transnationales / antimilitarismus

Vietnam

Die zu erinnernde offene Wunde

| Ekkehart Krippendorff

Als der US-amerikanische Krieg gegen Vietnam begann, war dessen rassistischer Charakter unübersehbar. Stokely Carmichael vom Studentischen Gewaltfreien Koordinationskomitee SNCC, der damals bedeutendsten radikalen Bürgerrechtsorganisation, sagte 1967, die Einberufung verliefe nach dem Muster: "Weiße Menschen schicken schwarze Menschen gegen gelbe Menschen in den Krieg, um das Land zu verteidigen, das sie den roten Menschen gestohlen haben." (1) Vor 30 Jahren, am 30. April 1975, endete der Krieg in Vietnam. Ekkehart Krippendorff blickt zurück. (GWR-Red.).

Wenn es nicht diesen dreißigsten Jahrestag gäbe, den Fall von Saigon am 30. April 1975 und damit das Ende eines fast dreißigjährigen Welt-Krieges in diesem uns so fernen südostasiatischen Land -, würde sich derzeit kaum jemand noch für Vietnam interessieren. Und selbst dieser Jahrestag steht im Schatten der offiziellen Erinnerungen an das uns Europäern jedenfalls näherliegende Datum des 8. Mai 1945 und wird Mühe haben, überhaupt wahrgenommen zu werden. Aber die Anstrengung muß gemacht werden. Man kann drei Vietnam-Probleme thematisieren mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse, unterschiedlicher Intensität des Betroffenseins und unterschiedlichen offenen Fragen.

Da ist einmal Vietnam selbst. Die deutsche Frage an den 8. Mai: „Zusammenbruch oder Befreiung“ stellt sich auch für den 30. April: „Fall oder Befreiung von Saigon?“ Für die weltweit nach Millionen zählenden SympathisantInnen mit dem vietnamesischen Befreiungskrieg war das keine Frage: Das Ziel war erreicht, Vietnam war nach einhundert Jahren Kolonialherrschaft endlich frei, Saigon hieß nun Ho-Tschi-Minh-Stadt, der Imperialismus hatte eine Schlacht verloren, der Sozialismus konnte aufgebaut werden.

Was die Solidaritätsbewegung nicht zur Kenntnis nahm – oder mit der linken Hand abtat -, war das Phänomen der „Boat People“: Fast eine Million SüdvietnamesInnen verließen das Land als Flüchtlinge – nicht nur die Kriegsprofiteure und Kollaborateure der US-amerikanischen Besatzung, die hatten sich schon beizeiten abgesetzt. Das neue Regime war alles andere als eines der Freiheit und der Selbstbestimmung – was als „Übergangserscheinung“ einer Diktatur noch legitimierbar schien, wurde zum Dauerzustand.

„Alle aufsässigen Bürger des Südens wurden ins Gefängnis oder in Lager gesteckt; ihr Besitz wurde beschlagnahmt; Mischlingskinder wurden diskriminiert, die Gesellschaft wurde von Intellektuellen ‚gesäubert‘, die Kultur Südvietnams vernichtet, Karrieren und Menschenleben wurden zerstört. Verhalten sich so rechtmäßige Sieger?“, fragt die in Deutschland lebende Schriftstellerin Pham Thi Hoai. Heute ist Vietnam ein kapitalistisches Land, regiert von einer korrupten kommunistischen Bürokratie; und es ist eines der ärmsten Länder Asiens, das um Hilfe und Unterstützung betteln muß. Um dort angekommen zu sein, wo andere Länder ohne Befreiungskrieg, ohne drei Millionen Tote, ohne auf Dauer verwüstetes und vergiftetes Land, ohne zwei Millionen gesundheitlich erbgeschädigte Menschen auch sind, ist die Frage erlaubt: War das den aufopferungsvollen, man darf auch unpathetisch sagen: heldenhaften Krieg gegen die überlegene und rücksichtslos operierende US-amerikanische Kriegsmaschine wert?

