"Wir müssen auf die Probleme zugehen, anstatt abzuwarten, bis sie bei uns ankommen. Wir müssen die Lösung so nah wie möglich an der Herkunftsregion suchen. Inzwischen hat die EU im Haager Programm unter anderem regionale Schutzprogramme beschlossen, das ist der richtige Weg."
So kommentierte der noch amtierende Innenminister Otto Schily in der FAZ das Flüchtlingsdrama in Ceuta und Melilla.
Die Forderung nach „heimatnaher Unterbringung“ ist ein Evergreen bei den SicherheitspolitikerInnen. Dabei ist sie längst Realität: Über 85 Prozent aller Flüchtlinge leben in der jeweiligen Herkunftsregion – meist in Elendslagern unter erbärmlichen Bedingungen.
Für Schily und die meisten seiner europäischen Amtskollegen geht es um die Frage, wie man den verschwindend geringen Anteil der Flüchtlinge, die das Territorium der EU überhaupt erreichen, auch noch los wird. Die Dramen, die sich in Ceuta, Melilla und auf Lampedusa abspielen, zeigen, dass die EU-Staaten bei der Durchsetzung ihres Flüchtlingsbekämpfungsprogramms bereit sind, sich immer mehr den Menschenrechtsstandards der Herkunftsländer anzugleichen.
Europa forciert das Outsourcing des Flüchtlingsschutzes ohne Rücksicht auf internationale Schutzabkommen oder die Menschenrechtssituation in den Transitstaaten und Herkunftsregionen.
Die gemeinsame Initiative Schilys mit seinem italienischen Amtskollegen Giuseppe Pisanu vom Sommer 2004 zur Schaffung von Flüchtlingslagern in Nordafrika war die Ouvertüre zu massenhaften, völkerrechtswidrigen Abschiebungen von Italien nach Libyen seit Oktober 2004. Dem gleichen menschenverachtenden Muster folgt nun die spanische Regierung.
Spanien
Die Abschiebungen nach Marokko bedeuten nichts anderes als den Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Danach müsste den Schutzsuchenden die Gelegenheit gegeben werden, einen Asylantrag zu stellen, der nach fairen und rechtsstaatlichen Kriterien geprüft wird – was nicht geschehen ist.
Außerdem verletzt Spanien die Menschenrechtskonvention, weil es die Abgeschobenen Misshandlungen und menschenrechtswidriger Behandlung in Marokko aussetzt. Nach den gezielten Schüssen auf Flüchtlinge, den zahlreichen Todesfällen der letzten Tage und den ständigen Misshandlungen durch das Militär werden Flüchtlinge und MigrantInnen im marokkanischen Transit nun vollends zu Freiwild erklärt. Etwa 1.000 afrikanische Flüchtlinge wurden nach Razzien in den Wäldern vor Melilla von Soldaten in Bussen in die Sahara verbracht. Erst nach heftigen internationalen Protesten ließ Marokko die Flüchtlinge zumindest teilweise wieder aus der Wüste abtransportieren und in Lager in Oujda und Bouarfa bringen. Mittlerweile schob Marokko, ausgestattet mit den nötigen EU-Finanzmitteln, über 1.500 afrikanische Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer ab.
Vorbild Italien
Italien ist hierbei das Vorbild. Ohne Prüfung der Fluchtgründe wurden seit Oktober 2004 Tausende Schutzsuchende nach Libyen abgeschoben – in ein Land, das die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat und in keiner Weise Flüchtlingsstandards einhält. Die Boatpeople wurden nach ihrer Ankunft auf der Insel Lampedusa inhaftiert und dann gefesselt in Militärmaschinen nach Tripolis abgeschoben. Die libyschen Behörden schoben sie ihrerseits weiter in ihre mutmaßlichen Herkunftsländer. Einen Teil der Abgeschobenen setzte das Regime im Grenzgebiet zu Niger aus. Bei einer ähnlichen Aktion im August 2004 verdursteten 18 Menschen.
