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„Anarchie in Frankreich“?

Schwerpunkt: Diskussion und Analyse der Jugendrevolte

| Fédération Anarchiste

"Anarchie in Frankreichs Stadt-Gettos", "Anarchie in Frankreich: Angst vor ähnlichen Krawallen in Deutschland berechtigt? 66%, - Ja. 31%, - Nein", so Schlagzeilen deutscher Zeitungen im November 2005. Hat das Geschehen wirklich mit "Anarchie", also Ordnung ohne Herrschaft, zu tun? Wir präsentieren einen Schwerpunkt mit anarchistischen Analysen aus Frankreich. Als Einstieg eine Presse-erklärung der Fédération Anarchiste (GWR-Red.).

Ohne Gerechtigkeit kein Frieden!

Was die französischen Banlieues (wörtlich: Bannmeile, gemeint sind wohnsiloartige Vorstädte, synonym auch cités genannt; d.Ü.) seit mehr als zwei Wochen erschüttert, ist der Ausdruck einer Revolte, deren politischer Aspekt nicht zu leugnen ist. Mann/frau kann nicht mehr negieren, dass es eine Situation des Aufruhrs gegen die Repräsentanten oder Symbole einer ungerechten, rassistischen und unterdrückerischen sozialen Ordnung gibt, die Jugendliche in den Stadtvierteln als „Racaille“ (Gesindel/Abschaum; d.Ü.) bezeichnet, die mit einem „Kärcher“ (gemeint ist der deutsche Hersteller von Staubsaugern und Hochdruckreinigern; diese Ausdrücke wurden vom französischen Innenminister Sarkozy verwendet; d.Ü.) gesäubert werden müssten und dann im Knast verschimmeln könnten.

In diesem Zusammenhang ist das Anzünden von Autos, öffentlichen Gebäuden oder Geschäften ein politischer Akt – auch wenn wir über die Grundlagen dieser Aktionen diskutieren können, vor allem, wenn sie die unterdrückten Klassen stärker schädigen als die Bourgeoisie und die wirklich Verantwortlichen – und bleibt das einzige Ausdrucksmittel einer Jugend, der diese Gesellschaft keine Perspektive außer der Entwürdigung, der Frustration und der Polizeigewalt bietet.

Die sozialen Ursprünge dieser Gewalt zu leugnen, würde der repressiven Politik der Kriminalisierung des Elends in den Vorstädten Vorschub leisten.

Die Tatsache, dass es Menschen sind, die in diesen Schlafstädten wohnen, die außerhalb der Städte in Windeseile hochgezogen wurden, um dort ImmigrantInnen und Arme zu parken, wurde fortwährend ignoriert. Diese Vorstädte sind ein Brennpunkt städtebaulicher Fehlentwicklungen und verursachen in konzentrierter Form Lebenshärten für die Individuen. Sie bieten keinen Raum für kollektive Sozialisation und gegenseitige Begegnung. In ihnen sind Arbeitslosigkeit und Elend für die Erwachsenen alltäglich und gleichzeitig die Zukunftsperspektive für ihre Kinder.

Es war nicht nötig, SoziologIn oder HellseherIn zu sein, um vorhersehen zu können, was heute passiert. Wenn das Individuum auf diese Weise negiert wird, ist es ganz natürlich, dass es sich auflehnt. Wenn sich die PolitikerInnen darüber empören, dass die Jugendlichen in den Vorstädten die Institutionen der Republik nicht respektieren, scheinen sie zu vergessen, dass die Republik diese Jugendlichen bereits seit Jahrzehnten nicht besonders Ernst genommen hat.

Aber nach den Enttäuschungen über nicht eingehaltene Wahlversprechen und nach den Provokationen eines Innenministers, der angeblich einen „Sinn für Dialog“ kennen will, haben sich diese marginalisierten, lächerlich gemachten Menschen, auf die ohne Unterlass mit dem Finger gezeigt wird, auf spontane Weise erhoben. Außer dem Innenminister gibt es kaum jemanden, der dahinter eine strukturierte Organisation am Werk sieht. Nein, die Verantwortlichen sind diejenigen, die den Bau solcher „Cités“ zugelassen haben, und diejenigen, welche der Verschlimmerung der Lebensbedingungen ihren Lauf ließen, ohne den dort lebenden Bevölkerungsgruppen die nötige Hilfe oder Unterstützung zukommen zu lassen.

Die Einkreisung dieser Stadtteile durch die Aufstandsbekämpfungseinheiten und Kampfverbände der Polizei, die Heranziehung von Reservisten und die zum Unmut der BewohnerInnen die gesamte Nacht kreisenden Hubschrauber verdeutlichen die militärische Überreaktion der Regierung, die nur dazu führt, das Feuer und die Wut anzufachen. Tausende von Verhaftungen und Festnahmen; mehr als 700 Gerichtsverfahren aufgrund fragwürdiger Beschuldigungen, oft nicht vorhandener Beweise und unter katastrophalen Bedingungen für die juristische Verteidigung, werden nichts dazu beitragen, die soziale Krise der Vorstädte und ihrer Jugendlichen zu lösen.