Wäre (historisch ist, was möglich war!) eine Strategie des gewaltfreien Widerstandes nicht menschlicher und vor allem weniger zerstörerisch gewesen?

Einzelne buddhistische symbolische Widerstandshandlungen verweisen auf ein solches Potential. Solche Fragen sind in Vietnam tabu. Der Krieg wurde ins Museum abgeschoben, aber unter der oberflächlich geheilten Wunde schwelt, wie Pham Thi Hoai sagt, „ein Tumor“: Das Land ist noch immer gespalten.

Wir hier in Europa – und überall in der Welt – haben nicht nur den „Sieg im Volkskrieg“ erleichtert bejubelt, wir haben auch den Weg dahin mit Zustimmung und Solidarität unterstützt und für richtig gehalten.

Dann ist da das Vietnam-Kapitel USA. Man muß es gewissermaßen vom Ende her lesen: Der intellektuelle Architekt des Krieges, der damalige Verteidigungsminister McNamara, der mehr als drei Millionen ermordete VietnamesInnen und fast sechzigtausend US-amerikanische Soldaten (Wehrpflichtige und Freiwillige und überwiegend aus den armen Schichten der Bevölkerung kommend, Schwarze) zu verantworten hat, erklärt heute – und das wird ihm als „mutig“ und „selbstkritisch“ hoch angerechnet -, das Ganze sei ein „Irrtum“ gewesen, ein „Fehler“ – „a mistake“. Wieviel Zynismus kann die Politik noch vertragen, ohne Schaden an ihrer Seele zu nehmen?

Politik hat, ernst genommen, eine „Seele“, die nicht zuletzt vom Gründungsdokument der US-amerikanischen Republik menschheitsgeschichtlich als „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ formuliert worden war – und Ho Tschi Minh hatte explizit eben diese Unabhängigkeitserklärung in seinen nicht zur Kenntnis genommenen Briefen an den ehemaligen Präsident Truman als ein Versprechen auch für sein Land eingeklagt. McNamara, es muß offen ausgesprochen werden, ist ein Kriegsverbrecher, der den kriminellen Zerstörungskrieg mit Bombenteppichen, Napalm und Chemie auch dann noch weiter betrieb, als er ihn längst als sinnlos erkannt hatte – weil er „dem Präsidenten diente“. „I served“, ich diente, war sein Amtsethos. Die Generäle Hitlers hatten dasselbe Rollenverständnis. Man mag es ihm vor dem Totengericht eines Tages zugute halten, daß er die „Pentagon-Papiere“ in Auftrag gab, die, ein einmaliges Dokument, den bodenlosen Zynismus, die abgrundtiefe Heuchelei und Lüge der öffentlichen Kriegsdarstellung ans Licht brachten; Brecht hätte ihn, wie seinen „Lucullus“, trotzdem „ins Nichts“ verdammt.

Viel gelernt wurde daraus historisch nicht: Dreißig Jahre später fiel die US-amerikanische Presse-Öffentlichkeit bei der Vorbereitung des Irakkriegs auf dieselben Lügen wieder herein. Dem arroganten Machbarkeitswahn der Kennedys und deren Intellektuellen – ‚wenn die anderen Guerillakrieg machen können, dann können wir das auch‘ – entspricht der realitätsblinde Missionarismus der Bush-Leute heute. Es ist zum Verzweifeln mit der Demokratie – ohne Erinnerung, ohne Langzeitgedächtnis sind demokratische Gesellschaften orientierungslos dazu verurteilt, ihre Regierenden dieselben Verbrechen wieder und wieder begehen zu sehen. Darum muß des 30. Aprils gedacht werden.

Nicht, daß es damit angefangen hätte, daß hier die „Ursünde“ US-amerikanischer imperialer Kriegspolitik zu suchen sei – aber weil das Verbrechen ungesühnt ist, konnten die nächsten geschehen; und das Ende des Mordens im Irak ist alles andere als abzusehen – noch hat es erst 100.000 Tote gegeben, die „Kollateral-Opfer“ sind um ein Mehrfaches größer, wie in Vietnam auch.

