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Neoanarchismus

| S. Münster

Die Herausbildung einer explizit anarchistischen Strömung innerhalb der antiautoritären Bewegung („68er“; und es war keineswegs nur eine Studentenbewegung, wie mit den Autoren immer wieder gesagt werden muss!) ist Gegenstand der Studie von Markus Henning und Rolf Raasch. Der Titel verspricht mehr; der Berichtszeitraum endet jedoch Anfang der 70er Jahre und gibt darüber hinaus nur Hinweise. Die Problemstellung der Autoren ist, dass es kaum personelle und organisatorische Kontinuitäten zu den älteren anarchistischen Bewegungen gab, sondern seit den 1960er Jahren der Anarchismus neu erfunden wurde und es eine durchaus selektive Bezugnahme auf die Bewegungen und Theorien gab, die seit über 100 Jahren „anarchistisch“ genannt worden waren.

Markus Henning und Rolf Raasch betonen zu recht, dass es die internationale antiautoritäre Jugendrevolte war, die den „neuen“ Anarchismus hervorbrachte. Über diese Jugendbewegungen wie über die Geschichte des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) existiert eine umfangreiche Literatur; vieles in der Studie von Henning und Raasch ist nicht neu, sondern eine Zusammenfassung älterer Arbeiten.

Diese Zusammenfassung ist gelungen, und es gibt Hinweise auf weiterführende Literatur.

Sie zeigen die Affinität von Dutschkes Aktionstheorie und einigen Positionen der Frankfurter Schule (besonders Marcuses) wie der SituationistInnen zum Anarchismus. Die Entwicklung jugendlicher Subkulturen zu Gegenkulturen gab einen Resonanzboden ab für die Kritik der Konsumgesellschaft und des Wettrüstens. Gammler, Hippies, Provos und Kabouter vollzogen einen Bruch, der nicht nur theoretisch war, sondern den Lebensstil grundlegend herausforderte. Wichtig waren auch die Foren der Gegenöffentlichkeit: Zeitschriften, Republikanische Clubs. Nach dem 2. Juni 1967, der Erschießung Benno Ohnesorgs, erfolgte ein massenhafter Bruch mit einer als faschistoid erlebten Gesellschaft; die antiautoritäre Bewegung begriff sich als revolutionär. Und dann das Jahr 1968: das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April, der Pariser Mai. Die alte Welt schlug brutal und verzweifelt um sich; Befreiung erschien greifbar nahe. Cohn-Bendits Aktions-Anarchismus (der die historischen Gegensätze Marxismus/Anarchismus für überholt und aufgehoben erklärte) und das verbreitete Vertrauen auf die erfahrene Spontaneität der antiautoritären Bewegungen veranlassten Rabehl zur Kritik am Spontaneitätsfetischismus und der Begründung einer „revolutionären Realpolitik“ (die marxistisch begriffen wurde mit positivem Bezug auf Lenin und Mao). Es begann die Zeit der revolutionären Organisation. Wie Rabehl suchten auch Dreßen und andere, die Bewegung zu stabilisieren und die Probleme der „bloß“ spontanen Bewegung wie des Bürokratismus durch Organisation zu „lösen.“ Schnell wurde diese Organisation „demokratisch-zentralistisch“ genannt.

Nach dem Sternmarsch auf Bonn am 11. Mai 1968 mit über 100.000 TeilnehmerInnen und der Verabschiedung der Notstandsgesetzgebung durch die Große Koalition begann die außerparlamentarische Opposition, in verschiedene Flügel zu zerfallen. Die Gegensätze spitzten sich schnell zu, nicht zuletzt durch die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968. Die DKP wurde gegründet.

Im SDS zeigten sich die gegensätzlichen Tendenzen zwischen marxistischen Traditionalisten, dem antiautoritären Zentrum und den maoistisch sich orientierenden Gruppen deutlich.

Es entstanden kritische Positionen, die für die folgenden Jahre prägend werden sollten: der Aktionsrat zur Befreiung der Frau, die Kinderladenbewegung, viele Projektgruppen, die sich mit Betriebsarbeit, Knast, Bundeswehr aktiv-kritisch auseinander setzten.

Prägend für Jahre wurde auch die Gewaltdiskussion 1968: der Internationale Vietnam-Kongress im Februar 1968 in Berlin (es verwundert mich, dass die neueren Schriften Kraushaars zu den Diskussionen um Guerilla nicht im Buch vorkommen), der Kaufhausbrand in Frankfurt/M., schließlich im November die „Schlacht am Tegeler Weg“ als offensive Massengewalt. Es begann die Zeit der Idealisierung von Gegengewalt, Guerilla, und leider wurde „Anarchismus“ öffentlich nun noch verstärkt mit „Gewalt“ assoziiert.

