In den 1970er und 80er Jahren war der Schriftsteller Horst Stowasser (* 1951) ein umtriebiger Geist im Anarcho-Milieu und hat z.B. anarchistische Zeitschriften herausgegeben. In letzter Zeit häuften sich dagegen die Anfragen: "Was macht eigentlich Stowasser? Von dem hört man gar nichts mehr." Eine am 7. November 2005 im Studio des Medienforums Münster von GWR-Koordinationsredakteur Bernd Drücke produzierte Radiosendung (1) beschäftigte sich mit dem Thema "Anarchismus". Gesprächspartner am Telefon war, zugeschaltet aus Neustadt an der Weinstraße, Horst Stowasser.
Wir präsentieren eine überarbeitete Kurzversion (Red.).
Graswurzelrevolution (GWR): Horst, Du verstehst Dich als Anarchist und hast Bücher und Aufsätze zum Anarchismus geschrieben. Viele Menschen denken, Anarchie sei Chaos und Anarchisten seien Chaoten oder Terroristen. Was verstehst Du unter Anarchie?
Horst Stowasser: Ich verstehe Anarchie – im Sinne von Immanuel Kant (2) oder von Elisée Reclus – als den höchsten Ausdruck der Ordnung. Das klingt paradox, aber nicht, wenn man es philosophisch betrachtet, weil Anarchie eine Ordnung ist, die auf Freiwilligkeit beruht, statt auf Zwang. Das „Terrorismus“-Etikett haben ja jetzt andere, und wie ich meine, mit Recht. Was die Anarchie und die Konnotation mit der Unordnung angeht, das ist eines der größten Missverständnisse der Geschichte, und zwar schon seit Aristoteles. Der hat Anarchisten als gefährliche Bestien bezeichnet. Dem liegt der Denkfehler zugrunde, dass Ordnung nur durch Herrschaft und Unterdrückung entstehen kann.
Anarchismus ist eine höchst ordentliche Geschichte. Es gibt sogar anarchistische Organisationstheorien. Aber das, wie Du schon sagtest, widerspricht dem gängigen Klischee.
GWR: Wie bist Du zum Anarchismus gekommen?
Horst Stowasser: Durch eine respektlose Gegenüberstellung. Mir sagte nämlich jemand: „Du bist Anarchist!“
Ich war entsetzt; ich war damals 16 Jahre alt, lebte in Argentinien. Das war der Bibliothekar unserer Schule, ein älterer Herr, mit dem habe ich öfter abends philosophiert.
Ich bewegte mich damals, in den 60ern, in Lateinamerika als Linker unter lauter Parteien, Kommunisten, Trotzkisten Spaltungen,… Ich fühlte mich da nicht wohl.
Und er sagte mir einfach: „Du bist Anarchist“, und ich antwortete: „Um Gottes Willen, nein!“
Da fragte er mich, ob ich wisse, was das sei, und gab mir eine kleine Broschüre. Die habe ich gelesen. Dann hat er mich bekannt gemacht mit älteren Herrschaften, die waren steinalt für mich, zwischen 60 und 70, die aus der alten anarchistischen Bewegung Argentiniens kamen.
Wobei viele nicht wissen, dass Anarchismus vielleicht auch eine Bewegung ist, die schon mal Massencharakter hatte. In Argentinien gab es Zeiten, da war jeder zehnte Erwachsene Mitglied einer anarchistischen Organisation, das war in den 20er Jahren. So etwas können wir uns hier gar nicht vorstellen, dass der Anarchismus mal eine ganz normale, populäre Bewegung war.
GWR: Kannst Du deine Lebensphilosophie kurz darlegen?
Horst Stowasser: Philosophie ist mir etwas zu hochtrabend, vielleicht habe ich eine Maxime. Da halte ich es mit dem alten Epikur, der lebte im dritten vorchristlichen Jahrhundert: das Leben genießen, aber nicht auf Kosten anderer, sondern mit anderen. Wenn man sagt, ich kann meine Freiheit nur genießen, wenn die anderen Menschen um mich herum so frei sind wie ich, dann ist dies nicht nur legitim, das ist ein viel ehrlicherer Ansatz, als wenn man sagt: „Ich will anderen Leuten Gutes tun.“
Wenn ich meinen eigenen „Egoismus“ verknüpfe mit dem Wohlergehen der anderen Menschen, dann ist das eine aufrichtige Geschichte.
