verantwortlich waren, praktizieren unbehelligt weiter. Dr. Niebel bleibt einer der verantwortlichen Ärzte in der Anstalt Dortmund-Aplerbeck.
An der Lage der Eingeschlossenen ändert sich nichts. An einen Neuanfang oder gar die erhoffte Freiheit ist nicht zu denken. Paul Brune gilt nach wie vor als „anstaltspflegebedürftig“. Das hindert den neuen Direktor nicht daran, ihn regelmäßig nach dem Mittagessen in sein Büro kommen zu lassen.
Er ist nicht der Einzige, der Paul Brune regelmäßig sexuell missbraucht.
Als 15jährigen gibt ihn die Anstalt zu einem Bauern im Sauerland in „Familienpflege“. Der ist hocherfreut über die billige Arbeitskraft aus der Anstalt und beutet ihn nach Strich und Faden aus. Bis zu 15 Stunden täglich muss Paul Brune arbeiten, für ein winziges Taschengeld. Er fühlt sich wie ein Aussätziger. Wenn fremde Knechte im Dorf auftauchen, die „Familienpfleglinge“, weiß jeder, dass sie aus der „Idiotenanstalt“ kommen.
Alle tragen die gleiche Anstaltskleidung. Jeder erkennt sie sofort. Irgendwann hält Paul Brune die Misshandlungen des Bauern nicht mehr aus. Er versucht, sich mit E 605 das Leben zu nehmen.
Er wird zurück in die Anstalt verlegt.
Dieses Mal landet er „zur Strafe“ in der geschlossenen Station für die schwerstbehinderten Kinder. Im Anstaltsjargon heißt sie „der Schutthaufen“. Trotz der unmenschlichen Verhältnisse und sadistischen Quälereien auf dieser Station gibt Paul Brune nicht auf. Bei einem seiner Fluchtversuche schlägt er sich nach Altengeseke zu seiner Familie durch. Onkel und Tante wollen ihn aufnehmen, aber die Anstalt lässt ihn wieder abholen.
Schließlich wird er in die geschlossene Anstalt Marienthal nach Münster gebracht, wo er für immer hinter Anstaltsmauern verschwinden soll. Dort aber findet er einen Menschen, der ihm hilft: ein katholischer Priester, der wegen Kindesmissbrauchs verurteilt ist. Er kümmert sich um Paul, bringt ihm das Schachspiel bei, besorgt ihm Bücher und schreibt Briefe für ihn. Auch an das Vormundschaftsgericht. Und das hat erstmals Folgen. Paul Brune wird aus der geschlossenen Anstalt erneut in Familienpflege entlassen.
Nach weiteren vier Jahren Knechtschaft auf einem Bauernhof erreicht Paul Brune schließlich, dass das Vormundschaftsgericht seine Entmündigung aufhebt. Es ist das Jahr 1957. „Ich habe Glück gehabt“, sagt Paul Brune, „es hätte alles noch viel schlimmer kommen können. Was ist Niedermarsberg gegen Auschwitz?“
Paul Brune kämpft. Er schlägt sich als Hilfsarbeiter durch und nutzt jede freie Minute zum Lernen. Immer wieder versucht er durch Petitionen, eine Entschädigung zu erreichen und auf die in den Anstalten verübten Verbrechen hinzuweisen. Vergeblich. Irgendwann in dieser Zeit ist ein Vermerk in seine Akte gekommen. Paul Brune sei ein „unverbesserlicher Querulant, der die Behörden belästigt“.
Vor allem kämpft er um das Recht, die ihm verweigerte Bildung nachzuholen. Es gelingt ihm, das Abitur zu machen. Anfang der 70er Jahre, mit 36 Jahren, beginnt er an der Bochumer Universität das Studium der Germanistik und Philosophie.
Er will Lehrer werden. Kurz vor Ende seines Studiums läuft sein Bafög aus, er beantragt Sozialhilfe, um sein Examen machen zu können. Er erhält eine Vorladung zum Gesundheitsamt. Der Psychiater vom Dienst Dr. Johannes John ist berüchtigt für seine 3-Minuten-Diagnosen und willkürlichen Zwangseinweisungen nach Eickelborn. Eine Beschwerdestelle Psychiatrie kämpft gegen den Amtsmissbrauch des ehemaligen Leiters des westfälischen Landeskrankenhauses Eickelborn. Diese Anstalt gilt bis in die 80er Jahre hinein als eine der berüchtigsten Psychiatrien der BRD.