Nach der antiautoritären Provokation wurde eine revolutionäre Strategie gesucht, die Probleme der Isolation der außerparlamentarischen Bewegung waren deutlich geworden. Während bisher die Selbstrevolutionierung der Individuen (etwa durch Kommunen) ein zentrales Thema der Protestbewegung war, wurde nun das revolutionäre Subjekt in der Arbeiterklasse gefunden. Die Septemberstreiks 1969 machten Hoffnung, dass die nur scheinbar integrierte Arbeiterklasse erreichbar sei. Die Identitätskrise der „Studentenbewegung“ fand aber nicht nur in Diskussionen über die Arbeiterbewegung und die „Konstitutionsproblematik“ (wie wird die „Klasse an sich“ zur „Klasse für sich“?) Auswege, sondern auch in der Identifikation mit Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und deren militärischen Führern. Das widersprüchliche „antiautoritäre“ Bewusstsein zerbrach endgültig zwischen antiinstitutionellen und emanzipatorischen Bewegungen einerseits und etatistischen Konzepten auf der anderen Seite – mit vielen Mischformen, Überschneidungen, unentmischten Anteilen (Manchmal hätten die Stellen der Entmischung und des Bruchs genauer behandelt werden sollen, ich denke da etwa an den Kronstadt-Kongreß: Die Leninisten schießen ja auf Arbeiter! Nicht anders als die Noskes der SPD!). Die NeoanarchistInnen konnten viele subkulturelle und emanzipatorische Momente bewahren. Häufig bezogen sie sich auch auf marxistische Konzepte (der Kapitalismuskritik; „Marx und Bakunin in einer Front!“), Rätekommunismus oder Theoreme Wilhelm Reichs.

Ich habe leider den Eindruck, dass die Arbeit von Henning und Raasch für die Phase ab 1968 zu sehr auf den SDS und die Schülerorganisation AUSS fixiert bleibt (Ellenrieders sozialphilosophische Arbeitsgemeinschaft wird erwähnt und m.E. sehr überschätzt). Wenn ich richtig sehe, kommen verschiedene andere Organisationsversuche wie die „Föderation Neue Linke“ (FNL!!) gar nicht vor, auch die ORA wird nicht erwähnt, von späteren Föderationen dann nur die bundesweit agierenden.

Dabei stimme ich ihrer Kritik dieser SDS-Rezeption des Anarchismus zu: „Um sich überhaupt relativ offen mit anarchistischen Idealen, Prinzipien und Theorieansätzen auseinandersetzen zu können, musste zunächst eine ‚historisch-materialistische‘ Begründung gegeben sein. Dementsprechend bemühten sie sich in typisch marxistischer Manier, die Aktualität und ’neue‘ Plausibilität des Anarchismus aus dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte im Spätkapitalismus ‚abzuleiten‘.“ (S. 138) Und: „Dass eine zeitgemäße Revolutionstheorie eine ‚rein anarchistische‘ sein könnte, lag außerhalb des von ihrer theoretischen Herkunft gesteckten Vorstellungshorizonts.“ (S. 139); die „Antiautoritären“ fielen hinter Dutschkes Thesen zurück und reduzierten den Anarchismus auf Aktionismus, eine Haltung der direkten Aktion, aber theoretisch anspruchslos.

Als sich auch SchülerInnen, Lehrlinge und JungarbeiterInnen in den Basis- und Projektgruppen trafen, die der SDS in seiner Endphase inspiriert hatte, und die „Randgruppenstrategie“ Heimzöglinge und Strafgefangene ansprach, entstanden Gruppen, die unabhängig waren von Universitätsstandorten. Diese selbstorganisierten Bewegungen hatten oft eine starke Affinität zu anarchistischen Vorstellungen.

Allerdings wird in dem Buch die Phase der ML-Parteien, der K-Gruppen m.E. zu vereinfacht beschrieben. In vielen Städten hatten sie lange über 1974 hinaus den dominanten Einfluss auf die sozialen Bewegungen. Sie waren auch nicht nur Katalysator für die sich antileninistisch abgrenzende Selbstdefinition von Einzelnen und Gruppen als „neoanarchistisch“, vielmehr traten in all den Jahren immer wieder gerade umgekehrt AnarchistInnen in die maoistischen Parteien und Bünde ein. Es gehört zu den schmerzlichen und abgründigen Erfahrungen (übrigens auch nur eine Wiederholung aus der Zeit der Weimarer Republik, wir denken an Wehner, Albrecht, Betzer u.a.), dass Libertäre plötzlich autoritär wurden. Die Herausbildung des neuen Anarchismus ist keine gradlinige Erfolgsgeschichte, so wie auch die Menschen in den Parteien des ML-Spektrums und in der DKP nicht alle subkulturellen Stile und Einflüsse verabschiedeten (die Pekingoper hat nicht überall die Rockmusik verdrängt). Wie so oft gingen die Spaltungen und Widersprüche durch die Einzelnen hindurch.