Vor 20 Jahren hast Du „Das Projekt A“ geschrieben, eigentlich auch ein utopisches Buch, das ziemlich „konspirativ“ verbreitet wurde. Was ist „Das Projekt A“?
Das ist ein Versuch, den Anarchismus aus der reinen Denkschule, aus dem politischen Ghetto herauszuholen und im Alltag zu verankern, als eine normale Handlungsmaxime von Menschen.
Im Idealfall wäre das so gewesen, dass Leute in so ein Projekt gekommen wären und gesagt hätten: „Das finde ich toll, was ihr macht. Wenn das Anarchie ist, habe ich nichts dagegen.“
Es ging um Modelle, wie wir in unserer Gesellschaft, wo wir eben nicht Mainstream sind, Zugänge schaffen für normale Menschen, die sich nicht für Politik interessieren. Und zwar gleichberechtigt, über die Wirtschaft, über die Lebensqualität, und über die Politik nach außen.
Das haben wir versucht und sind in mehreren Städten im In- und Ausland gestartet. Es gibt davon noch Überreste, aber ohne durchschlagenden Erfolg.
Was meinst Du, warum das bis jetzt ein bisschen gescheitert ist?
„Ein bisschen gescheitert“ ist nett gesagt. Ich bin ein unverbesserlicher Optimist und eigentlich ist es nie zu Ende. Solche Anläufe brauchen lange Zeit. Es ist in der Vision, die dahinter steckt, wahrscheinlich aus zwei Gründen gescheitert. Das eine ist ein äußerer Grund: Wir haben dieses Projekt in den 80er Jahren gestartet, da war gerade die Alternativbewegung auf dem Rückzug. Wir sind gegen den Mainstream gestartet, und uns blieb einfach der Nachwuchs aus. Die Leute hatten kein Interesse an Selbstverwaltung, das war denen zu mühselig. Die wollten lieber eine normale Anstellung und den pünktlichen Lohn. Freiheit erfordert aber Engagement.
Das andere ist viel beschämender. Ich sehe das so, dass viel dadurch kaputt gegangen ist, dass, als sich der Erfolg einstellte, massenweise die Puritaner kamen, die Anhänger der reinen Lehre. Die haben das Ding von vorne bis hinten kritisiert, weil es nicht radikal oder nicht anarchistisch genug war. Das war denen zu bürgerlich, nicht so richtig kämpferisch. Die sind so lange geblieben, bis sie es kaputt geredet und auf diese Weise „Recht behalten“ haben. Es gab hässliche Szenen. Ich persönlich habe mich 1992 ziemlich angewidert zurückgezogen.
Aber vieles existiert noch, nicht nur hier. Es gibt noch Firmen, Menschen, Wohnzusammenhänge, und die Hoffnung ist nie zu spät, dass das wieder eine politische Dimension kriegt, wenn sich die äußeren Bedingungen bessern. Im Augenblick formiert sich hier übrigens gerade ein Ding mit dem Namen „Projekt A / Plan B“.
Es ist vielleicht auch ein Problem, dass den meisten Leuten heute das „Projekt A“ kein Begriff ist, auch weil das Buch nur unter der (Info-)Ladentheke verbreitet wurde. Dabei bietet es ein gutes Konzept zur konkreten Verwirklichung einer gelebten Utopie. Du hast es vor 20 Jahren im Eigenverlag herausgegeben. Wäre es nicht sinnvoll, es heute zu überarbeiten und mit einer höheren Auflage unter die Leute zu bringen?
Wir werden das Buch sicher noch einmal veröffentlichen, aber nicht unkritisch. Es muss dazu eine Aufarbeitung kommen, dazu würden wir dann viele Leute zum Schreiben einladen, die mitgemacht haben, so dass ein objektiveres Bild entsteht. Was ich eben gesagt habe, ist natürlich nur meine persönliche Meinung, andere sehen das ganz anders.
