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Newroz 2005 in Türkisch-Kurdistan

Ruhe vor dem Sturm?

| Brigitte Kiechle

Die Kundgebungen anlässlich des kurdischen Neujahrsfestes sind immer auch Ausdruck des politischen Protestes der kurdischen Bevölkerung gegen die Unterdrückung durch den türkischen Staat.

In den vergangenen Jahren wurden die Kundgebungen deshalb regelmäßig verboten. Das Militär und Polizeikräfte gingen mit massiver Gewalt gegen die TeilnehmerInnen an den trotzdem durchgeführten Veranstaltungen vor; es gab Verletzte, Tote und eine Vielzahl von Festnahmen. Die internationalen Newroz-BeobachterInnen-Delegationen haben diese Sachverhalte immer wieder dokumentiert und öffentlich gemacht und damit versucht, der Vertuschungspolitik der türkischen Regierung und dem allgemeinen Desinteresse der Weltöffentlichkeit an den tatsächlichen Verhältnissen in Kurdistan-Türkei entgegenzuwirken. Auf dem Hintergrund der EU-Beitrittsverhandlungen wurde von den Unterstützerstaaten einer EU-Mitgliedschaft der Türkei die Einschätzung abgegeben, diese mache große Fortschritte auf dem Weg der Demokratisierung, bei der Einhaltung der Menschenrechte und Sicherstellung der Minderheitenrechte der kurdischen Bevölkerung. Die Newroz-Feiern 2005 wurden somit auch zum Test für den Umgang der türkischen Regierung und ihrer „Sicherheitskräfte“ mit der kurdischen Opposition. Nach den Prügelorgien der Polizei am 6. März in Istanbul anlässlich einer Demonstration zum Internationalen Frauentag, die zu internationalen Protesten führten, musste der türkischen Regierung klar sein, dass die Newroz-Feierlichkeiten in diesem Jahr unter ganz besonderer Beobachtung stattfinden.

Massenmobilisierung trotz Polizei und Armee

Begleitet von vielen Verhinderungsversuchen im Vorfeld wurden die Newroz-Veranstaltungen bis auf Dersim von den türkischen Behörden in diesem Jahr genehmigt. Dies wurde von kurdischer Seite allgemein als großer politischer Erfolg gewertet. Für das Verbot in Dersim wurde der Vorwand herangezogen, die Kundgebungsanmeldung sei unter dem kurdischen Namen „Newroz“ und nicht in türkischer Schreibweise „Nevroz“ beantragt worden, was den Organisatoren als Separatismus ausgelegt wurde. Bereits vor dem 21. März kam es allerdings in verschiedenen Städten bei kleineren Vorfeiern zu Übergriffen der Polizei. In Siirt griff die Polizei nach Angaben der Zeitung „Özgür Politika“ am 15. März eine solche Feier mit Tränengas an und eröffnete dann das Feuer. Ein 16-jähriger Jugendlicher wurde dabei durch Schüsse am Bein verletzt. Auch in Iskenderun löste die Polizei ein Newroz-Fest gewaltsam auf. LehrerInnen, SchülerInnen und allen Beschäftigten im öffentlichen Dienst wurde die Teilnahme an den Newroz-Veranstaltungen verboten und bei Zuwiderhandlungen disziplinarrechtliche Maßnahmen angedroht.

Die Militär- und Polizeipräsenz wurde in den Veranstaltungsorten bereits vor dem 21. März sichtbar verstärkt.

Die Einschüchterungsversuche liefen offensichtlich ins Leere. Die Newroz-Kundgebungen waren landesweit noch nie so groß wie in diesem Jahr. Allein in der heimlichen kurdischen „Hauptstadt“ Diyarbakir haben sich mehr als eine Million Menschen an der Newroz-Kundgebung beteiligt, und auch in den anderen Kundgebungsorten waren die hohen TeilnehmerInnenzahlen, die durchgängig über denen des Vorjahres lagen, bereits eine politische Demonstration für sich. In türkischen Großstädten wie Istanbul und Ankara haben jeweils mehr als 100.000 Menschen für eine „demokratische Föderation von Kurden und Türken“ demonstriert. Von den RednerInnen der Newroz-Veranstaltungen wurde vor allem eine Lösung der kurdischen Frage, ein Ende der Repression und Kampfhandlungen sowie der Diskriminierung der kurdischen Bevölkerung und die Freilassung von Abdullah Öcalan eingefordert. In vielen Orten wurde auch der EU-Beitritt der Türkei thematisiert. Eine friedliche Lösung der kurdischen Frage wurde als wichtige Voraussetzung des Beitrittsprozesses eingefordert.

