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Semesterspiegel

300 Ausgaben gelebte Utopie

| Semesterspiegel Münster

Die Graswurzelrevolution (im weiteren: GWR) ist die älteste anarchistische Zeitung Deutschlands. Anlässlich ihrer im Juni erschienenen 300. Ausgabe hat Lea Hagedorn den Koordinationsredakteur Bernd Drücke in seinem Büro in der Evangelischen Studierenden Gemeinde (ESG) Münster besucht und interviewt.

Semesterspiegel: Seit wann bist du schon bei der GWR und wie bist du da rein gekommen?

Bernd Drücke: Das ist eine lange Geschichte, dazu habe ich einen Artikel in der aktuellen GWR geschrieben. Ich bin Anfang der 80er, als Schüler, in die Friedensbewegung gekommen und habe da zum ersten Mal eine GWR in die Hand gekriegt. Als ich dann 1986 zum Studieren nach Münster gezogen bin, habe ich in einer politischen WG gelebt und wir hatten dann auch die GWR im Abo. Seitdem lese ich die Zeitung. Richtig in den GWR-HerausgeberInnenkreis gekommen bin ich, nachdem ich in Münster am Institut für Soziologie meine Doktorarbeit über anarchistische Presse geschrieben habe, die dann in der GWR als „Meilenstein der Anarchismusforschung“ abgefeiert wurde. Später wurde die Stelle als hauptamtlicher Redakteur der GWR ausgeschrieben. Im November 1998 wurde ich im Konsens von 30 MitherausgeberInnen zum hauptamtlichen Koordinationsredakteur gewählt. Davor war ich Leser und gelegentlicher Autor der GWR.

Was sind eure Schwerpunkte, wie haben sie sich in den letzten Jahren geändert und wodurch?

Seitdem die GWR 1972 in Augsburg von gewaltfreien AnarchistInnen ins Leben gerufen wurde, gehören Anarchismus und Gewaltfreiheit zu ihren Schwerpunkten. Die erste Redaktion hat damals den Wunsch formuliert, dass der Anarchismus gewaltfrei und dass die gewaltfreie Bewegung anarchistisch werden sollte. Die Zeitung war damals wie heute auch ein Sprachrohr antimilitaristischer Bewegungen und totaler Kriegsdienstverweigerer, die den Kriegsdienst, den sogenannten „Zivildienst“ und alle anderen Zwangsdienste ablehnen. Viele GraswurzelrevolutionärInnen kommen aus der Ökologiebewegung. Soziale, basisdemokratisch organisierte Bewegungen nutzen die GWR bis heute als Sprachrohr. Die Antiatombewegung hat einen großen Raum in der Zeitung, die Anti-Gentech-Bewegung, feministische Gruppen, Antifas, antirassistische Initiativen ebenso wie andere. Unser Ziel steht auch im Untertitel: „Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft“.

Was waren die bedeutendsten Geschehnisse für die GWR?

Ich denke, die Kriegsdienstverweigerer-Bewegung in den 70er Jahren und die Friedensbewegung in den frühen 80er Jahren waren sehr wichtig für die GWR. Durch die Bewegungshochs fand die GWR in den sozialen Bewegungen starke Verbreitung. Die „Republik Freies Wendland“, die vor 25 Jahren ausgerufen wurde, spielte für die Graswurzelbewegung eine große Rolle. Das waren 3.000 Leute, zu einem großen Teil auch gewaltfreie AnarchistInnen, die 1980 das Gelände besetzten, auf dem die Wiederaufbereitungsanlage Gorleben, eine Plutoniumfabrik, gebaut werden sollte. Als massenhafter gewaltfreier Widerstand gegen die menschenfeindliche Atompolitik entstand dort ein selbstverwaltetes Hüttendorf. Dadurch wurde es zu einem Kristallisationspunkt für gewaltfreien Widerstand. Es war ein Stück gelebte Utopie, 3.000 Menschen haben da wochenlang kollektiv und nach basisdemokratischen Prinzipien gelebt, Solarenergie genutzt, alternative Hütten gebaut. Sie sind dann letztlich sehr brutal von der Polizei geräumt worden. Trotzdem war es ein großer Erfolg. Albrecht, der damalige Ministerpräsident von Niedersachsen, hat schließlich gesagt, dass die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Gorleben gegen den Willen der Bevölkerung nicht durchsetzbar sei, woraufhin der bayrische Ministerpräsident Franz Josef Strauß sinngemäß gesagt hat: „Okay, dann machen wir es bei uns in Wackersdorf, da sind 70% CSU-Wähler, da dürfte es keinen Widerstand geben.“ Das war ein Irrtum, denn in Wackersdorf war der Widerstand dann auch so massiv, dass die Industrie nachher gesagt hat: „Nee, das wird uns zu teuer, wir können keine WAA in Wackersdorf bauen.“ Damit ist das größte Atomprojekt der BRD gescheitert – am überwiegend gewaltfreien Widerstand. Es ist immer wieder wichtig daran zu erinnern, denn es zeigt, wie erfolgreich Widerstand von unten sein kann.