Dem italienischen Journalisten Fabrizio Gatti ist es gelungen, einige Tage lang, getarnt als kurdischer Flüchtling, im italienischen Internierungslager auf Lampedusa zu recherchieren. Er berichtet in Form eines Tagebuchs von schweren Misshandlungen, die die Flüchtlinge bei den Vernehmungen durch die italienischen Polizisten erdulden müssen. Ein Flüchtling aus Tunesien musste mehrere Stunden lang nackt vor einem Polizisten stehen, wurde schikaniert und geschlagen. Keiner der Lagerinsassen wurde einem Richter vorgeführt, was nach italienischem Recht vorgeschrieben ist. Die hygienische Situation im Lager beschreibt Gatti als katastrophal. Aus den Wasserhähnen fließt nur Salzwasser, es gibt keine Türen, kein Toilettenpapier, keinen Strom. Die Lagerinsassen werden von Mücken und Flöhen gepeinigt.
Neue Türsteher – Neue Wallanlagen
Mittlerweile ist die Flüchtlingspolitik der Regierung Berlusconi aufgewertet worden, denn im Juni wurde sie in etwas moderaterer Sprache zum EU-Ansatz auserkoren. Eine neue Wallanlage um die Festung Europa wird errichtet.
In Zukunft soll der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi die Grenzen Europas verteidigen.
Die EU-Innenminister halten sich nicht lange bei der üblichen EU-Menschenrechtsrhetorik auf. Es gilt die Maxime: Wenn die neuen Türsteher Europas sich schon nicht zur Einhaltung der Menschenrechte bewegen lassen, möchten die EU-Innenminister zumindest den Grenzschutz, das Militär und die Polizei dort besser für die vorgelagerte Abwehr schulen. Leichensäcke für die Opfer der gescheiterten Fluchtversuche nach Europa, Wärmebildkameras, Jeeps, Schnellboote, Wolldecken für die willkürlich inhaftierten Flüchtlinge, neue Lager – das sind die europäischen Exportartikel seit dem Beginn der neuen Partnerschaft.
Libyen hat nach Angaben des „Ministeriums für Nationale Sicherheit“ seit Januar 2005 mehr als 23.000 afrikanische Flüchtlinge und MigrantInnen an der Weiterreise nach Europa gehindert. Von Anfang 2004 bis Ende Juli 2005 hat das Land sogar mehr als 70.000 Menschen in ihre Herkunftsländer abgeschoben.
Brüsseler Weichspüler: „Regionale Schutzprogramme“
Die von Schily so gepriesenen Vorschläge der EU-Kommission zu regionalen Schutzprogrammen dienen sicherlich auch dem Ziel der Auslagerung. Verpackt wird das Ganze in eine vermeintlich flüchtlingsfreundliche Phraseologie. Etwas klarer als Schily setzt sich die Kommission im Rahmen dieses Schutzprogramms immerhin auch für ein humanitäres Flüchtlingsaufnahmeprogramm („Resettlement“) der EU ein.
Die regionalen Schutzprogramme sollen jedoch vor allem „die Schutzkapazitäten in der Nähe der Ursprungsregionen“ stärken, womit die Verbesserung der Aufnahmebedingungen, der Aufbau von Asylsystemen oder auch Maßnahmen der Migrationkontrolle gemeint sein können. Besonders problematisch wird es, wenn man sich anschaut, wo die Pilotprojekte durchgeführt werden sollen, nämlich in der Ukraine, in Moldawien und Belarus – alles unmittelbare Nachbarstaaten der erweiterten EU. Hinsichtlich Belarus gesteht die EU-Kommission noch verschämt zu, dass die Maßnahmen dort von der Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen abhingen. Die Kontakte mit den Regierungsstellen, d.h. mit dem autoritären Präsidenten Alexander Lukaschenko, sollten sich auf das unbedingt Notwendige beschränken. Diese Orte des „regionalen Schutzprogramms“ drohen bereits in naher Zukunft, zu neuen „sicheren Drittstaaten“ der EU deklariert zu werden.
