Beatrix Müller-Kampel (Hg.): »Krieg ist der Mord auf Kommando«. Bürgerliche und anarchistische Friedenskonzepte. Bertha von Suttner und Pierre Ramus. Mit Dokumenten von Lev Tolstoj, Petr Kropotkin, Erich Mühsam, Stefan Zweig, Romain Rolland, Alfred H. Fried, Olga Misar u. a., Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2005, 288 S., 17,80 Euro, ISBN 3-9806353-7-6.
Zum Aushängeschild nationaler Errungenschaften lassen sich historische Nobelpreisträgerinnen allemal besser rekrutieren als gegenwärtige. Fast hundert Jahre vor Elfriede Jelinek wurde als erste Frau überhaupt ebenfalls eine Österreicherin ausgezeichnet, die sich in das diesjährige Jubiläumsjahr – 60 Jahre Zweite Republik, 50 Jahre Staatsvertrag, 10 Jahre EU-Beitritt – offenbar ohne weiteres integrieren lässt. Der 100. Jahrestag der Verleihung des Friedensnobelpreises an Bertha von Suttner fließe, so heißt es in einem Bulletin des Bildungsministeriums, „in die laufenden Maßnahmen im Bereich der Politischen Bildung ein“.
Obwohl sie nicht ohne Stolz „die rote Bertha“ genannt wurde, eine Staatsfeindin war Suttner nicht. Das wird vor allem in der Gegenüberstellung deutlich, die Beatrix Müller-Kampel in ihrem aktuellen Buch vornimmt. Die bürgerlichen Friedensvorstellungen der österreichischen Gräfin werden darin mit den anarchistischen Konzepten eines ebenfalls aus Österreich stammenden Schriftstellers und Aktivisten konfrontiert: Pierre Ramus. Während die Nobelpreisträgerin in Staats- und Parteikreisen verkehrt und dort ihre Verbündeten sucht, hat Ramus für solcherlei Bemühungen nur Spott übrig. Er weist vielmehr auf den Zusammenhang von Gewalt, Ökonomie und Staat hin, der heute selbst in der Friedensforschung nicht mehr diskutiert wird. Gerade weil mittlerweile davon ausgegangen wird, Kriege geschähen vor allem dort, wo Staatlichkeit verschwunden ist, lohnt die Auseinandersetzung mit der vergessenen Tradition des anarchistischen Antimilitarismus. Erst mit Aufkommen einer „organisierten Macht innerhalb der sozialen Gemeinschaft“, des Staates, so Ramus, sei das Phänomen Krieg überhaupt entstanden. Die Keimzelle des Krieges gegen andere Nationen macht Ramus in „einem ununterbrochenen Krieg gegen die Besitzlosen“ aus.
Bei allen Differenzen im Staatsverständnis arbeitet Müller-Kampel aber auch die Übereinstimmungen der beiden Kriegsgegner heraus. Diese bestehen in programmatischer Hinsicht vor allem darin, die Wichtigkeit der Bildung zu betonen. Eingedenk der Tatsache, dass Kriegsbegeisterung und Nationalismus anerzogene Gefühlsregungen und Programme sind, die ihre Übernahme durch relevante Bevölkerungsteile kognitiven Leistungen verdanken, erscheinen Überzeugungsarbeiten nach wie vor als adäquate Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung. Im Hinblick auf die theoretischen Anleihen und Inspirationen sind die wesentlichen Gemeinsamkeiten im Bezug auf Leo Tolstoj zu finden. Aber auch auf Jesus Christus. Dieser Rückgriff liest sich allerdings etwas befremdlich, zumal er erstaunlicher Weise mehr noch vom Anarchisten Ramus als von Suttner für eine moralische Haltung in Anschlag gebracht wird. Radikaler Pazifismus, so viel wird deutlich, ist bei beiden nicht nur Weltanschauung, sondern auch Ethik.
Nicht weniger überraschend als die Jesus-Referenz ist vielleicht der eindeutige Bezug auf Klassenverhältnisse bei Suttner: Wie Ramus betont sie, der Krieg zwischen Nationen fuße auf dem Grundsatz, dass „Gewalt das notwendige und legitime Mittel ist, die verschiedenen Güter dieser Erde zu erobern und zu erhalten.“ Um dagegen anzugehen, vertraute sie – im Gegensatz zu Ramus – nicht zuletzt auf den Gang der Geschichte und dementsprechend auf die „fortschrittlichsten“ Kräfte, die sie in der Sozialdemokratie sah. Das volle Ausmaß der Enttäuschung über die sozialdemokratische Zustimmung zu den Kriegskrediten blieb ihr vermutlich erspart, starb sie doch kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Die Herausgeberin stellt Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Protagonisten schön heraus. Etwas zu wenig Gewicht legt sie dabei vielleicht auf die Rezeptionsgeschichte. Diese wäre insbesondere für potenzielle Anknüpfungen gegenwärtiger Antikriegsmobilisierungen von Bedeutung. Denn leicht antiquiert wirken sie schon, die im Anschluss an Müller-Kampels Studie versammelten historischen Texte. Ein Phänomen wie die gegenwärtige Privatisierung des Krieges, auch wenn es keinesfalls mit dem herbeigeredeten Absterben des Nationalstaates einhergeht, lässt sich mit jenen Artikeln und Pamphleten jedenfalls kaum mehr analytisch in den Griff bekommen oder angemessen intellektuell bekämpfen. Frappierend aktuell sind allerdings die Gründe für den Krieg, gegen die sich Suttners und Ramus‘ Agitation richtet – es habe sie immer gegeben, sie würden im Auftrag Gottes oder aus Selbstverteidigung geführt etc.
Aufschlussreich sind die offensichtlich unterschiedlichen Nachwirkungen der beiden: Die auf institutionelle Regulierung ausgerichtete Politik Suttners hat ihr einen Platz im kollektiven Gedächtnis und auf der österreichischen Zwei-Euro-Münze gesichert. Ramus hingegen, der auf ein aktionistisches Programm mit seiner Betonung der kollektiven Aktion, des zivilen Ungehorsams und der individuellen Verweigerung setzte, gehört zu den aus der Geschichte Ausgeschlossenen. Bertha von Suttners schöner Satz von den drei Etappen, die jede geistige Bewegung durchzustehen habe – erst verlacht, dann bekämpft und später dem Vorwurf ausgesetzt zu sein, offene Türen einzurennen -, gilt eben nicht für alle gleichermaßen.
Die Durchsetzung von Ideen bleibt eine Frage kultureller Hegemonie.
Der Verlag Graswurzelrevolution setzt mit der Publikation seine Geschichtsschreibung von Konzepten und Bewegungen radikaler Gewaltfreiheit fort.
Nachdem die libertären Aspekte in der Philosophie Albert Camus freigelegt und der zivile Ungehorsam im schwarzen US-amerikanischen Widerstand der 1960er Jahre untersucht wurde, wird sich nun näher liegenden KlassikerInnen zugewandt. Neben Artikeln von Tolstoj, Suttner und Ramus werden auch andere Originaltexte aus der historischen Friedens- bzw. Antikriegsbewegung durch den Band wieder zugänglich gemacht. Dass diese keineswegs nur anachronistisch daherkommen, äußert sich nicht bloß in einer weiteren Einigkeit zwischen Suttner und Ramus: der Ablehnung von Patriotismus und nationalem Pathos. Damit ließe sich nicht nur gegen die aktuellen Feierlichkeiten des offiziellen Österreich angehen.