Wichtig war und ist auch der Widerstand gegen Kriege, etwa im Kosovo, Afghanistan, Irak,… da haben wir sehr viele Artikel drüber gebracht. Wichtige Kristallisationspunkte sind immer wieder Castortransporte, da ist die GWR präsent, hat AutorInnen vor Ort und steckt selber in den Bewegungen drin.

Was beschäftigt euch bei der GWR aktuell?

Wir haben gerade die Nummer 300 herausgebracht, eine Jubiläumsausgabe. Da haben wir verschiedene Schwerpunkte, wie z.B. gewaltfreie Aktionen, die die Welt verändert haben. Da geht’s z.B. um „75 Jahre Salzmarsch“, also um den von Mahatma Gandhi mitorganisierten gewaltfreien Widerstand gegen den britischen Kolonialismus, der dazu geführt hat, dass die Besatzungsmacht das Land verlassen musste und Indien selbstständig wurde. Ein weiterer Schwerpunkt ist die afroamerikanische, gewaltfreie Bewegung vor 50 Jahren. Es gab damals in den Südstaaten der USA die Rassentrennung, dann haben AfroamerikanerInnen gewaltfreie Aktionen gemacht, bei denen sie sich gezielt gerade auf Sitzplätze, die nur für Weiße waren, gesetzt haben. Die Rassentrennung in den USA wurde nicht zuletzt aufgrund solch öffentlichkeitswirksamer Aktionen aufgehoben.

Thema in dieser GWR ist auch die GWR selber, das heißt, es gibt Rückblicke von AktivistInnen auf ihre Zeit, in der sie zum ersten Mal mit der Zeitung in Berührung kamen und Berichte, wie sie Teil der sozialen Bewegungen geworden sind. Auch das Konsensprinzip wird thematisiert, denn die GWR funktioniert anders als andere Zeitungen, es gibt bei uns keinen Chef, es gibt einen HerausgeberInnenkreis, das sind Leute, die aus den sozialen Bewegungen kommen und es kann jeder und jede mitmachen. Im Moment kann sich die GWR nur zwei schlecht bezahlte Hauptamtliche leisten. Neben mir ist das Sigi, die den Vertrieb der Zeitung und des Graswurzelrevolution-Buchverlags in Nettersheim übernommen hat. Alle anderen arbeiten und schreiben ehrenamtlich. In Rücksprache mit den anderen MitherausgeberInnen und AutorInnen mache ich eine Seitenplanung, die bei den bundesweiten Treffen diskutiert wird. Alle Texte werden vor Erscheinen an alle MitherausgeberInnen gemailt. Wenn es Widerspruch gibt, wird diskutiert, ob der Text rein kommen kann. Alle Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen, das heißt im Konsens. Das funktioniert seit 33 Jahren.

Glaubst du, dass sich dieses Konsensprinzip auch umsetzen ließe, wenn die Zeitung viel größer wäre?

Ja, glaube ich. Verglichen mit anderen Alternativzeitungen ist die GWR mit einer monatlich verkauften Auflage von knapp 4.000 Stück schon relativ groß. Bei den HerausgeberInnentreffen nehmen teilweise bis zu 30 Personen teil. Obwohl das relativ viele sind, funktioniert es meistens gut. Es gab in 33 Jahren natürlich auch Konflikte, aber wenn man sich z.B. anguckt, wie so eine Diskussion bei uns abläuft, macht das meistens Spaß, es ist ein gutes Arbeitsklima und ein sehr netter Kreis.