John lässt sich Unterlagen kommen. Da ist sie wieder, die Irrenhausakte, die Paul Brune sein Leben lang begleitet. Für den Amtsarzt ist Paul Brune ein „Schulbeispiel für asoziales Verhalten infolge Erbanlage“. Paul Brune muss vor Gericht gehen, um sein Referendariat machen und das zweite Staatsexamen ablegen zu können. Psychiatrischer Gutachter in diesem Prozess ist Prof. Paul Bresser (3), leitender Gerichtspsychiater in Köln. An dessen „Psychopathenwissenschaft“ haben Fachkollegen vernichtende Kritik geübt. Bresser ist berüchtigt für seine Gegengutachten, wenn psychiatrische Gutachter auf verminderte Schuldfähigkeit plädieren oder Straftäter vorzeitig aus der Haft entlassen werden sollen. Paul Brune muss sich einer erniedrigenden Begutachtung stellen. Ebenso wenig wie Dr. John interessiert Prof. Bresser der Lebensweg von Paul Brune.
Er ordnet ihn der Gruppe der „Degenerierten“ zu. Möglicherweise habe Paul Brune „früher einmal einen schizophrenen Erkrankungsschub durchgemacht“. Für den Dienst im Lehramt sei er nicht geeignet. Der Anwalt Paul Brunes weigert sich, ihm das Gutachten zu geben. Es sei zu schlimm. Wenn er damals das Gutachten gekannt hätte, sagt Paul Brune heute, dann hätte er aufgegeben. So aber kämpft er weiter und gewinnt den Prozess. Er schließt sein Studium erfolgreich ab. In den Schuldienst wird er nicht übernommen. Die erste Lehrerschwemme zu Beginn der 80er Jahre entbindet das Schulamt von jeder weiteren Begründung.
Paul Brune hat überlebt. Aber das Stigma, einmal als „lebensunwert“ abgestempelt zu sein, begleitet ihn ein Leben lang.
Seine kleine Wohnung in einem Hochhausviertel nahe der Bochumer Uni ist über und über voll mit Büchern. Von Spinoza über Noam Chomsky bis zu den Erinnerungen von Claire Goll ist alles da, was man sich zu lesen wünscht. Auf dem liebevoll gepflegten Balkon blühen die ersten Hyazinthen.
„Sie haben ein unwahrscheinliches Glück gehabt, Herr Brune, dass Sie überhaupt lebendig aus dieser Schlangengrube herausgekommen sind. Ihre Akte ist ungeheuerlich. Sie müssten ein Monstrum sein, das es gar nicht gibt. Alle Geisteskrankheiten, welche es gibt, hat man Ihnen angehängt. Von den Verdammungsurteilen ganz zu schweigen“, sagt 1966 eine Nervenärztin zu Paul Brune. Sie macht ihm Mut, sich mit aller Kraft gegen die an ihm begangenen Verbrechen zu wehren und für die Wiederherstellung seiner Würde zu kämpfen. Insgesamt fünf Petitionen verfasst er im Laufe der Jahre. Jahrzehntelang streiten die zuständigen Behörden jede Verantwortung ab und ziehen die minutiös festgehaltenen Erlebnisse grundsätzlich in Zweifel. Bei seiner letzten Eingabe im Jahr 2000 wird er aktiv von zwei Abgeordneten des Landtags unterstützt. Nach zwei weiteren Jahren ist der Petitionsausschuss zu der Überzeugung gelangt, dass „der Petent ein nationalsozialistisches Verfolgungsschicksal erlitten hat“. Er „empfiehlt der Landesregierung …, eine laufende Beihilfe zu bewilligen“.
Im Jahr 2003, nach 60 Jahren, wird Paul Brune als Verfolgter des Nazi-Regimes anerkannt.
Kaum einem Opfer der Nazi-Psychiatrie ist das gelungen.
Nun erhält er monatlich etwa 260 Euro, die höchstmögliche Entschädigung, die das Land Nordrhein-Westfalen bereit ist, an einen Überlebenden der nationalsozialistischen Psychiatrieverbrechen zu zahlen.