Das dritte Vietnam-Kapitel wäre das eigene, das europäische bzw. das deutsche. Die zehn Jahre, in denen dieser Krieg fast täglich die Schlagzeilen und nicht zuletzt die Bilderwelt beherrschte, haben Verwüstungen und Verwerfungen auch in unseren Köpfen und Herzen hinterlassen. Das über den Wäldern verspritzte Gift hat auch bei uns gewirkt. Die Gewalt wurde relegitimiert. Wie konnte man nicht solidarisch sein mit dem – so nahmen wir es wahr – geschundenen und gequälten Volk von armen Reisbauern mit einer großen Vergangenheit, das endlich frei sein wollte und es nicht durfte, weil das nicht ins strategische Kalkül der Aufteilung der Welt in Blöcke und Einflußzonen paßte? Wie anders als mit Waffen konnte sich dieses Volk gegen die französische Herrschaft wehren (und besiegte sie sogar im mythenumwobenen Festungskampf von Dien Bien Phu), dann gegen deren Marionetten und dann gegen die Supermacht USA selbst? Solidarität mit diesem Befreiungskampf hieß darum auch Einverständnis mit seinen Methoden. Aber war das zwangsläufig? Vor allem: Es war eine einseitige Solidarität, denn was die Kämpfenden mit ihr machten, auch was sie politisch daraus machten, darauf hatten die sich Solidarisierenden keinen Einfluß; man gab also gewissermaßen seine Unterstützung einer eigentlich ganz oder doch weitgehend unbekannten Unternehmung. Das sollte sich später rächen – und rächt sich bis heute: Wo gibt es noch kritisches Engagement für das befreite, aber verelendete vietnamesische Volk? Wir sind enttäuscht über das Ergebnis – aber selber mit schuld an der Enttäuschung.

Aber zurück zum Gift der Gewalt: Indem unsere MeinungsmacherInnen und politischen Klassen, die kritiklos-loyalen europäischen Bündnispartner der US-Regierung, den Unterdrückungskrieg in Vietnam zum Verteidigungskrieg des Freien Westens gegen die weltweit sich ausbreitende kommunistische Diktatur erklärten – Westberlin produzierte kleine Porzellanmodelle der Freiheitsglocke für die Angehörigen gefallener US-Soldaten -, identifizierten sie sich und ihre Freiheit mit einer immer deutlicher als solche sichtbaren Mord- und Zerstörungsstrategie. Damit unterminierten sie jeden Anspruch auf Moral und Humanität, die doch zur Freiheit gehören wie Menschenrechte zur Demokratie, bzw. sie ließen die von ihnen repräsentierten „freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnungen“ als gewaltgestützte Ordnungen erkennen – sei es in Deutschland oder Frankreich, Italien oder England.

Der blinde Haß, der den Vietnam-Protesten entgegenschlug, die bornierte Amerika-unterwürfige Presse, die feigen Loyalitätserklärungen der meisten europäischen Klassen gegenüber der US-Regierung (halbe Ausnahmen: die Skandinavier) sind unveressen oder sollten doch wenigstens erinnert werden. Karl Kraus hatte sich für die Kriegsjournaille des 1. Weltkriegs als härteste Strafe gewünscht, diese Meinungsmacher in ein großes Stadion zu sperren und ihnen ihre Kriegsschreiberei laut vorzulesen; so etwas wäre heute nicht nur ein reinigendes Gewitter, es hätte uns vielleicht auch die publizistischen Wiederholungstaten zu Kosovo und Irak teilweise erspart – schließlich leben viele von diesen Leuten noch, die mit der massenmörderischen US-amerikanischen Strategie den Freien Westen verteidigt sahen. Wie um den latenten Gewaltcharakter der liberalen Demokratie zu beweisen, bekämpften sie den anschwellenden Protest einer überwiegend moralisch, nicht strategisch-politisch motivierten studentischen und jugendlichen Generation zusätzlich mit Bereitschaftspolizeien und Wasserwerfern. In den USA, mit dessen phantasiereicher Protestbewegung ein gut funktionierendes Netz des anti-imperialistischen Internationalismus geknüpft wurde, kam es sogar zu den vier Toten der Kent State University.

