In vielen Ländern der Welt gibt es Wahlpflicht. Wer nicht wählt, muss zahlen oder wird andersweitig bestraft. In Deutschland ist der Bürger frei, zur Wahl zu gehen oder nicht. Dennoch fehlt nirgendwo der Aufruf, zur Wahl zu schreiten. Dennoch machen ein Drittel bis die Hälfte aller Wahlberechtigten von ihrem Recht keinen Gebrauch. Ihre Nicht-Stimmen werden zwar gezählt, aber bei der Zusammensetzung des Parlaments ignoriert. Es gibt eben keine Fraktion der Nichtwähler.
Bernd Drücke, Redakteur der anarchistischen Zeitschrift „Graswurzelrevolution“ war am Dienstag auf Einladung des Rosa-Luxemburg-Clubs in die Bürgerwache gekommen, um zum Wahlboykott aufzurufen. Diesen Aufruf richtete er an 40 durchaus politisch interessierte Zuhörer, die – wenn sie denn wählen – links wählen würden. Der Rosa-Luxemburg-Club wird immerhin von der PDS finanziell unterstützt. Es ehrt die Linkspartei durchaus, ihre eigenen Boykotteure einzuladen, befand Drücke.
Kein Kreuz zu machen oder ein dickes X über alle Parteien hinweg auf dem Wahlzettel zu malen, erklärt Drücke nicht nur mit seiner Grundhaltung: „Ich will nicht wählen wer mich regiert“, sondern durchaus auch gespeist aus seiner Erfahrung mit jüngster Geschichte: Rot-Grün, 1998 an die politische Macht gekommen, habe letztlich nicht viel verändert. Der Ausstieg aus der Atomenergie sei versprochen, aber nicht umgesetzt worden. Die Abschaltung schrottreifer AKWs sei kein Ausstieg, meint Drücke. Drücke nennt ein zweites Beispiel: Der Kosovokrieg 1999. Er sei ein Angriffskrieg gewesen, mit geführt von der deutschen Regierung. Bei beiden Beispielen, der Atomenergie und dem Krieg, fragt sich Drücke, ob der Widerstand nicht größer gewesen wäre bei einer CDU/FDP Regierung. Gleiches gelte für die Hartz IV Gesetze. Drückes These: Hartz IV wäre so nicht gekommen, da es breit und massenhaft Widerstand gegeben hätte. So aber habe Rot-Grün den Widerstand teilweise aufgesogen. Drücke erklärt dies mit einem psychologischen Moment: Der Protest gegen eine Partei, die man kurz zuvor gewählt hat, falle schwer.
Raumschiff Bundestag
Die Politik von Rot-Grün, die Drücke als neoliberal bezeichnet, weil es in den vergangenen Jahren eine Umverteilungspolitik von unten nach oben gegeben habe sei letztlich kaum unterscheidbar von anderer Parteien, die an die Macht gekommen sei: Macht korrumpiere und entferne die Entscheidungsträger von den Betroffenen. „Der Bundestag ist nichts anderes als ein Raumschiff. Die Abgeordneten sehen sich als etwas Höheres“. Keine Hoffnung löst bei ihm die Linkspartei.PDS aus. Sie sei eine neue sozialdemokratische Partei und würde, wäre sie an der Macht, die gleiche Politik machen. Drücke schlägt gar eine Umbenennung vor in WSPDS: Wahre sozialdemokratische Partei des demokratischen Sozialismus. Der sozialdemokratische Charakter werde besonders an Oskar Lafontaine deutlich, der den sogenannten Asylkompromiss, der zu einer massiven Einschränkung des Rechts auf Asyl führte, mit unterzeichnet habe.
Drückes Ausführungen provozierten einen Zuhörer zu der Frage, ob man den nun die CDU wählen solle, damit sich wieder mehr Protest auf den Straßen bilde. Dies verneinte Drücke, sprach sich aber für Basisdemokratie aus, für die Macht von unten, die von der Straße ausgeht. Diese Bewegung von unten dürfe sich an keine Partei binden, weil diese die Bewegung schließlich an sich binde. „Eine Partei ist letztlich zum schlafen da – und zum schrecklichen Erwachen“, zitierte Drücke Tucholsky.
An zwei Punkten waren Teile des Publikums nicht einverstanden: Zum einen forderten einige Zuhörer vehement eine theoretische Fundierung der Kritik am Parlamentarismus ein. Zum anderen fragten andere, warum es mangels sozialer Bewegungen nicht sinnvoll sein kann, eine Partei zu wählen, die die soziale Schieflage zumindest mindert. Schließlich sei eine starke außerparlamentarische Opposition, die Dinge direkt ändern könne, nicht sichtbar.
Bei einer Wahl sei der Übertrag von Präferenzen auf räumlich entfernte Machteliten nicht garantiert, die Entscheidungen der Betroffenen würden zudem nicht wahrgenommen und schon mal gar nicht mit einbezogen, lautete die Antwort auf die erste Kritik aus dem Publikum. Auf die zweite Anmerkung bezogen antwortete Drücke, dass die Opposition einer Linkspartei im Bundestag nichts an den politischen Entscheidungen ändern würde.
Damit gaben sich nicht alle Zuhörer zufrieden, wollte einige doch in den Mikrokosmos der Macht hinabsteigen. Wie transformiert sich Demokratie? Ist der Konflikt zwischen Regierenden und Betroffenen nicht peripher? Dahinter steht der Gedanke, dass die Politik nicht mehr viel zu entscheiden hat, sondern immer stärker zu einer mediengerechten Schaubühne gut bezahlter Politiker wird. Es sei vielmehr die Lobby der Wirtschaft, die die Richtung bestimme, und deren Brain-Trusts wie die Bertelsmann-Stiftung.
Manfred Horn
aus: Webwecker Bielefeld, 7.9.2005