Newroz-Kundgebung in Sirnak: „Wir grüßen unsere Töchter und Söhne in den Bergen“

Die süddeutsche Newroz-Delegation fuhr nach Sirnak, einer Kleinstadt von derzeit ca. 53.000 EinwohnerInnen, nahe der irakischen Grenze. Etwa 10 km vor der Stadt wurde der öffentliche Bus von Soldaten angehalten. Alle männlichen Reisenden wurden aufgefordert auszusteigen. Die Ausweise wurden kontrolliert und die Personen, die mit erhobenen Händen standen, abgetastet. Nach der Kontrolle des Busses konnte man weiter fahren. Für alle kurdischen Mitreisenden war der Vorfall unerheblich. Sie sind normalerweise härtere Kontrollen und Willkürakte des Militärs gewohnt.

In Sirnak patrouillieren gepanzerte Armeefahrzeuge mit ausgefahrenem Gewehr selbstverständlich durch die Hauptstraßen. In den Bergregionen rund um die Stadt finden seit Wochen immer wieder bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Militär- und Guerilla-Einheiten statt. Anfang des Jahres sind in Sirnak fünf Jugendliche von Militärs zu Tode gefoltert worden. Im ländlichen Einzugsbereich der Stadt wurden ca. sechs Wochen vor Newroz vier Frauen festgenommen und getötet. Die Armee behauptete hinterher, bei den Frauen habe es sich um Guerilla-Kämpferinnen gehandelt, die im Gefecht umgekommen seien. Die Menschen sprechen von einer angespannten Atmosphäre in der Stadt und der Region.

Die EinwohnerInnenzahl der Stadt hat sich in wenigen Jahren mehr als verdreifacht. 2/3 der BewohnerInnen sind Flüchtlinge aus den durch das türkische Militär zerstörten bzw. entvölkerten Dörfern der Umgebung. In der Zeit von 1990 bis 1996 wurden während der heftigsten Phase des Krieges zwischen PKK und türkischer Armee von der Armee mehr als 3.700 Dörfer und Weiler zerstört und ca. 3 Millionen Menschen vertrieben. Fast alle Flüchtlinge in Sirnak sind arbeitslos und leben am Rande des Existenzminimums. 1992 kam es zu einem direkten Angriff der Armee mit Geschützfeuer auf die Stadt. Die Zerstörungen sind immer noch zu sehen und prägen zusammen mit den eilig erstellten Notunterkünften für die Flüchtlinge das Bild der Stadt. Die Armut ist allgegenwärtig und unübersehbar. Kühe laufen frei durch die Stadt und fressen aus dem Müll. Die DEHAP (kurdische Demokratiepartei des Volkes) ist zwischenzeitlich die stärkste politische Kraft im Verwaltungsbezirk der Stadt und stellt auch den Bürgermeister. Ohne finanzielle Mittel aus Ankara wird der mühevolle Versuch unternommen, die vielfältigen Probleme in den Griff zu bekommen: Wohnungsnot, in vielen Häusern gibt es kein fließendes Wasser, keine ausreichende Kanalisation in der Stadt, keine befestigten Straßen in der Mehrheit der Wohnviertel, wilde Müllentsorgung und damit verbundene Hygieneprobleme, etc.

Trotz massiver Einschüchterungen durch die anwesenden Militär- und Polizeikräfte versammelten sich zur Newroz-Veranstaltung ca.10.000 Menschen auf dem Kundgebungsplatz in der Stadtmitte. An allen Zufahrtswegen zum Kundgebungsplatz waren Panzerwagen mit maskierten MG-Schützen aufgefahren, auf den Dächern der umliegenden Häuser Scharfschützen postiert. Es ist mutig, sich in dieser Situation der Unsicherheit und mit dem Wissen und den praktischen Erfahrungen der alltäglichen staatlichen Repression an der Kundgebung zu beteiligen. So hat z.B. am 21. März 1992 die Armee mit Panzern auf die Anwesenden der Newroz-Kundgebung in Sirnak geschossen und dabei 85 Menschen getötet. Für viele war auch in diesem Jahr bereits der Weg zur Kundgebung mit mehreren Polizeikontrollen und Durchsuchungen verbunden. Trotzdem ist es gelungen, Transparente und Fahnen durch die Absperrungen zu bringen. Fahnen der PKK werden ebenso gezeigt wie Bilder von Abdullah Öcalan.