Die Neue Linke, die sich seit Mitte der 60er Jahre formierte (und das historisch und politisch festzuhalten, ist von größter Wichtigkeit!), fand die Gewalt, die angeblich von ihr ausging, auf den eigenen Straßen und in der medienwirksam sichtbaren US-amerikanischen Vietnam-Kriegsführung vor. Die demonstrative und sich durchweg an symbolischen Objekten manifestierende Gewalttätigkeit von „68“ war eine Reaktion auf die überhaupt nicht symbolische repressive Gewalt, die das tägliche Brot der Nachrichten ausmachte. Wenn heute in historischer und provinzieller Verkürzung mit „wissenschaftlichen Studien“ behauptet wird, der deutsche SDS und Rudi Dutschke seien nicht nur die geistigen, sondern auch wirklichen Väter der Baader-Meinhof-RAF (und diese dann geistiger Vorläufer von Bin Laden…), so wird völlig ausgeblendet, daß es sich hier um ein internationales Phänomen gehandelt hat, an dessen Ursprung die Ohnmachtserfahrung stand, mit der eine moralisch (auch durch die NS-Erfahrung) sensibilisierte Generation verzweifelt mit anschauen mußte, wie hier ein kleines, armes, aber selbstbewußtes und stolzes Volk erklärtermaßen „ins Steinzeitalter zurückgebombt“ werden sollte. RAF, Rote Brigaden, Weathermen waren die Folgen des Giftes, das mit diesem zynischen „irrtümlichen“ Krieg in die Welt der 70er Jahre gekommen war und sich ausgebreitet hatte.

Aber die Hoffnung darf ausgesprochen werden, daß jenes Gift der Gewalt sein Gegengift zu finden begonnen hat: Dieselben, die vor 30 Jahren guten Glaubens und Gewissens für den Sieg im Volkskrieg auf die Straße gegangen waren, sind heute überwiegend PazifistInnen – oder zumindest beginnen sie zu verstehen, daß Gewalt kein Mittel ist, die Gewalt und damit den Krieg aus der Welt zu schaffen. McNamaras „Irrtum“ war auf andere Weise auch der unsere, die wir damals nicht deutlich und radikal genug erkannten, daß der gute Zweck – in diesem Falle die Befreiung Vietnams – nie das schlimme Mittel, Mord und Gewalt, rechtfertigt. Aus einem so gewonnenen Krieg konnte, das wäre die historische Lehre, keine neue, bessere Gesellschaft entstehen. Wir sind zwar noch weit davon entfernt, daß sich diese moralisch-politische Wahrheit in den Köpfen und Herzen einer Mehrheit oder wenigstens einer bewußtseinsbildenden Minderheit der Menschen durchgesetzt hat – aber vielleicht doch auf dem Wege dazu. Niemand braucht sich dieses Irrtums zu schämen – er ist korrigierbar; die Millionen Toten auf dem Konto der großen Politikspieler aller damals direkt und indirekt beteiligten Staaten, die sind nicht wiedergutzumachen und klagen bis heute an.

(1) DeBenedeitti und Chatfield, 1990, zitiert nach Jonathan Neale: Der Amerikanische Krieg Vietnam 1960-1975, Atlantik Verlag Bremen 2004, S. 123

Anmerkungen

Prof. Dr. Ekkehart Krippendorff (* 1934 in Eisenach), emeritierter Politologe an der Freien Universität Berlin, ist Autor u.a. von "Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft". Frankfurt/M. 1985; "Die Kunst, nicht regiert zu werden", Frankfurt/M. 1999

Eine kürzere Version dieses (überarbeiteten) Artikels erschien unter dem Titel "Die Narbe aufreißen" im Freitag 17, 29.04.2005.