So etwas muss man kontrovers diskutieren.
Vielleicht können sich die Leute unter „Projekt A“ noch nicht so richtig etwas vorstellen. Kannst Du dieses Konzept, auch mit den „Doppelprojekten“, kurz darstellen, damit verständlicher wird, worum es geht?
Die Grundeinheit ist immer ein Projekt, meist ein selbstverwalteter Betrieb, der gehört den Leuten, die in ihm arbeiten. Die sind gleichberechtigt. Da gibt es immer Projekte, die Geld bringen, Gewinn machen, und es gibt Projekte, die wahrscheinlich nie Profit abwerfen, die Geld brauchen. Das sind die eher politischen Projekte, die sich am Markt nicht „rechnen“, wie man heute so schön sagt.
Die Idee war, dass die immer in „Doppelprojekten“ zusammengefasst sind, so dass man einen Ausgleich der Kosten hat, und dass dann mit den Überschüssen neue Projekte angeleiert werden. Das Ganze verbunden mit freien Wohngemeinschaften, oder auch Kommunen, Einzelleuten und Familien.
Das heißt, jeder Mensch kann sich aussuchen, wie er leben möchte. Es gibt keine „Zwangsbeglückung“. Man kann mit verschiedenen Lebensformen experimentieren, so dass sich ein großes soziales Laboratorium verschiedener Lebensformen ergibt. Das Projekt wirkt nach außen und kriegt im Nebeneffekt ein anarchistisches Label.
Die Leute sehen dann, das ist nicht schlimm, ist sogar toll! Dann ist die Assoziation „Chaos“ und „Bomben werfen“ durchbrochen.
Schon 1971 hast Du das AnArchiv, ein anarchistisches Dokumentationszentrum gegründet. Kannst Du erklären, wie es entstanden ist, wie es gewachsen ist, was daraus geworden ist?
Es ist vor allem, wie Du sagst, gewachsen. So etwas bleibt ja nicht stehen, es erlebt Aufs und Abs, wächst immer munter weiter, einfach weil es da ist. Das AnArchiv ist ein anarchistisches Archiv, wie das Wortspiel schon verrät: eine riesige Bibliothek mit Monographien und Büchern, vor allem auch eine Sammlung von seltenen Dingen, wie Flugblätter, Diskussionspapiere, Aufkleber, Plakate, Filme, Musik und Zeitschriften. Der Schwerpunkt ist deutschsprachiger Anarchismus.
Wir haben aber auch schöne Exponate aus aller Welt.
Das interessiert einerseits Menschen oder Gruppen, die Kontakte suchen oder aus Erfahrungen lernen wollen, oder sehen möchten, wie kann ich mich vernetzen. Andererseits nutzen viele das AnArchiv für die Forschung, auch ich habe dort meine Bücher recherchiert, Leute haben dort ihre Diplom- und Doktorarbeiten geschrieben. Es ist ein Gedächtnis der Bewegung, denn Anarchismus findet normalerweise in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen Platz, und dieser Erfahrungsschatz wäre wahrscheinlich für alle Zeiten verloren, wenn es solche Archive nicht gäbe.
Vor zwei Jahren gab es einen Aufruf zur finanziellen Rettung des AnArchivs. Was war da los?
Seit 35 Jahren habe ich das AnArchiv immer selbst finanziert und mir nicht groß Gedanken drüber gemacht, solange ich gut verdient habe.
Vor zwei Jahren hatte ich wirtschaftliche Schwierigkeiten mit meiner Firma und es bestand die Gefahr, dass das AnArchiv in der Konkursmasse untergehen könnte. Den Konkurs haben wir durch die solidarische Hilfe Vieler abgewendet. Wir haben die Konsequenzen daraus gezogen und einen Trägerverein gegründet, dem das AnArchiv jetzt gehört. Vor einem Jahr hatten wir dann die grandiose Neueröffnung in den neuen Räumen, an denen wir fünf Jahre gearbeitet hatten. Nach zwei Monaten mussten wir schon wieder zu machen, weil ich im Dezember 2004 eine gesundheitlich sehr schlechte Prognose bekommen habe, dann meinen Job aufgeben und auch das Haus räumen musste, in dem das AnArchiv untergebracht war. Jetzt ist alles wieder einmal in Kisten, wieder im Hochregal, und wir hoffen, dass wir dafür bald eine Lösung finden.