Mit Blick auf die verschneiten Cudi-Berge und im Bewusstsein der aktuellen Operationen der türkischen Armee in den umliegenden Bergregionen ließen die Anwesenden keine Zweifel aufkommen, wem ihre Unterstützung gilt: Solange die kurdische Frage nicht gelöst ist, wird auch der bewaffnete Widerstand gegen die türkische Armee, die in Kurdistan nach wie vor als Besatzungsarmee in Erscheinung tritt, als legitim betrachtet.

Staatlich angeordnet: „Ein Fest der Blümchen und des Honigs“

Seit einigen Jahren versucht die türkische Regierung durch selbst angeordnete und durchgeführte Gegenveranstaltungen, die politische Tradition der Newroz-Veranstaltungen zu unterlaufen. Der kurdischen Bevölkerung soll ihr Traditionsfest genommen und letztlich in das politische Gegenteil verkehrt werden. In Sirnak richtete der örtlich zuständige Militärgouverneur die Gegenveranstaltung aus. Umgeben von Militärs, Dorfschützern und türkischen Nationalflaggen „feierte“ er in einer Runde von ca. 300 Leuten das „Fest der Blümchen und des Honigs“. Der Zugang zum Festplatz wurde durch ein Transparent mit der Aufschrift: „Ich bin stolz, ein Türke zu sein“ geschmückt. Die kurdische Bevölkerung ignorierte die peinliche Angelegenheit. Nach Beendigung der eigenen Newroz-Veranstaltung zogen Tausende, die zurück in die Vororte mussten, in einem schweigenden Demonstrationszug am Gouverneur und seinen Lakaien vorbei. Die Mehrheitsverhältnisse waren eindeutig.

Der Schein trügt

Sofern in den Medien überhaupt über die Ereignisse zu Newroz in der Türkei berichtet wurde, erfolgte dies unter dem Maßstab des staatlichen Terrors der Vergangenheit. Daran gemessen war sicherlich, isoliert für Newroz betrachtet, eine Entspannung der Situation festzustellen. Von Normalität unter demokratischen und menschenrechtlichen Maßstäben war die Situation in der Türkei jedoch selbst an diesem unter internationaler Beobachtung stehenden Tag weit entfernt.

Die Newroz-Kundgebungen haben deutlich gemacht, dass die DEHAP und mit ihr verbündete Organisationen nach wie vor zu Massenmobilisierungen in der Lage sind und die kurdische Bevölkerung bereit ist, offensiv für die eigenen Rechte einzutreten. Die Gegenreaktion ließ nicht lange auf sich warten. Bereits unmittelbar nach Newroz war von einem „Dialog mit der kurdischen Bevölkerung“ nichts mehr zu spüren.

Im Verhältnis zu den vorangegangenen Jahren konnten die Newroz-Veranstaltungen weitgehend friedlich verlaufen; Militär und Polizei hielten sich zumindest vorrübergehend mit direkten Eingreifaktionen zurück. Mehrheitlich beschränkten sich die Maßnahmen auf Störmanöver und Einschüchterungen. So überflogen z.B. Militärmaschinen in kurzen Abständen das Newroz-Gelände in Diyarbakir während der Veranstaltung, und es kreisten Hubschrauber über den Köpfen der TeilnehmerInnen. Der Zugang zu den Veranstaltungsorten wurde überall durch massive Polizeikontrollen verzögert bzw. behindert. Mittlerweile ist bekannt geworden, dass im Nachhinein in vielen Städten strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die jeweiligen OrganisatorInnen der Newroz-Veranstaltungen eingeleitet wurden. In Cizre und Mersin wurden Kinder und Jugendliche im Zusammenhang von Newroz-Feiern von Antiterroreinheiten der Polizei u.a. wegen „Rufen von Parolen im Namen einer separatistischen Organisation“, „Durchführung illegaler Straßendemonstrationen mit terroristischen Zielen“ und „Angriff auf die türkische Fahne“ festgenommen.

Insbesondere der Fahnenvorfall in Mersin am 21. März hat eine landesweite nationalistische und gleichzeitig anti-kurdische Propagandawelle ausgelöst.

