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Wahlfieber

| Horst Blume

Jahrelang dümpelte die parlamentarisch orientierte Linke träge vor sich hin. Doch seit einigen Wochen kann sie sich vor lauter historischen Chancen, die auf keinen Fall leichtfertig verspielt werden dürfen, nicht mehr retten. Glaubt sie jedenfalls.

Dabei ist jeder Tag eine Chance. Beispielsweise, als es im Herbst letzten Jahres darauf ankam, die Proteste gegen den Sozialraub zu intensivieren und Aktionen des zivilen Ungehorsams praktisch durchzuführen. Ja, wo waren denn da diese Strategen, um diese „historische Chance“ zu nutzen?? Sie hatten sich bei den verregneten Montagsdemos einen Schnupfen geholt. Und grübelten lieber in den warmen Kneipen-Hinterzimmern über die Gründung einer neuen Linkspartei und mussten anschließend mit Wahlfieber ins Bett. Wer hier liegt, kann auf der Straße keinen Rabatz mehr machen. – Ist in diesem Jahr von ihnen irgendein realer Widerstand gegen den Sozialraub auf die Beine gestellt worden? Fehlanzeige. Stattdessen müssen wir uns das Gejammer enttäuschter ehemaliger SPD-Mitglieder und von DGB-Funktionären anhören. Manchmal schwillt der Chor der so bitterlich Enttäuschten lautstark an, und wir hören aus den Hinterzimmern durch Bier- und Bratwurstdunst ihre uralte Litanei: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben!“ – Nein, nein, natürlich heißt das heutzutage „Kanzler Willy“. Brandt-Politik und ein bisschen Sozialstaat wollen diese Bismarxisten in nostalgischer Verklärung zu neuem Leben erwecken. Berufsverbote und Atomkraftbegeisterung dieser sozialdemokratischen Epoche sind längst vergessen.

Wenn sich von drei sozialdemokratischen Parteien zwei zusammenschließen, wird viel über „entscheidende Zukunftsfragen“ diskutiert. Etwa über den Namen der Partei. Oder welche aufgeblasenen Wichtigtuer, Talkshowanimateure und Bildzeitungsschreiberlinge die Spitzenplätze bei der Bundestagswahl belegen sollen, damit das Wahlvolk auch ja wählt.

Innerhalb der Doppelstrukturen WASG und PDS wird es in Zukunft viel Raum für Missverständnisse, Spaltungen und Profilneurosen geben.

Während in einigen Bundesländern die PDS in Regierungsverantwortung bestimmte Formen des Sozialabbaus mitträgt, kämpft der andere Teil der Linkspartei genau hiergegen. Nicht nur in jedem Landesverband, sondern auch in fast jedem Orts- und Kreisverband stehen sich die unterschiedlichen Lager gegenüber, wobei die Frontlinien des innerparteilichen Grabenkampfes nicht unbedingt immer zwischen WASG hier und PDS dort verlaufen müssen. Denn die langjährigen Gewerkschaftsfunktionäre der WASG stellen ihre eigene Rolle innerhalb des gewerkschaftlichen Vertretungssystems nicht grundsätzlich in Frage und haben oft sogar jahrzehntelang innerhalb dieses Systems der billigen Kompromisse mit den Arbeitgebern und der Regierung mitgewirkt. Diese Konstellation ist also der ideale Nährboden, sich innerhalb dieser Partei vorrangig mit sich selbst zu beschäftigen. Direkter Widerstand gegen Sozialraub? Keine Zeit dafür. Die Bewegung ist tot, dafür wird die Partei im Bundestag sitzen, sitzen, sitzen. Nach der Wahl kommt die kalte Dusche. Die CDU-Bundesregierung wird ein unsoziales Gesetz nach dem anderen verabschieden. Lafontaine wird im Bundestag lautstark schimpfen, aber gegen den Sozialraub rein gar nichts ausrichten können. Dumm gelaufen. Wahlfieber führt zu irrationalen Wahnvorstellungen und beeinträchtigt die kreativen Bewegungsmöglichkeiten.

Anmerkungen

Ein ausführlicher Artikel über die Linkspartei findet sich in der GWR Nr. 289 (Mai 2004): "Wer nicht mehr weiter weiß, gründet einen Arbeitskreis ... für eine neue Linkspartei!"