Gibt es einen Spendenaufruf für den AnArchiv-Verein?
Nein, erst muss klar sein, wie es weitergeht. Mein gesundheitliches Problem ist Kinderlähmung. Die kommt wieder, daran stirbt man nicht, aber es wird tendenziell schlechter und ist nicht heilbar. Als diese Diagnose im Raum stand, war ich erst einmal entsetzt und deprimiert. Daraus ist nun aber etwas Positives entstanden, was hier unter dem Label „Projekt A / Plan B“ läuft. Dieser Name ist übrigens nicht von mir! Die Leute vom AnArchiv haben gesagt: „Das kann jedem von uns passieren. Menschenwürdig zu leben und mit einer Krankheit menschenwürdig alt zu werden, das ist ein Luxus, den kann sich kein Mensch mehr leisten heutzutage.“ Aus meiner Not und der Not des AnArchivs ist dann ein Wohnprojekt entstanden, das jetzt hier fleißig und diszipliniert die Trommel rührt. Da steht ein typischer Projekt-A-Gedanke im Hintergrund. Wir wollen uns zu einer generationenübergreifenden Wohngruppe zusammenschließen, in der man auch menschenwürdig alt werden kann, ohne dass man dazu Millionär sein muss. Und in dem auch das AnArchiv, das ist Konsensbeschluss, untergebracht werden soll.
Etwas Besseres kann mir natürlich nicht passieren. Dann bin ich nicht mehr für die Finanzen usw. verantwortlich, kann auf meine alten Tage die Hände über dem Bauch verschränken und als Kurator oder wie auch immer tätig sein und meinem liebsten Hobby nachgehen: anarchistische Geschichtsforschung betreiben und vielleicht mal wieder ein kluges Buch schreiben.
Deine Bücher haben viele Menschen für anarchistische Ideen begeistert. Dein Bestseller ist „Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten“, der gerade vom Karin Kramer Verlag neu aufgelegt wurde. Wie viele Auflagen gibt es mittlerweile?
Da bin ich überfragt. Bei Eichborn ist das Buch, glaube ich, in acht Auflagen erschienen, und bei Kramer dürfte es mittlerweile an die 20 erreicht haben. Aber ich bin trotzdem kein Auflagenmillionär geworden. Ich bin ein wenig stolz auf dieses Buch, weil es den Anarchismus anekdotenhaft rüberbringt. Ich habe es eigentlich für meine Mutter geschrieben und gesagt, wenn Mutti das versteht, dann verstehen andere das auch.
Ich habe versucht, journalistische, kurzweilige Geschichten über den Anarchismus herauszufinden, die nicht so bekannt sind, und an jede dieser Geschichten ein bestimmtes „Essential“ des Anarchismus zu koppeln, ob nun Pazifismus, oder ob Gewerkschaften oder die Gewaltfrage … Das hat offenbar gut funktioniert.
Dein letztes Buch, „Freiheit pur. Die Idee der Anarchie, Geschichte und Zukunft“, erschien vor zehn Jahren im Eichborn-Verlag. Es ist ein gutes Einsteigerbuch, aber nur einmal aufgelegt worden und seit Jahren vergriffen. Wann wird es neu aufgelegt?
Hoffentlich bald. „Freiheit pur“ führt übrigens im Internet ein munteres Eigenleben, und es gibt ne Menge Raubdrucke.
Auf der Buchmesse in Frankfurt habe ich mit zwei Verlagen verhandelt. Es sieht so aus, als ob es 2006 wieder erscheinen wird. Dass es so lange vergriffen ist, hat viel damit zu tun, dass ich 1992 die Klotten hingeschmissen habe. Ich war enttäuscht, verletzt und niedergeschlagen.