Als ein Mann am Rande der Newroz-Kundgebung den Gruß der faschistischen „Grauen Wölfe“ zeigte, kam es zu einem Handgemenge, bei dem eine türkische Fahne zu Boden fiel und auf die dann auch im Zusammenhang der Rangelei herumgetreten wurde. Die Fahne war offensichtlich zuvor einem kurdischen Jungen von einem Unbekannten in die Hand gedrückt worden. Nach der Rekonstruktion der Ereignisse schließen die VeranstalterInnen der Newroz-Kundgebung nicht aus, dass es sich um eine gezielte Provokation gehandelt hat. Ganz zufällig wurde gerade dieses Ereignis medienwirksam auf Film gebannt und umgehend in den türkischen Fernsehsendern ausgestrahlt. Von Seiten der türkischen Regierung, der Armeeführung und der türkisch-nationalistischen Presse wurde der Flaggenvorfall für eine nationalistische Kampagne ausgenutzt. Die angebliche Missachtung der türkischen Flagge durch „die Kurden“ sei, so die gemeinsame Klage türkischer NationalistInnen bis hin zur MHP, das Ergebnis der Liberalisierungspolitik der letzten Jahre. Es sei jetzt eine politische Kehrtwende und entschlossene Antwort auf die „kurdischen Provokationen“ erforderlich. Die Armeeführung erklärte, man sei bereit, „den letzten Blutstropfen zu opfern, um das Vaterland und seine Fahne zu verteidigen“. Vor öffentlichen Gebäuden und Offizierswohnungen hängt seit Newroz demonstrativ die türkische Flagge. Insbesondere in den kurdischen Gebieten wurden auch Ladenbesitzer aufgefordert, die türkische Nationalfahne aufzuhängen. In den Tagen nach Newroz fanden in mehreren Städten Fahnenaufmärsche statt, die gemeinsam von staatlichen Stellen, nationalistischen Parteien und FaschistInnen organisiert wurden. Armee und Regierung scheuen sich nicht, auch wieder offen mit den „Grauen Wölfen“ zusammenzuarbeiten. Die anti-kurdisch aufgeheizte Stimmung hat in den letzten Wochen bereits zu mehreren Anschlägen auf Büros der DEHAP und Übergriffen auf linke und kurdische Oppositionelle geführt. Auf einen früheren Anwalt von Abdullah Öcalan wurde ein Mordanschlag verübt.

Parallel zur Flaggenkampagne startete die türkische Armee im Süd-Osten der Türkei eine erneute Offensive gegen die kurdische Guerilla. Es handelt sich um die größte Militäraktion seit mehreren Jahren. Operationen mit Tausenden von Soldaten und Dorfschützern, unterstützt von Kampfflugzeugen und Cobra-Hubschraubern, werden u.a. vom Gabar-Berg bei Mardin und den Cudi-Bergen bei Sirnak gemeldet. Offizielles Ziel der Militäroffensive ist die Bekämpfung der PKK-Guerilla. Die Soldaten gehen jedoch auch direkt gegen die Dorfbevölkerung in den umkämpften Gebieten vor. Land- und Viehwirtschaft sollen verunmöglicht werden. So werden Felder angezündet, Vieh getötet und Brunnen vergiftet. Dieses Vorgehen ist eine Fortsetzung der Dorfzerstörungen und Vertreibungspolitik vergangener Jahre.

Nicht zuletzt die jüngste Entwicklung nach Newroz zeigt, dass die Lobreden der vergangenen Monate bezüglich der Einleitung eines tatsächlichen Reformprozesses in der Türkei Augenwischerei sind. Die derzeitigen Militäraktionen und anti-kurdische Stimmungsmache sind Anzeichen einer sich zuspitzenden Situation. Weitere Truppenverschiebungen und Waffenlieferungen in den Süd-Osten der Türkei lassen eine Ausweitung der Kampfhandlungen befürchten.

Internationale Solidarität!

Die Entwicklung in Kurdistan-Türkei ist in den letzten Jahren zunehmend aus dem Blickfeld der Antikriegs- und Internationalismusbewegung geraten. Der Krieg gegen den Irak hat in den letzten zwei Jahren alle anderen internationalen Themen überlagert. Darüber hinaus gestaltete sich auch die Zusammenarbeit mit linken türkischen und kurdischen Organisationen nicht immer einfach. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei machen die Defizite einer notwendigen Solidaritätsarbeit besonders deutlich. Bei der EU-Diskussion wie auch bei der Perspektivenentwicklung für den Nahen und Mittleren Osten darf die Lösung der kurdischen Frage nicht übergangen werden. In guter Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung sind auch in der BRD kurdische Organisationen wie die PKK nach wie vor verboten, werden türkische und kurdische Oppositionelle kriminalisiert und befinden sich in Haft. Dies darf von uns nicht länger hingenommen werden. Die Forderungen nach Abzug der türkischen Truppen aus Kurdistan und Einstellung aller Kampfhandlungen der türkischen Armee müssen außerdem neu ins öffentliche Bewusstsein getragen werden.