Gibt es Ausschlusskriterien für Artikel?

Ja, alles was sexistisch, rassistisch oder menschenverachtend ist, kommt natürlich nicht rein. Ansonsten haben wir das Problem, dass wir nur einmal im Monat erscheinen und nur 20 Seiten im Tageszeitungsformat zur Verfügung haben. Im Grunde könnten wir aber von den Materialien, die wir kriegen, durchaus eine Wochenzeitung machen, aber das ist finanziell nicht drin. Deshalb muss immer eine Auswahl getroffen werden. Das läuft meistens so, dass ich vorab AutorInnen anspreche, ob sie nicht zu dem Thema was schreiben wollen. Z.B. ist für unsere nächste Ausgabe ein Schwerpunkt zur EU-Verfassung mit Berichten aus Holland, Frankreich und zur Türkei geplant. Das schreiben Leute, die ich vorher angesprochen habe.

Es gibt verschiedene Auswahlkriterien. Wir nehmen nur exklusive Texte, die nirgendwo anders erschienen sind und von AutorInnen geschrieben wurden, die uns nahe stehen, darunter SchülerInnen, Studis, aber auch bekannte Professoren wie Ekkehart Krippendorff, Wolf-Dieter Narr oder Noam Chomsky.

Dann muss man schauen, wie lang die Texte sind, auch sollte es immer eine Vielfalt der verschiedenen Themen geben. Ein wichtiges Auswahlkriterium ist die Qualität, also ob der Text gut lesbar und interessant geschrieben ist, neue Ideen und Informationen vermittelt und uns weiter bringt, oder ob er eher schlampig aufs Papier gepfeffert wurde. Es kommt auch vor, dass ein Veto gegen einen Artikel eingelegt wird.

Gewaltfreiheit war und ist bei der GWR ein wichtiger Grundsatz. Wie ist euer Verständnis von Gewalt und Gewaltfreiheit?

Das unterscheidet sich von der bürgerlichen Gewaltdefinition. Sabotageaktionen und Generalstreiks sind für uns keine Gewalt. Gewalt gegen Menschen lehnen wir grundsätzlich ab. Wir haben immer wieder direkte gewaltfreie Aktionen, z.B. Blockaden und Ankett-Aktionen propagiert und auch ausführlich darüber berichtet. Direkte Aktionen sind für uns Handlungen, die dem Ziel einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft dienen. Alles, was diesem Ziel dient, finden wir gut. Gewalt gegen Menschen dient dem nicht. Das Ziel der gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft muss sich in unseren Aktionsformen und in unserem Umgang mit anderen Menschen widerspiegeln.

Im Jahr 1972, dem Gründungsjahr der GWR, ist versucht worden, Kontakte zu gleich gesinnten Gruppen herzustellen. Tut die GWR das heute noch und wenn ja, mit welchem Erfolg?

Ja, und mit erstaunlichem Erfolg. Die Zeitung wird im Grunde von einem vielfältigen Netzwerk getragen, in Deutschland gut 100 Gruppen aus vielen Städten. International ist die GWR assoziiert mit den War Resisters International (WRI), der Internationalen der KriegsgegnerInnen, die es seit 1921 gibt und die momentan etwa 90 Mitgliedsorganisationen in 45 Ländern hat. Die sind vernetzt, es gibt internationale Treffen und einen Austausch zwischen den verschiedenen Zeitungen dieser Bewegungen sowie Übersetzungen. Wir haben sozusagen „KorrespondentInnen“ in aller Welt, die für uns berichten und umgekehrt übersetzen Leute Texte aus der GWR ins Französische oder Englische. So kriegen die sozialen Bewegungen mit, was in anderen Ländern abläuft.