Ich hab dann erst mal sechs, sieben Jahre nur Karriere gemacht und Anarchie schleifen lassen. Hab dann aber festgestellt, dass das auf Dauer nicht das Wahre ist, und jetzt habe ich vielleicht so was wie ein „Comeback“. Allerdings hab ich in dieser Zeit auch Geld verdient, das ins AnArchiv geflossen ist. Von daher war das nicht unsinnig.
Deine Bücher sind voll mit spannenden Geschichten. Was sind Deine liebsten?
Am sympathischsten finde ich immer noch die symbolträchtige Anekdote zum Thema „Anarchie = Chaos und Unordnung“: In Barcelona hatte ich eine ältere Dame interviewt, sehr katholisch, überhaupt nicht anarchistisch, und die sagte: „Ja, ja, an diese Anarchisten kann ich mich gut erinnern! Das waren wilde Zeiten und wilde Typen – aber die U-Bahn fuhr nie so pünktlich wie damals bei den Anarchisten!“
Der Schwarze Faden (3), eine der besten und langlebigsten anarchistischen Zeitschriften in Deutschland, erschien zuletzt im Sommer 2004. Jetzt wurde seine Einstellung verkündet (siehe Kasten auf dieser Seite), nach einer jahrelangen Krise, in der nur wenige Ausgaben erschienen sind. Warum ist der Schwarze Faden Deiner Meinung nach gerissen?
Ich bin nicht berufen, das zu beurteilen, denn ich war zwar gelegentlich Autor, aber nie so dicht dran. Aber ich habe zwei Erklärungen, die vielleicht paradigmatisch sind.
Die eine hat etwas mit der „Konjunktur“ der Ideen zu tun. Der Schwarze Faden war eine Topzeitung auf hohem theoretischen Niveau, der irgendwann die Leserschaft weggebrochen ist. Das muss nicht unbedingt das Ende sein. Wer weiß, ob nicht in drei oder fünf Jahren der Faden wieder wie Phoenix aus der Asche entsteht, wenn das Bedürfnis wieder da ist?
Der andere Grund ist ein allgemein verbreitetes Problem der Libertären. Man muss sich mal klar machen, mit welchen Mühen das alles verbunden ist. Man muss Geld reinstecken, und trotz aller großen kollektivistischen Etiketten, letztendlich bleibt es immer nur an wenigen, idealistischen Menschen hängen, die sich aufreiben, und irgendwann haben die Leute die Kraft nicht mehr.
Ja. Aber es wäre sinnvoll gewesen, wenn es noch einen SF-Rettungsversuch gegeben hätte, z.B. einen Aufruf zur redaktionellen SF-Mitarbeit in GWR, da, Contraste und anderen Bewegungsblättern. Vielleicht hätten sich Leute gefunden, die das Projekt reaktiviert hätten. Stattdessen droht dem Faden nun das Schicksal vieler einst wichtiger Bewegungsblätter: Vergessenheit. Eine neue Gruppe, die jetzt eine ähnliche Zeitung machen möchte, könnte nicht so ohne weiteres an den Schwarzen Faden anknüpfen, und müsste stattdessen praktisch wieder bei Null anfangen.
Das könnte aber doch auch ein Anknüpfen mit den alten und neuen Mitmachern sein. Ich denke da sollte man nicht zu früh die Flinte ins Korn werfen. Aber es ist auf jeden Fall ein bedauerlicher Verlust, zumal gerade auf der theoretischen Ebene der Anarchismus in Deutschland nicht gerade eine Vorreiterrolle spielt.
Wie beurteilst Du die Entwicklung der Graswurzelrevolution und der direkten aktion?
Darf ich dazu wieder eine Anekdote loswerden?
Ich kann mich noch gut erinnern, als ich die erste Graswurzelrevolution bekam. Da hatten wir so einen kleinen, anarchistischen Buchladen in Wetzlar, und die Zeitung wurde uns unaufgefordert zugeschickt. Ich packe sie aus und dachte: „Was ist denn das für ein komisches Blatt? Irgendwas über Gartenbau?“ Ich habe den Titel einfach nicht verstanden. Mir war ‚grassroot‘ damals kein Begriff.