Neben den Nachbarstaaten hat die EU auch Pläne für das Gebiet der Großen Seen in Afrika. Ein Pilotprojekt soll in Tansania entstehen. Der Flüchtlingshochkommissar der UN hat erst kürzlich in einem dramatischen Appell an die westlichen Geberländer darauf hingewiesen, dass beispielsweise die Essensrationen für 400.000 Flüchtlinge in Tansania wegen fehlender Finanzmittel drastisch reduziert werden müssten. Dem Welternährungsprogramm (WFP) fehlen dieses Jahr 219 Millionen Dollar und dem UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) 182 Millionen Dollar. Das WFP sei in den vergangenen Monaten gezwungen gewesen, Lebensmittelrationen für Hunderttausende Flüchtlinge zu kürzen, vor allem in Westafrika und in der Region der Großen Seen.
Die Mittel der EU zur Ermöglichung dauerhafter Lösungen für Flüchtlinge im subsaharischen Afrika sind allerdings bescheiden – sie betragen ganze vier Millionen Euro.
Das Gerede von „regionalen Schutzprogrammen“ bleibt verlogen, solange die EU nicht maßgeblich dazu beiträgt, die Not und Perspektivlosigkeit in den zahlreichen Flüchtlingslagern in Afrika zu beenden. Im Zuge der Debatte über diese vermeintlichen „Schutzkonzepte“ hat sich nur die Gewichtung verschoben: Europa baut Menschenrechts- und Schutzstandards ab und verlagert die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz in Transitstaaten und noch mehr als bisher in die Herkunftsregionen.
Flaschenpost
Der neue „Eiserne Vorhang“ Europas muss weg. Mehr Soldaten, höhere Stacheldrahtzäune, mehr Grenzüberwachungstechnik etc. produzieren weiteres Leid und stellen eine massive Menschenrechtsverletzung dar. Europa ignoriert den täglich größer werdenden Friedhof vor seinen Toren.
Es gibt keinen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, wenn Schutzsuchenden der Zugang zu diesem mit allen Mitteln verwehrt wird. Es ist keine redliche, menschenrechtlich normierte Außenpolitik, wenn die Europäische Union eine neue Apartheidpolitik im Verhältnis zum afrikanischen Kontinent betreibt.
Was Europa mehr denn je braucht, ist:
- ein europäisches Asylrecht: Flüchtlinge müssen zu aller erst gefahrenfrei und legal das EU-Territorium erreichen können, wo ihr Asylantrag geprüft wird;
- eine gemeinsame Einwanderungspolitik: Es ist wichtig, dass wenigstens in einigen südlichen EU-Ländern Menschen ohne Papiere legalisiert werden. Wir brauchen eine Öffnung der europäischen Grenzen und legale Einwanderungsmöglichkeiten, damit MigrantInnen nicht mehr die lebensgefährlichen Wege nach Europa beschreiten müssen.
- ein großzügiges humanitäres Aufnahmeprogramm (Resettlement): Afrika braucht alles – nur keine weiteren Flüchtlingslager. Millionen von Flüchtlingen leben dort seit Jahren schutzlos und ohne Perspektive in Großlagern. In einem Akt der internationalen Solidarität sollte die EU großzügig Flüchtlingen im Rahmen eines humanitären Aufnahmeprogramms in den Mitgliedsstaaten Schutz gewähren. Dieser zusätzliche Schutzmechanismus darf nicht zu Lasten des individuellen Asylrechts installiert werden;
- eine kohärente EU- Entwicklungspolitik: Europa macht mit seinen Agrarsubventionen die Märkte auf dem afrikanischen Kontinent kaputt und produziert damit Elend, Hunger und neue Fluchtursachen. Der Protektionismus, die so genannten Einfuhrschutzzölle gegenüber afrikanischen Produkten und die europäischen Agrarsubventionen müssen völlig abgebaut werden.
Der Autor
Karl Kopp ist Europareferent von Pro Asyl