Früher gab es in der Bundesrepublik die „FögA“, die Föderation gewaltfreier Aktionsgruppen. Sie war ein relativ fester Zusammenschluss gewaltfrei-anarchistischer Zusammenhänge, liegt aber seit 1997 auf Eis. Heute ist es im Grunde ein buntes Netzwerk von sozialen Gruppen. Es sind keine Parteien, sondern Gruppen, die eine soziale Revolution anstreben und grundsätzlich die Gesellschaft von unten verändern wollen.

Was denkst du, warum die Kritik an den bestehenden Machtverhältnissen innerhalb dieser Gesellschaft in den letzten Jahren so stark zurück gegangen ist und welche Folgen hat das für die GWR?

Die ist zurück gegangen, aber eigentlich kann man sagen, vor allem in den und durch die Medien. Ich denke, die Gesellschaft wird sehr von den Medien beeinflusst, sowie von der herrschenden Politik. Es ist aber nicht so, dass die sozialen Bewegungen tot sind. Das zeigt sich z.B. auch an den Abo-Zahlen der GWR, die stabil und auf einem relativ hohen Niveau sind. Auch wenn es in den Medien immer wieder behauptet wird, die sozialen Bewegungen sind keineswegs tot. Das, was in den herrschenden Medien rüber kommt, ist zumeist ein Zerrbild. Diese Medien sind eliteorientiert. Es werden Interviews mit Politikern geführt, aber so gut wie nie mit Deserteuren, AnarchistInnen, Flüchtlingen oder Anti-Atom-AktivistInnen. Wir haben es jetzt gerade wieder beim Widerstand in Ahaus gesehen. „Kaum Widerstand gegen Atomtransporte“ titelte die Springerpresse. Dabei haben gegen den Atommülltransport allein am letzten Transporttag über 3.000 Leute in Ahaus demonstriert.

Ein anderes Beispiel ist der Widerstand gegen den Irakkrieg. Der stellt eine neue Dimension dar. Es gab weltweit eine Demonstration am 15. Februar 2003, bei der 15 Millionen Menschen gleichzeitig gegen Krieg demonstriert haben. In Berlin demonstrierten über 500.000 Leute. Die höchste Auflage der GWR in den 33 Erscheinungsjahren erreichten wir im Vorfeld des Irakkriegs 2003. Wir haben im Februar 2003 ein Extrablatt gemacht, das z.B. bei Demonstrationen verteilt wurde. Innerhalb von vier Wochen haben wir drei Auflagen dieser vierseitigen Aktionszeitung gedruckt, Gesamtauflage: 55.000. Die ging weg wie warme Semmeln.

Ich glaube, dass die Leute immer weniger Bock auf Parteien und die herrschende Politik haben, auch nicht auf das, was die Grünen machen. Die rot-grüne Politik ist eine Katastrophe. Die streichen Tornadobomber und die Atomkraftwerke rot-grün an und schreiben das alte Grünen-Motto drauf: „basisdemokratisch, gewaltfrei, ökologisch, sozial“. Von daher hoffe ich, dass immer mehr Menschen sehen, dass man nicht in Parlamente gehen muss, dass man von unten mehr erreichen kann.

Was würdest du den heutigen StudentInnen raten?

Ich würde sagen, dass es wichtig ist, dass man die sozialen Errungenschaften, zu denen auch ein kostenfreies Studium gehört, verteidigen muss. Ich denke, es ist wichtig, dass sich da jetzt noch mehr tut, als es im Moment der Fall ist. Die Leute müssten gegen Studiengebühren aktiver werden und dafür kämpfen, dass sie das Recht auf Bildung für alle durchsetzen können. Ich bin der Meinung, dass alle Menschen, die das wollen, auch studieren können sollten, unabhängig von ihrem Schulabschluss. Also, wenn jemand nur einen Hauptschulabschluss hat, warum sollte der nicht auch studieren können?

Die Hochschulen sollten für alle offen stehen, – für Alte, Junge – und nicht nur für eine (zukünftige) Bildungselite, die vorher schon das Abitur gemacht hat. Es müsste auch ein Ziel von Studentenbewegungen sein, kostenlose Bildung von unten durchzusetzen.

aus: Semesterspiegel, Zeitung der Studierenden der Universität Münster, Nr. 345, Juli 2005