Bei der direkten aktion habe ich 1977 die Anfänge miterlebt, war Mitbegründer und Mitherausgeber.
Ich kann für beide sagen, dass sie auch journalistisch sehr professionell geworden sind. Ich freue mich immer, wenn ich anarchistische Zeitungen in der Hand habe, die ich Nicht-Anarchisten geben kann, ohne rot zu werden. Beide gehören seit vielen Jahren dazu, denn sie behandeln Themen, die die Menschen interessieren, und die so geschrieben sind, dass sie sie auch kapieren.
Was ich allerdings bedaure, ist, dass es keine Publikumszeitschrift der Anarchisten gibt, ein Blatt, das wirklich „Kiosk-fähig“ wäre. Aber auch das hat etwas mit der mangelnden Virulenz der Bewegung zu tun.
Immer wieder lässt sich beobachten, wie viele Aktivistinnen und Aktivisten sich nach ein paar Jahren zurückziehen und sich entpolitisieren. Hast Du Ideen, wie diese Fluktuation, dieses periodisch auftretende „Burning out“-Syndrom gestoppt werden könnten?
Wir haben uns vor Jahren an einer Untersuchung beteiligt: „Warum wird jemand Anarchist? Warum steigt er dann wieder aus?“
Heraus kam, dass „Anarchismus“ so eine Art Durchlauferhitzer ist. So um die 16 geht man rein, Mitte 20 ist man meistens wieder draußen.
Die „Durchhalte-Anarchisten“ sagen dann meistens: „Die haben die Ideen verraten. Die sind keine Anarchisten mehr.“
Interessanterweise hat sich das nicht bestätigt. Die meisten Menschen stehen zu ihrer libertären Einstellung, finden das nach wie vor toll, aber es gibt typische Brüche, wo man aussteigt. Das ist z.B. das Ende des Studiums, oder der Beruf fängt an, oder man kriegt Kinder.
Das sind Zustände, auf die unsere anarchistische Bewegung in Deutschland, die eigentlich eine Nischenbewegung ist, kaum Antworten zu geben weiß.
Zu Anfang bezog ich mich auf den Anarchismus in Argentinien, der volkstümlich und verwurzelt war. Man kann auch den spanischen Anarchismus nehmen, auch in Italien, in manchen Gegenden, da war das etwas völlig Normales. Man war nicht Anarchist, nur um zu politisieren, sondern die Bewegung war das Leben und hat den Leuten etwas geboten, ob das jetzt die Freizeitgestaltung war, oder die Kindererziehung, der Einkauf des täglichen Bedarfs, Kultur oder der Kampf ums Einkommen. Überall hatte diese Bewegung eine Antwort auf die Fragen der Menschen. Man musste nicht rausgehen, weil man alles in dieser libertären Alltagskultur fand.
Unsere Bewegung, hier und heute, ist kopf- und theorielastig. Man findet sie deshalb mit Vorliebe in Universitätsstädten. Das verliert dann irgendwann seinen Reiz, wenn man sagt: „Gut und schön, diese tollen Ideen, aber ich hab jetzt andere Sorgen.“
Dann ist man plötzlich kein guter Genosse oder keine gute Genossin mehr, weil man nicht mehr soviel Zeit hat. Man fällt raus aus dieser Geschichte.
Eine Lösung solcher Probleme kann nur in der Bewegung liegen.
Da können dann Ideen, wie Projekt A und ähnliche Initiativen, die auch jenseits einer Politgruppe etwas schaffen im Alltag, schon eher eine Lösung bieten.
Wie schätzt Du die Situation der libertären Bewegung hierzulande ein?
Ich habe nach meinem Rückzug natürlich etwas den Überblick verloren. Ich glaube aber, der Anarchismus hat in den letzten Jahren an Stärke verloren. Die großen Bewegungen der 70er und 80er Jahre haben ihre Kraft eingebüßt. Es ist das passiert, was du vorhin erzählt hast: Die Menschen haben sich zurückgezogen, man erinnert sich nur noch an vergangene Zeiten.