Mein erster Tutor an der Uni 1971 war im MSB Spartakus, ich merkte aber bald, dass er nicht dogmatisch war und sich mit der von mir ins Feld geführten anarchistischen Literatur gut auskannte. Als er mich und zwei Anarcho-Freunde einmal zu sich einlud, entdeckte ich sofort ein riesiges Poster an der Wand und traute meinen Augen kaum.

„Das ist doch Bakunin! Wie kannst Du als DKPler …?“ „Ein großer Revolutionär!“. Die Leute kamen damals aus Liebe (oder Hass) in sich bekämpfende Organisationen oder „weil dort die Arbeiter sind“.

Es gehört auch zu den schmerzlichen Erfahrungen, dass „bei uns“ nicht nur „die Guten“ sind.

Ein ganz großes Problem habe ich mit den Zahlenangaben (S. 159ff). Der ganze dezentrale Charakter der Bewegung und die starke Fluktuation innerhalb der Gruppen, die Auflösung und Neugründung und Scheingründung … machen so etwas schwierig. Dementsprechend verwirrend ist es zu erfahren, dass 1972 ein „Kaderstamm von 1000 bis 1500“ AnarchistInnen bestanden haben soll, Gruppen in 50 Städten (mit steigender Tendenz) existierten (S. 159), während „Mitte der siebziger Jahre“ ein „zahlenmäßiger Niedergang“ zu verzeichnen war, der sich bis 1977 auf 19 Gruppen mit nur 200 Mitgliedern fortsetzte (Verfassungsschutz nach Jenrich, S. 160).

Dann wird für die 70er und 80er Jahre die wachsende Alternativkultur behandelt, die jedoch überwiegend auf den Staat fixiert blieb, so dass sich „bei vielen Aktivisten eine (erneute) Hinwendung zum ‚reinen‘ Anarchismus“ (S. 165) zeigte. Mit Horst Stowasser schätzen die Verfasser für das Jahr 1986 ein „Anwachsen der anarchistischen Bewegung (…) auf mindestens 10.000 Menschen“ (S.165). Ich glaube, es ist klar, dass diese Zahlen nur mit verschiedenen Zählweisen erklärt werden können und über die tatsächliche Stärke des Anarchismus keine Aussage ermöglichen.

Was mich an vielen Stellen des Buches enttäuscht hat, ist, dass nicht stärker von eigenen Erfahrungen ausgegangen wird. Ich meine damit kein bloßes Anekdotenerzählen, aber doch ein Erzählen, das etwas Bezeichnendes, Typisches, Erhellendes einfängt. Dies gilt etwa für die oft traurigen Missverständnisse und Auseinandersetzungen zwischen AltanarchistInnen und den Antiautoritären, die eine genaue Betrachtung verdienen. Auch Sprache, Stil, emotionale und „kulturelle“ Momente, die oft für Trennungen stehen, wären genauer zu behandeln. Ich glaube, dass wir viele solcher Erzählungen brauchen, und sie werden sich nicht vereinheitlichen lassen. Der Anarchismus als soziale Bewegung ist anders kaum zu fassen. Die einzelnen Personen und Gruppen, die Entwicklung in einzelnen Orten sind so unterschiedlich, dass eine allgemein-zusammenfassende Darstellung immer wahr und falsch zugleich sein muss. Ich finde die Aufgabe schwer, und hier ist nicht der Platz, mehr dazu zu sagen. So hätte ich mir doch gewünscht, dass beispielsweise über den „Anarchistischen Arbeiter Bund“, dem Rolf Raasch angehörte, mehr, anders und anderes berichtet worden wäre, als in dem Buch geschehen: persönlicher. Aber das kann ja noch kommen.

Welchen Ausblick schlagen die Autoren vor? Ich zitiere die Schlusspassage, der ich voll zustimmen kann:

„Kernpunkt dabei ist eine Neuformulierung von Solidarität.

Alte Solidaritätsformen treten in den Hintergrund, wie beispielsweise die Arbeitersolidarität, als eine Beziehung zwischen sozial Gleichen. Angesichts von Globalisierungs-, Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen tritt statt der Gleichheit die Verschiedenheit verstärkt ins Blickfeld. Deshalb bedarf es neuer Formen von Solidarität gerade mit denen, die anders sind. Dazu sind gewaltfreie Formen der Konfliktlösung und verstärkte interkulturelle Kommunikation mehr denn je erforderlich.“ (S. 175).

Markus Henning/Rolf Raasch: Neoanarchismus in Deutschland: Entstehung - Verlauf - Konfliktlinien. Oppo-Verlag, Berlin 2005, 24,90 Euro, ISBN 3-926880-13-9