Die Anwendung von Gesetzen des Ausnahmezustands wie beispielsweise der Ausgangssperre, die aus den Sondergesetzen zur Zeit des Algerienkrieges herrühren, ist sowohl eine ungeheuerliche Provokation gegenüber den protestierenden Jugendlichen wie auch eine existentielle Gefahr für die öffentlichen Freiheitsrechte. Der Gesetzestext sieht vor, auf die einfache Anordnung eines Präfekten (oberster Repräsentant eines Departements; d.Ü.) hin eine Ausgangssperre zu verfügen; wahllose Hausdurchsuchungen, ob bei Tag oder Nacht, durchzuführen; Platzverweise oder Hausarrest für jede verdächtige Person nach Maßgabe der Regierung oder der öffentlichen Ordnung auszusprechen; öffentliche Versammlungen zu verbieten; Kinos, Theater, Cafés oder Versammlungsorte zu schließen; und die Presseberichte von JournalistInnen, Fernseh- oder RadioreporterInnen sowie im Internet zu kontrollieren.

Nach der systematischen Repression der sozialen und Gewerkschafts-Bewegungen in den letzten Monaten – Einsätze der GIPN (Groupes d’Intervention de la Police National; Sondereinsatztruppen der Nationalpolizei, mit deutschen SEK vergleichbar; d.Ü.) gegen streikende und ihr Versandzentrum besetzende PostbeamtInnen in der Stadt Bègles; drakonische Anklagen gegen AktivistInnen, die Felder mit genmanipulierten Pflanzen zerstören; Hubschrauber-Kampfeinsatz der GIGN (Groupe d’Intervention de la Gendarmerie Nationale; paramilitärische Kampfeinheit, vergleichbar der deutschen GSG 9, untersteht dem französischen Verteidigungsministerium; d.Ü.) und von Marine-Kommandos gegen streikende korsische Entführer des Passagier-Fährschiffes Pascal-Paoli Ende September – bereitet der Staat den sozialen Krieg gegen die Armen und gegen all diejenigen vor, die zum Widerstand gegen diese Klassengesellschaft bereit sind. Die Regierung praktiziert eine Flucht nach vorne und driftet in ein beunruhigendes, faschismusähnliches Fahrwasser. Diese Gefahr muss alle Strömungen und Bestandteile der sozialen und syndikalistischen Bewegungen mobilisieren, um die Verteidigung unserer Freiheiten und unserer sozialen Errungenschaften zu organisieren.

Ja, es gibt Gründe für diese Revolte. Aber das Verbrennen von Autos (die teilweise Personen gehören, die ebenso arm sind), willkürliches und zielloses Zuschlagen kann nur identitätspolitische Rückzugsbewegungen stärken (ob sie nun nationalistisch oder religiös sein mögen). Unsere Revolte muss ihre Energie gegen die wirklich Verantwortlichen des Elends und der institutionalisierten Verarmung richten: den Kapitalismus und den Staat.

Und unsere Revolte macht nur Sinn, wenn wir uns gegen den Kapitalismus und seine zerstörerischen Auswirkungen organisieren, das heißt in den Stadtteilen organisieren gegen Wohnungsräumungen, gegen zu teure Mieten, für tatsächlich öffentliche Dienste (wobei der gleichberechtigte Zugang zu diesen Diensten einen kostenlosen Nahverkehr bedingt; usw.).

Die Fédération Anarchiste fordert den Rückzug der repressiven Kräfte, die Rücknahme und Außerkraftsetzung der Notstandsmaßnahmen und der Ausnahmegesetze, die Beendigung der juristischen Verfolgung gegen die jugendlichen Aufständischen, die Freilassung aller Festgenommenen ebenso wie die Aufklärung der Umstände des Todes von Ziad Benna und Bouna Traoré (der 17jährige Ziad und der 15jährige Bouna starben am 27.10. durch Stromschlag in einer Transformatoren-Station, in die sie sich vor Polizeiverfolgung geflüchtet hatten, ein dritter 17Jähriger wurde schwer verletzt; d.Ü.). Die Fédération Anarchiste bezeugt ihre Unterstützung für die BewohnerInnen, die Familien der Opfer wie auch die ArbeiterInnen in denjenigen Stadtteilen, die von der sozialen Gewalt einiger Aufständischer wie auch von derjenigen der Polizei betroffen wurden.

Diese Regierung in faschismusähnlichem Fahrwasser, die ihre Arroganz und Verachtung offen demonstriert, kann nur auf dem Terrain des sozialen Kräfteverhältnisses in Schach gehalten werden: durch den Aufbau einer sozialen Bewegung, die sich aller bürokratischen und politischen Schmarotzer entledigt; die funktioniert und sich koordiniert auf der Basis des libertären Föderalismus, der Selbstorganisation und der direkten Demokratie mit einer Perspektive der revolutionären Umwandlung der Gesellschaft. Solch eine Bewegung bildet die unerlässliche Voraussetzung für die Eroberung der ökonomischen und sozialen Gleichheit, das Pfand für die Freiheit und Sicherheit aller!

Wer das Elend sät, wird den Zorn ernten! Für eine freie und gleiche Gesellschaft!

Die Revolution bleibt noch zu verwirklichen!

Anmerkungen

aus: Le Monde libertaire, Nr. 1416, 17.11.2005, S. 9f. Übersetzung: Lou Marin