Ich glaube, dass das Potenzial sehr groß ist. Ich bin ein Anhänger dieser etwas simplen Pendeltheorie. Das Pendel der Gesellschaft schlägt immer in eine Richtung aus. In meiner persönlichen Biographie habe ich erlebt, wie diese erzkonservative, verklemmte Adenauerära sich plötzlich Luft gemacht hat in Rock’n’Roll, in Hippie-, 68er-Bewegung und Anarchismus.
Wir sind jetzt in einer Zeit, wo das Yuppietum abklingt, wo der eiskalte Neoliberalismus seine vermeintlichen Triumphe feiert.
Ich bin davon überzeugt, dass wir in den nächsten zehn Jahren Zustände bekommen, die der anarchistischen Bewegung große Chancen geben könnten. Aber ich denke, sie ist schlecht aufgestellt. Sie ist zu rückwärtsgewandt, holt sich ihre Vorbilder aus den 20er oder 30er Jahren. Ich fürchte, wenn das Pendel wieder nach links ausschlägt und es wieder so ein Revival geben würde, dann wären wir recht hilflos, weil wir nicht darauf vorbereitet sind, weil wir im Alltag nur wenige Projekte verankert haben, die so etwas im realen Leben auffangen könnten, jenseits von Theorie, Zeitungen und Büchern.
Welche Möglichkeiten siehst Du denn dann, die Perspektiven des Anarchismus zu verbessern?
Ich plädiere dafür, dass man aus dem selbstgemachten Ghetto herauskommt, dass man weniger Berührungsängste hat, weniger auf die Reinheit der Lehre und mehr auf die Bedürfnisse der Menschen achtet, auch stärker in die Medien geht und da unverkrampfter heran geht.
Ich darf vielleicht etwas aus der Schule plaudern. Du erwähntest ja bereits, dass das „Projekt A-Buch“ sehr konspirativ verbreitet wurde. Wir hatten eine Heidenangst, dass, sobald der Name Anarchismus fällt, man uns in so einer provinziellen Kleinstadt sofort niedermachen und an den Pranger stellen würde. Zu unserem Erstaunen war das Gegenteil der Fall. Die Tagespresse kam, brachte ganzseitige Artikel und Interviews und hat den Anarchismus dargestellt.
Das heißt, unsere Feindbilder sind vielleicht ein bisschen antiquiert. Wir werden heute nicht mehr als „anarchistische Gewalttäter der RAF“ verfolgt.
Eigentlich haben wir ein recht offenes Klima, die Indikatoren zeigen, dass nach wie vor ein Interesse an anarchistischer Literatur und anarchistischen Positionen da ist. Aber manchmal stehen sich die lieben Genossinnen und Genossen ein bisschen selbst im Weg. Das wäre das Eine.
Das Andere wäre, dass man Anarchismus – die 68er sind ja auch in die Jahre gekommen – auch als ein Projekt des Alterns verstehen darf. Wir haben früher immer nur geschaut auf Action, Demos, und darauf irgendwelche Projekte und Zeitungen herauszubringen. Ich glaube, das wird ein großes Thema werden in der Gesellschaft. Es kann sich eigentlich kein Arbeiter mehr leisten, alt zu werden, rein finanziell gesehen. Gerade an so einem Punkt kann man die Stärke der anarchistischen Organisationsform klar machen: „Leute, es gibt Wahlverwandtschaften, man kann sich das Leben aussuchen, es gibt Affinitätsgruppen, es gibt Sympathiegruppen, und die organisieren und vernetzen sich frei.“
Das ist zwar eine ganz unprätentiöse Herangehensweise, mit der man aber anarchistische Essentials unter die Leute bringen kann.
Das überzeugt mehr, als das geschriebene Wort.
Möchtest Du den Leserinnen und Lesern noch etwas mit auf den Weg geben?
Ich möchte vielleicht ein Beispiel nennen, um meine Kritik klarer zu machen.