Paul Brune hat seinen Kampf schließlich doch noch gewonnen. Aber es bleiben bittere Fragen: Wie viel kostet die Lebenszeit, die ein Mensch einem solchen Alptraum opfern musste? Wie war es möglich, dass die menschenverachtenden Verhältnisse in den psychiatrischen Anstalten jahrzehntelang fortbestanden? Warum war die Demokratie so lange unfähig, auf der Ideologie der „Rassenhygiene“ beruhende Urteile aufzuheben? Warum mussten die Opfer erfahren, was Primo Levi, Überlebender von Auschwitz, beschrieben hat: dass niemand hört, was berichtet wird; dass niemand glaubt, was gehört wird; dass es weiter geht, wie es immer weiter geht – der Alptraum des Überlebens.
Die Arbeit am Film ist nicht leicht gewesen. Zu viele Ängste und Zweifel mussten überwunden werden. Wie kann man Vertrauen in Menschen haben, wenn man sein Leben lang missbraucht worden ist? Ist es richtig, mit einer solchen Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen? Werden die Medien sie als Futter verwenden für den erbarmungslosen Trieb, die Ohnmacht anderer auszubeuten, so lange man noch nicht selbst betroffen ist? Einmal mussten wir die Dreharbeiten abbrechen.
Durch die ermutigende Unterstützung einiger Freunde konnten wir die schwierige Aufgabe gemeinsam bewältigen.
(1) zu Paul Wulf s.a.: Bernd Drücke: Paul Wulf. Erinnerung an einen Freund, in: GWR 243, November 1999, S. 6; Norbert Eilinghoff: Gedächtnisveranstaltung für Paul Wulf, in: GWR 245, Januar 2000, S. 16 f.; Robert Krieg: "Ich lehre Euch: Gedächtnis!" Eugenik, Zwangssterilisierungen im 3. Reich und die aktuelle Gentechnik-Debatte, in: GWR 261, September 2001, S. 16.
Voraussichtlich im Sommer 2006, zum 85-sten Geburtstag von Paul Wulf, wird ein Buch über ihn erscheinen, das an die vergriffene Broschüre "Paul Wulf. Ein Antifaschist und Freidenker" (Münster 1999) anknüpft.
Vorbestellungen bitte an:
GWR
Breul 43
D-48143 Münster
E-Mail: redaktion@graswurzel.net
(2) Joseph Mayer, katholischer Moraltheologe, legte 1927 sein Buch "Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker" vor. Unter Geisteskranken versteht er auch Menschen, "die ganz oder vorwiegend aus ererbter Anlage einen unwiderstehlichen Trieb, eine pathologische, zwangsläufige Neigung zu gewissen Verbrechen in sich tragen; es sind die sog. 'moralisch Schwachsinnigen' ."
(3) Dr. Paul Bresser machte sich einen Namen bei der Begutachtung jugendlicher Rechtsbrecher. Seiner Ansicht nach ist eine der Ursachen für deviantes Verhalten die sog. "Gemütsarmut". Er bezieht sich hierbei auf den Nazi-Psychiater Kurt Schneider, der von "skrupellosen kalten Gemütslosen" spricht, die " auch in ihrem Aussehen eine gewisse Ähnlichkeit mit Schizophrenen" haben. Nach Bresser ist "der Grundzug der Gemütsarmut ... zweifellos in der Anlage fest verankert".
Weitere Infos
Die Website der DokumentarfilmerInnen Robert Krieg und Monika Nolte:
www.krieg-nolte.de/
Die DVD "Lebensunwert. Paul Brune NS-Psychiatrie und ihre Folgen" (ISBN 3-923432-39-9; 15 Euro) plus Begleitheft wurde herausgegeben vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe.
Bestelladresse:
Westfälisches Landesmedienzentrum
Fürstenbergstraße 14
48147 Münster
medienzentrum@lwl.org www.westfaelisches-landesmedienzentrum.de
Am 24. August 2005, um 23 Uhr, wird der Film "Lebensunwert. Der Weg des Paul Brune" von Robert Krieg und Monika Nolte mit Paul Brune in der ARD ausgestrahlt.