Vor kurzem war ich auf einem Treffen der Freien ArbeiterInnen Union (FAU), das ist die deutsche anarchosyndikalistische Organisation. Die haben in Deutschland ungefähr 300 Mitglieder. Das sind rührige, sympathische Leute, die tolle Arbeit machen und die direkte aktion herausgeben.
Die Zeitung absorbiert einen Großteil der Kräfte.
Diese wackere FAU steht nun in der Crux, dass sie gern eine Gewerkschaft sein möchte, andererseits aber das ausfüllen muss, was es leider nicht gibt, nämlich eine anarchistische Föderation. So dass sie also ständig damit beschäftigt ist, sich den Rücken frei zu halten und zu sagen: „Unser Thema ist die Arbeitswelt. Wenn ihr euch als Anarchos organisieren wollt, organisiert euch woanders.“
In Spanien, Lieblingsland der Anarchisten, hat es nach Francos Tod, Mitte der 70er Jahre, ein großes Revival des Anarchismus gegeben. Da konnte die CNT, die spanische Anarcho-Gewerkschaft, nach 40 Jahren Illegalität plötzlich 500.000 Menschen auf einer Kundgebung mobilisieren, und hatte wieder ein paar hunderttausend Mitglieder.
Für viele Spanier war die CNT damals die ernsthafte Alternative zu Sozialisten und Kommunisten.
Die Anarchisten haben sich aber in den folgenden Jahren dermaßen in Grundsatzdebatten um die reine Lehre zerfleischt, so dass sie eigentlich inzwischen wieder ziemlich bedeutungslos geworden sind.
Aus der Spaltung ist eine andere Anarcho-Gewerkschaft entstanden, die CGT, die einen weniger dogmatischen Kurs vertritt und heute immerhin wieder 60.000 Mitglieder zählt.
Wenn man das mit den 300 hier vergleicht, dann denke ich, die reine Lehre kann nicht immer die Antwort auf alles sein.
Das wird an einem konkreten Beispiel klar: Man streitet sich seit Jahren um die Frage: „Dürfen anarchistische Gewerkschaften Tarifverträge abschließen? Dürfen sie mit anderen Organisationen zusammenarbeiten?“ Die Beschlüsse, die die CNT als reine Lehre verteidigt, stammen aus dem Jahre 1934, einer Zeit, als sie mit zwei Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft Spaniens war.
Aber können solche Positionen noch funktionieren, wenn man in einer Minderheitenposition steckt?
Dabei zeigt das Beispiel der CGT, dass man mit einer anarchistischen Gewerkschaft auch heute noch „Massen“ ansprechen kann, ohne reformistisch zu werden. Wenn wir mal 60.000 Mitglieder in Deutschland hätten, dann sähe die Welt auch anders aus.
(1) News Magazin, Bürgerfunk auf Antenne Münster, 95,4 Mhz. Kontakt: Medienforum, z.Hd. Klaus Blödow, Verspoel 7-9, 48143 Münster
(2) Immanuel Kant definierte 1798 in seiner "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", in der er vier Kombinationen zwischen der Freiheit und dem Gesetz einerseits und der Gewalt andererseits unterschied, die Anarchie als einen politischen und gesellschaftlichen Zustand von "Gesetz und Freiheit ohne Gewalt" im Unterschied zur Republik (= Freiheit und Gesetz mit Gewalt). Kant selbst erschien diese Anarchie, nämlich der Verzicht auf gewaltsame Mittel zur Durchführung der Gesetze, nicht als erstrebenswert.
(3) Siehe auch: Bernd Drücke: Den Schwarzen Faden weiterspinnen, Interview mit SF-Redakteur Wolfgang Haug zur Krise der "fachzeitschrift für anarchie und luxus", in: GWR 282 / Libertäre Buchseiten, Okt. 2003; sowie: XI.5.1 Schwarzer Faden (SF), in: Bernd Drücke: Zwischen Schreibtisch und Straßenschlacht? Anarchismus und libertäre Presse in Ost- und Westdeutschland, Verlag Klemm & Oelschläger, Ulm 1998, S. 203 ff.
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